Elissa Pustka

Französische Sprachwissenschaft


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ne sais pas: Das Französische hat viele Gesichter. Während man im Französischunterricht je ne sais pas lernt, finden Sprachwissenschaftler*innen [ʃpɔmwa] und <chépa> interessanter. Dementsprechend geht es im Linguistik-Studium an der Universität weniger darum, was korrekt ist, sondern mehr um die Frage, wie man wirklich spricht und schreibt – also um authentische Sprache. Während Sie bislang im Fremdsprachenunterricht gelernt haben, wie man Französisch sprechen und schreiben sollte, ist für die Sprachwissenschaft besonders spannend, was von der Norm abweicht.

      Im Fall von <chépa> und [ʃpɔmwa] sind das gleich eine ganze Reihe von Phänomenen. Ausgehend von der Standardform je ne sais pas [ʒənəsɛpa] kommt man wie folgt zu den Varianten der Alltagssprache:

       Die Negationspartikel ne (< lat. non ‘nicht’) fällt im gesprochenen Französisch schon seit Jahrhunderten weg.

       In der Verbalphrase je sais [ʒəsɛ], die man häufig [ʒəse] ausspricht, fällt das Schwa [ə] weg: [ʒse]. Das stimmhafte [ʒ] gleicht sich anschließend an das stimmlose [s] an, das verschwindet: [ʃe]. In Chats und Comics findet sich entsprechend die Schreibung <ché>.

       pas sprechen viele mit [ɔ] statt [a] aus. In Comics findet man daher auch die Schreibung <pô>.

       je sais pas [ʃepɔ] lässt sich zu [ʃpɔ] verkürzen.

       Das Personalpronomen je lässt sich schließlich noch durch moi verstärken.

      Die große Herausforderung der Sprachwissenschaft ist, diese Dynamik in all ihren Dimensionen zu verstehen. So fällt das ne etwa nach Pronomina wie je öfters weg als nach Nominalphrasen wie mon frère (dazu mehr in Kapitel 8.3.1). Zudem findet sich die Aussprache von pas als [pɔ] besonders häufig im français populaire und im québécois (vgl. Kapitel 10.2.1 und 10.1.2). Um herauszufinden, wer wann wie spricht, reicht Intuition nicht aus, denn vieles davon läuft unbewusst ab und oft macht die Frequenz den Unterschied. Die Sprachwissenschaft sammelt daher große Mengen von Sprachdaten, bereitet diese digital auf und analysiert sie statistisch (vgl. Kapitel 2.1.1). Ein Forschungsgegenstand unter vielen kann natürlich auch das korrekte Französisch sein. So untersucht man etwa sprachsoziologisch und -politisch, warum sogar viele Franzosen und Französinnen in Bezug auf die Norm verunsichert sind und wie die Kanadier*innen ihr eigenes Standardfranzösisch entwickeln (vgl. Kapitel 10.3.2).

      1.1.1 Gesprochene Sprache

      Seitdem die Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert eine eigene Universitätsdisziplin geworden ist, gibt sie – zumindest theoretisch – der Mündlichkeit den Vorrang (zur Geschichte der Sprachwissenschaft vgl. Kapitel 2.2).

      Das Primat der gesprochenen Sprache

      Ein deutliches Bekenntnis zum sogenannten Primat der gesprochenen Sprache (d. h. Vorrang gegenüber der geschriebenen Sprache) findet sich im Cours de Linguistique Générale des Schweizers Ferdinand de Saussure (1857–1913):

      Langue et écriture sont deux systèmes de signes distincts ; l’unique raison d’être du second est de représenter le premier ; l’objet linguistique n’est pas défini par la combinaison du mot écrit et du mot parlé ; ce dernier constitue à lui seul cet objet. (CLG1: 30)

      Für dieses Primat der gesprochenen Sprache gibt es zwei Gründe. Erstens ist die gesprochene Sprache phylogenetisch älter als die geschriebene Sprache: Während Menschen bereits seit mindestens 40000 Jahren sprechen, schreiben sie erst seit ca. 7300 Jahren. Zweitens ist die gesprochene Sprache auch ontogenetisch primär: Alle Menschen lernen zunächst – schnell, mühelos und perfekt – sprechen (vgl. Kapitel 4.1) und erst in der Schule schreiben: langsam, mühsam, fehlerhaft – wenn überhaupt. Selbst in Deutschland gibt es schätzungsweise 15 bis 20 % funktionale Analphabet*innen2 (DOHMEN 2019: 40). Von Schrift unberührte Kulturen existieren allerdings heute nicht mehr: Der Coca Cola-Schriftzug ist auf der ganzen Welt bekannt.

