Stanley hatte bisher nur zugehört, nun wandte er sich an Anaata: „Und du hast in dem Alter Warenhäuser leergeräumt, was?“
„Weil darin die wahren Waren waren“, reimte sie abwesend vor sich hin, ehe sie die Kreditchips weglegte und eine ernstere Antwort gab. „Ab und an, doch das war eigentlich eher meine Phase als Einbrecherin und Taschendiebin. Das wunderbare Leben auf einem Internat“, schwärmte sie in Erinnerungen schwelgend.
„Wenn wir schon bei komischen Dingen sind“, unterbrach Dan die Diskussion, „Welcher Idiot hat eigentlich seinen Kaffee an die Wand neben der Treppe gekippt? Das ist eine Riesensauerei.“
Anaata musterte ihn eine Sekunde verwirrt und murmelte dann: „Ups.“ Sehr rasch wandte sie sich Sven zu und bat ihn: „Spiel schon einen Song, sonst findet Natala noch heraus, wer es war!“
Alle an Bord der Promise waren in ihren Quartieren verschwunden, vermutlich schliefen die meisten bereits. Nur Natala stand auf dem Steg, auf dem sie den Eindruck hatte, ihr Schiff überblicken zu können, und starrte geistesabwesend in die beinahe leere Ladebucht hinunter, in der einsam einige Frachtkisten standen. Ein weiteres Abenteuer überstanden, das sie als Strich in die Rostschicht an der Wand über der Treppe ritzen konnte. An dieser Stelle prangten bereits viele Fünfergruppen von Strichen, bei jeder neuen Fracht, welche die Promise transportierte, kam ein weiterer hinzu. Wahrscheinlich hatte diese brachiale Art der Buchführung bloß einen sentimentalen Wert für Natala, um sie daran zu erinnern, wo sie die Promise schon überall hingetragen hatte, wie viele Versprechen ihr Schiff eingelöst hatte, sie alle sicher wegzubringen – oder zumindest einigermaßen sicher.
Natala erschrak, als sie hinter sich humpelnde Schritte hören konnte, Stanley kam über den Steg auf sie zu. Bei ihr angelangt, lehnte er sich schweigend neben sie ans Geländer, sie hatte den Eindruck, er wolle sich mit ihr unterhalten. Nach einer längeren Pause erkundigte sich Natala: „Was ist?“
„Das wollte ich eigentlich dich fragen“, entgegnete Stanley. „Wir sind schon lange genug beste Freunde, ich weiß, wenn dich etwas beschäftigt.“
Sie überlegte kurz. „Er hat uns gehen lassen. Wieso?“
Er zuckte mit den Schultern. „Hm. Vielleicht aus Respekt, wie er gemeint hat. Oder aber du gefielst ihm einfach, egal was das nun heißen mag.“
„Hätte er weniger Spielraum gehabt, er hätte keine Sekunde gezögert und uns verhaftet, da bin ich mir sicher. Ich habe ihm einfach ausreichend gute Antworten geliefert und seine Leute haben zu wenig gefunden. Er hätte mich nicht durchschauen müssen, obwohl er es getan hat.“
„Ich denke, er wollte uns entkommen lassen“, entgegnete Stanley nach längerem Überlegen. „Wir sind alle auf unseren Seiten, mussten sie wählen, nur manchmal sind die Grenzen fließender als man es erwartet. Und irgendwo in dieser Grauzone können Dinge geschehen, die jeder Erwartung widersprechen.“ Er streckte sich. „Ich glaube, du gefielst ihm.“
Natala lachte rau und kurz, es klang beinahe wie ein leises Schnauben. „Ich einem anderen Leben, Stan. In einem anderen Leben.“
Interludium: Spacewalk
Rings um Sven breitete sich in alle Richtungen die endlos tiefe, von weit entfernten Sternen gespickte Schwärze des Weltraums aus. Zu seinen Füssen lag die metallene Außenhülle der Promise, die alles war, was ihn und seine Freunde vor dem ewigen Nichts trennte. Obwohl der Raumanzug sich wie ein alter, scheuernder Trainer mit einer Käseglocke auf dem Kopf anfühlte, konnte Sven trotzdem ein leichtes Schaudern verspüren, als sich die Härchen auf seinen Armen angesichts des Wissens darum aufstellten, wo er gerade stand, wie erhaben und zugleich gänzlich klein, ja, zerbrechlich er sich dabei vorkam. Da es hier draußen weder eine wahrnehmbare Gravitation noch ein logisches Oben oder Unten gab, überkam ihn, wenn er direkt in die Dunkelheit hinausstarrte, ein mächtiges und verwirrendes Schwindelgefühl, stärker als das, welches er beim Blick von einer hohen Brücke in den Abgrund verspürte.
