Elissa Pustka

Französische Sprachwissenschaft


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Aussprache. Im Französischen sind Formen wie <chépa> [ʃpɔ] für je ne sais pas (s. o.), <quat’> [kat] für quatre oder <t’as> [ta] für tu as allerdings komplexeren einzelsprachlichen Regelmäßigkeiten unterworfen (vgl. Kapitel 6.2.2). Zusätzlich finden sich in der Nähesprache viele Deiktika, mit denen man direkt auf die Umgebung zeigen kann: ici, là-bas, celui-ci, celui-là etc.

      Da Nähesprache im Gegensatz zu Distanzsprache nicht sorgfältig vorbereitet und korrigiert ist, sondern spontan produziert wird, erscheint sie – wenn man sie als Transkription vorliegen hat – oft chaotisch, provisorisch, bruchstückhaft oder sogar falsch: Man findet hier Häsitationsphänomene wie leere und gefüllte Pausen (euh), Dehnungen und Wiederholungen, abgebrochene Sätze, Selbstkorrekturen (eingeleitet durch enfin, bon etc.) und Unsicherheitsbekundungen (z. B. durch je sais pas, je veux dire). Im Alltag fällt uns das aber gar nicht auf. Denn ganz so chaotisch ist die Nähesprache auch nicht: Statt mit Punkt und Komma ist sie durch Gliederungssignale strukturiert. Das sind Öffnungssignale wie et und alors und Schließungssignale wie hein und quoi. Zu ihrem auf den ersten Blick chaotisch wirkenden Satzbau gehören auch die sogenannten Rechts- und Linksversetzungen, d. h. Abweichungen von der üblichen Subjekt-Verb-Objekt-Reihenfolge. So findet man statt Le chat mange la souris eher il mange la souris, le chat oder le chat, il mange la souris.

       À vous !

      Welche sprachlichen Gliederungssignale (connecteurs) der französischen Distanzsprache kennen Sie? Wie leitet man einen Gedanken ein, wie fügt man einen hinzu, wie schließt man ab und wie stellt man Parallelen her? Erstellen Sie eine Vokabelliste, die Ihnen beim Verfassen französischer Texte hilft!

      Da Nähesprache typischerweise im Dialog vorkommt, finden sich hier auch Kontaktsignale von Sprecher*in (z. B. hein, tu sais, tu vois, écoute) und Hörer*in (z. B. hum, d’accord, tiens).

      Das Kriterium der Emotionalität kann sich schließlich unterschiedlich niederschlagen. Einerseits machen Emotionen sprachlos bzw. drücken sich in sprachlich marginalen Interjektionen aus, wie beurk ! für Ekel und aïe ! für Schmerz. Zu dieser direkten Ausdrucksweise gehören auch die Onomatopoetika (‘Lautmalereien’), z. B. crac, boum. Auf der anderen Seite lassen sich durch besonders aufwändige Versprachlichungsstrategien Emotionen bei den Hörer*innen wecken, u. a. durch Metaphern und Übertreibungen (vgl. Kapitel 9.4). Beim mündlichen Erzählen sorgen außerdem das Präsens und die direkte Rede für Lebendigkeit (z. B. « ‘Maman, tu as pas vu mes basquets ?’ » im Interviewausschnitt oben).

      Nähe und Distanz beeinflussen jedoch nicht nur die Sprache, sondern auch die nichtsprachliche Kommunikation. So kommt man sich bei einer Umarmung näher als beim Händeschütteln. Viel ist hier allerdings auch kulturell bedingt, wie etwa in Frankreich die Anzahl der bises je nach Region.

      Merkmale des gesprochenen Französisch

      Neben den universellen Merkmalen der gesprochenen Sprache existieren auch einzelsprachliche Merkmale. Im Französischen ist der Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Grammatik ganz besonders groß. Vergleicht man die Konjugation der regelmäßigen Verben auf -er (z. B. chanter in Tab. 1.3), so sieht man, dass Endungen fast nur im graphischen Medium existieren; im phonischen Medium erkennt man Person und Numerus dagegen v. a. am vorangestellten Personalpronomen, das oft verdoppelt wird.