      Wie sieht gesprochenes Französisch aus?

      Auch wenn wir täglich Sprache(n) sprechen und hören, ist den meisten Menschen nicht bewusst, was gesprochene Sprache ausmacht. Im Alltag achten wir nicht darauf. Daher bringt das Sprachwissenschaftsstudium viele Überraschungen mit sich, die Sie den Alltag mit einer ganz neuen Aufmerksamkeit erleben lassen werden! Ein Beispiel für französische Spontansprache liefert die Audio-Datei ‘Paris-Province’, die Sie unter www.meta.narr.de/9783823384625/Zusatzmaterial.zip herunterladen und anhören können. Die orthographische Transkription des Interviewausschnitts ist im folgenden Kasten abgedruckt.

       Interview mit einer Brasserie-Besitzerin in Paris (*1961)

      E : Et pour vous, quelles sont les différences de mentalité les plus importantes entre les Aveyronnais et les Parisiens ?

      L : (…) C’est surtout euh, ben, moi je vais dans ma, dans la, dans ma belle-famille euh, les enfants, c’est comme les lapins et les poulets. On les nourrit, on leur change la cage régulièrement, donc euh la couche, mais pour le reste, pour ce qui est de jouer avec eux, de, de, de leur faire faire les devoirs, de leur euh, de les inscrire à la danse, au judo euh, de les emmener à Pétaouchnock pour faire ou pour voir tel musée ou telle euh, c’est du superflu, c’est du, c’est un truc de Parisien. <E : Hum, hum.> C’est un truc de Parisien. (…) Et puis bon, il y a des choses moi qui me, qui m’horripilent, mais qui me choquent aussi, c’est le, les garçons sont complètement euh, on se croirait retourné cinquante ans en arrière quoi. Les garçons, c’est euh ‘Ne touche pas à la vaisselle !’, on leur sort le, leur petit linge, euh, mais alors quand moi mes belles-sœurs me voient parler à mon fils euh ‘Maman, tu as pas vu mes basquets ?’ ‘Ben, tu te les cherches, elles sont où tu les as trou/, où tu les as posés.’, elles me regardent avec des grands yeux euh. (…) C’est, bon euh, des choses, bon, peut-être parce que j’ai trois enfants et que je travaille, j’ai, je suis plus rigide sur certaines choses, mais euh.

      (Korpus PUSTKA; PFC-Code 75wcn1; vgl. PUSTKA 2007)

      Hier besteht kein Zweifel: Es handelt sich ganz eindeutig um gesprochenes Französisch. Insbesondere finden wir die Negation ohne ne wieder („tu as pas vu“ in der Transkription oben) sowie die Verstärkung von je durch moi („moi je vais“). Daneben springen einem in der Transkription eine Reihe von Wörtern ins Auge, die man in schriftlichen Texten nicht gewohnt ist: bon, ben, quoi. In der Mündlichkeit strukturieren diese den Diskurs, da man ja ‘ohne Punkt und Komma’ redet. Beim Anhören des Tondokuments fällt außerdem auf, dass die Sprecherin oft zögert, sei es durch Dehnungen der Vokale, Pausen oder euh. Manchmal bricht sie ihre Sätze ganz ab, korrigiert sich selbst und setzt wieder neu an (z. B. „C’est surtout euh, ben, moi je vais…“). Daran erkennt man, dass das Gesprochene ganz spontan aus ihr ‘heraussprudelt’.

      In anderen Fällen ist die Einordnung der Kommunikationssituation und der Sprache dagegen nicht eindeutig. Überlegen Sie selbst!

       À vous !

      Wie würden Sie eine Vorlesung an der Universität oder eine Rede im Parlament einordnen? Hören wir dort eher gesprochene oder geschriebene Sprache? Inwiefern?

      Medium und Konzeption

      Vorlesungen und Parlamentsreden werden von Mund zu Ohr übermittelt. Sie sind also eigentlich mündlich. Dennoch wirken sie irgendwie ‘schriftlicher’ als Alltagssprache, selbst wenn sie weder abgelesen noch auswendig gelernt sind. Diese Beispiele zeigen uns, dass die Begriffe gesprochen und geschrieben zweideutig sind. Sie bezeichnen zum einen das Medium, das durch