Sven atmete tief durch, überwältigt von der eigenen Unbedeutsamkeit, ehe er sich erneut seiner Arbeit zuwandte, die er für die Aussicht unterbrochen hatte. Als das Laserschweißgerät, ohne das in der Atmosphäre typische Funkenstieben, die alte Naht verband, hing er weiter seinen Gedanken nach. Die Promise war ein langsam sterbendes Schiff, ständig musste er irgendwo Hand anlegen, um etwas auszubessern, neu zusammenzuflicken oder auch nur notdürftig zu reparieren und jedes Mal schenkte er dem alten Frachter wieder einige Monate neues Leben. Längst war sie ihm ans Herz gewachsen, das legendäre, für ihn beinahe symbolische Gefährt, das ihn im letzten Jahr schon durch manches Abenteuer getragen hatte. Sie mochte ihre Marotten haben, doch nach einiger Zeit, wenn man sich daran gewöhnt hatte, begriff man ziemlich rasch, was sie von einem wollte, damit sie weiterhin treue Dienste leistete. Selbst, wenn sie wie alles Materielle letztendlich dem Untergang geweiht sein würde, so war Sven bereit, alles daran zu setzen, ihr mit seiner Arbeit noch einige Jahre, vielleicht gar Jahrzehnte, mehr zu erkaufen, sie vor ihrer letzten Landung noch auf viele Reisen zu schicken. Raumfahrer entwickelten oft eine nahezu animistische Bindung zu ihren Schiffen und Sven war es mit der Promise nicht anders ergangen. Wie wohl alle seine Freunde fragte auch er sich insgeheim, was sie ihm versprechen, was verheißen mochte, sie, der Grund, dass sie alle überhaupt erst zusammengekommen waren. Ihre künstliche Intelligenz war zu primitiv, um ein Bewusstsein zu haben, aber als Schiff hatte sie Charakter, war von den vielen Jahren gezeichnet, in denen sie kreuz und quer durch eine Galaxis gereist war, die sich in dieser langen Zeit verändert und weiterentwickelt hatte.
Mit der behandschuhten Hand fuhr Sven über die Schweißnaht, welche die beiden Platten der Außenhülle wieder absolut dicht verband und nickte zufrieden; seine Arbeit war getan, die Promise bereit für ihren nächsten Hyperraumsprung. Nachdem er das Werkzeug eingepackt und sich umgehängt hatte, ergriff Sven die an seinem Gürtel eingehakte Leine und zog sich daran in Richtung der Luftschleuse, die auf der gegenüberliegenden Seite lag. Als er zuoberst auf dem Schiff angelangt war, schaute er durch das wie ein Dach aufstehende Oberlicht des Frachtraumes. Einige Meter unter sich, im heimischen und warm beleuchteten Inneren schritt Stanley gemächlich über den Steg, ein Databook in der Hand, während Anaata auf einem Stapel Frachtboxen saß, gedankenverloren mit einer Orange spielend. Diese Leute, wenn auch planlos und scheinbar ohne ersichtliches Muster zusammengewürfelt, waren in der letzten Zeit immer mehr zu seiner Zweitfamilie geworden. Er, der mehr durch Zufall und Notwendigkeit denn gezielt auf diesem Frachter gelandet war, gehörte nun genauso zu der Gruppe.
Dies war der Stoff, aus dem seine Country-Songs gewoben waren, die er oft am Abend auf seiner Gitarre spielte, manchmal auch sang, ja ab und an gar selbst schrieb. Eine Existenz fernab aller gängigen Hyperraumstraßen auf den alten, verlassenen Schmugglerrouten, wo man wirklich auf sich allein gestellt war. Man war darauf angewiesen, Differenzen stets aufs Neue zu überkommen und sich zusammenzuraufen, wenn man überleben wollte. Dazu kamen die Abenteuer und das ständige Risiko, eines Tages erwischt zu werden, egal wie schnell das eigene Schiff war. Ein Leben hart am Rand, und damit meinte er nicht bloß den Rand der Galaxis, nicht einmal nur den Rand der Legalität, sondern den Rand jener Welten und Realitäten, welche man als normaler Bürger kannte. Hier draußen waren die Regeln anders, dachte sich Sven, wobei er einen letzten Blick Blick in die unendlichen Abgründe vor, über und neben ihm warf. Wie jedes Mal, wenn er einen Spacewalk machen musste, kehre er entspannter zu der Luftschleuse zurück, dazu mit unzähligen Ideen für neue Songs. Vielleicht war dies das Versprechen, welches die Promise ihm immer von neuem erfüllte?
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