Phonie Graphie
[mwaʒəʃɑ̃t] <je chante>
[twatyʃɑ̃t] <tu chantes>
[lɥiiʃɑ̃t]/[ɛlɛlʃɑ̃t] <il/elle/on chante>
[nuɔ̃ʃɑ̃t] <nous chantons>3
[vuvuʃɑ̃te] <vous chantez>
[øiʃɑ̃t]/[ɛlɛlʃɑ̃t] <ils chantent>

      Tab. 1.3:

      Verbkonjugation in phonischem und graphischem Medium.

      Auf Ebene der Konzeption sind die Unterschiede besonders deutlich in Morphologie und Syntax (vgl. Kapitel 7 und 8). So ist die Anzahl der Tempi und Modi in der Nähesprache geringer: Das passé simple, der imparfait du subjonctif und das futur simple kommen hier (fast) nicht vor, und häufig wird an Stelle des subjonctif der Indikativ verwendet. Bei den Pronomina kann das unpersönliche il in (il) faut und (il) y a wegfallen und nous durch on ersetzt werden (was auch die Konjugation vereinfacht; vgl. Tab. 1.3); gleichzeitig ist eine Verdoppelung möglich (z. B. nous on chante; vgl. Tab. 1.3). Typisch für das gesprochene Französisch ist außerdem die Verkürzung von cela zu ça und von qui vor Vokal zu qu’ (z. B. c’est qui qu’a fait ça ? statt qui a fait). In der Verbalphrase fällt auf, dass die Negation ohne ne erfolgt (vgl. <chépa> statt je ne sais pas; s. o.). Zudem kann der accord fehlen, beim participe passé, aber auch beim Präsentativ c’est (z. B. c’est pas des pizzas statt ce ne sont pas des pizzas). Auf Satzebene ist il y a X qui eine speziell französische Konstruktion (z. B. « il y a des choses moi qui me, qui m’horripilent » in der Transkription oben). Schließlich werden im gesprochenen Französisch Fragen üblicherweise allein durch die Intonation ausgedrückt (z. B. Tu viens ?), während in der Distanzsprache die Inversion vorherrscht (z. B. Pourriez-vous m’envoyer votre adresse ?). Wir vertiefen diese Phänomene noch in Kapitel 8.3.3.

      Im Gegensatz zu den universellen Versprachlichungsstrategien ergeben sich die einzelsprachlichen Versprachlichungsstrategien nicht automatisch aus den Kommunikationsbedingungen. Im Gegenteil: Sie konstruieren diese mit. Da beispielsweise eine Negation ohne ne als mündlich eingeordnet wird, kann dieses Phänomen in einer Rede oder einer E-Mail Nähe herstellen.

      1.1.2 Langage texto

      In der computervermittelten Kommunikation verschwimmen die Grenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Auf WhatsApp sendet nicht mehr zwangsläufig ein Sender eine Nachricht, die ein Empfänger liest und erst im Anschluss beantwortet (womit sich dann die Rollen umdrehen und der Empfänger zum Sender wird). Die Kommunikationspartner können ihre Nachrichten auch häppchenweise verschicken, sich dabei ins Wort fallen, aber auch gleichzeitig tippen. Komplett synchron wie eine face-to-face-Unterhaltung ist ein Chat zwar nicht (da niemand jeden Buchstaben einzeln senden würde), aber fast. Man spricht daher von quasi-synchroner Kommunikation (vgl. DÜRSCHEID 2016) – im Gegensatz zur nicht-synchronen Kommunikation von Schriftsteller*innen, deren Werke manchmal erst mehrere Jahrhunderte später gelesen werden. Die Spontaneität, die bei der Kommunikation per Smartphone häufig vorliegt, führt dazu, dass das Geschriebene nicht genau geplant, sorgfältig elaboriert und vor der Übermittlung noch einmal gründlich Korrektur gelesen wird. Zudem ermöglichen Instant Messaging-Dienste neben reinen Sprachnachrichten auch die Übersendung von Emojis, Fotos, Audio- und Videobotschaften und Links – auf diese Weise ergibt sich eine multimediale und vielfach kontextualisierte Kommunikation. Dabei bestehen natürlich enorme Unterschiede zwischen den Nachrichten und Chats, die man austauschen kann, von der Terminerinnerung des Friseursalons bis zum Beziehungsstreit.

       À vous !

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