braucht dich jetzt! Du musst dich konzentrieren! Schaffst du das?“
Ich nicke und schließe für einen kurzen Moment die Augen.
„Chris!“, faucht Angel erneut. „Nicht abdriften! Fokussier dich! Finde sie! Versuch, dem Summen zu folgen. Es zeigt dir, wo sie ist. Wenn sie nicht allzu verängstigt ist, lässt sie dich in ihren Kopf und ihr könnt miteinander reden. Hast du mich verstanden, Chris?“
Ich nicke. Das hatte ich. „Wo soll ich anfangen zu suchen?“
Dieses Mal war es Liam, der das Wort ergreift. „Geh' einfach raus auf die Straße, Bro. Das Summen weist dir die Richtung.“
Ich starre ihn ungläubig an, mache mich dann aber auf den Weg. Als ich die Straße betrete, weiß ich genau, wohin ich gehen muss.
8 Kapitel
Ich jage durch die Stadt und bin einmal mehr froh, dass Sonntag ist und der Verkehr auf den Straßen nicht so dicht ist wie sonst. Geschickt versuche ich, den roten Ampeln aus dem Weg zu gehen. Keinen Bock ausgebremst zu werden ... Gar nicht so einfach, aber ich kenne die Stadt seit meiner Kindheit.
Ich erinnere mich gerne zurück an das gemeinsame Leben mit meinen Eltern am östlichen Stadtrand, fernab von all dem Trubel und der Hektik. Es war beinahe ländlich bei uns. Unsere Nachbarn hatten sogar ein paar Hühner und einen Hahn, der einen Scheiß auf Wochentage und Uhrzeiten gab.
Als ich acht Jahre alt wurde, zogen wir mitten in den Großstadtdschungel. Mein Vater hatte die ewige Pendelei satt. Die Wohnung, die wir bezogen, war ein schlechter Witz im Gegensatz zu unserem alten Haus. Wir hatten das Gefühl, uns ständig auf den Füßen zu stehen. Meine Mutter schaffte es nie so richtig, das ländliche Leben hinter sich zu lassen, konnte sich einfach nicht an den Lärm der Großstadt gewöhnen. Sie verließ uns, als ich dreizehn war. Zog zurück an den Stadtrand und bat mich mitzukommen. Ich hingegen liebte die Großstadt. Für einen wilden Teenager wie mich und mit meinem coolen Dad an der Seite, war das Leben in der Innenstadt mehr als perfekt, um mich entfalten zu können. Wenn mir der Sinn nach Ruhe stand, verbrachte ich Zeit bei meiner Mutter am Stadtrand.
Ruhe. Die brauche ich jetzt auch.
Ich nutze meine geheimen Schleichwege, zwänge mich durch enge Gassen und Hinterhöfe und hoffe sehnlichst, dass die Polizei mich nicht erwischt. Wäre zwar nicht das erste Mal, aber verzichten könnte ich heute dennoch darauf. Ein paar Bewohner werfen mir genervte Blicke nach. Endlich erreiche ich die Stadtautobahn.
Ich gebe Gas.
Die Maschine zwischen meinen Schenkeln heult auf und einmal mehr wird mir bewusst, wie viele PS in ihr stecken. Kurz habe ich Mühe, sie zu halten, und komme kurz und schwankend aus dem Gleichgewicht. Glücklicherweise kann ich mich auch heute und trotz der ganzen Scheiße, die ich in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebt habe, auf meine Reflexe verlassen und fange die Maschine gerade noch rechtzeitig wieder ab.
Glück gehabt.
Ich drossle das Tempo und gebe mich für einen Moment nur dem Rausch der Freiheit hin.
Lange hält dieser leider nicht an, denn mein Ziel ist nur zwei Abfahrten weit entfernt. Ich fahre von der Autobahn und folge der Landstraße, die sich nach einer lang gezogenen Rechtskurve gabelt. Ich nehme die linke Ausfahrt und fahre die leichte Steigung hoch. Nach etwas mehr als fünf Minuten erreiche ich mein Ziel.
Kaum einer kennt den alten Flugplatz, der relativ abgelegen und doch so nah hinter einem kleinen Wäldchen liegt. Nur, wer einst zu einer der elitären Flugshows eingeladen wurde, kennt Ort und Weg. Einmal mehr gilt der Dank meinem Vater. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich je jemand hierher verirrt hätte.
Ich parke meine Maschine am Straßenrand und nehme den Helm ab. Durch die Höhe des Flugplatzes hat man eine perfekte Sicht auf die Skyline der Stadt. Ich starre auf die Hochhäuser und den Fernsehturm, versuche, Details zwischen den weit entfernten Häusern zu finden, nur um nicht das zu fühlen, was unter meiner Oberfläche brodelt.
Als sich meine Gefühle nicht mehr weiter unterdrücken lassen, sacke ich auf die Knie. Kies bohrt sich durch die Hose in meine Beine. Eine unbändige Wut steigt in mir auf und nimmt Verzweiflung und Ekel mit an ihre Seite, während sie sich ihren Weg nach draußen bahnt. Ein lang gezogener, fast unmenschlich klingender Schrei entfährt mir. Aus tiefster Seele brülle ich ihn in den Himmel.
Dann fließen endlich die Tränen.
In was für eine verfickte Scheiße war ich denn da nur geraten? Ich kann mich nicht erinnern, dass eine einzige Nacht mich je so um meinen Verstand gebracht hätte. Bis auf die eine vor acht Jahren, aber an die wollte ich gerade nicht denken. In meinem Kopf war sowieso schon genug los. Das Schlimmste von allem war, und das war gleichzeitig der Teil, den ich kaum begreifen konnte, es war echt. Es war wirklich alles passiert. Kein Traum. Kein Witz. Alles, was Chris, Liam und Angel gesagt hatten, war die Wahrheit gewesen. Das Summen in mir hatte ihnen zugestimmt.
Das Summen.
Noch so ein Rätsel. Als hätte Chris es mit seinen Worten aktiviert, hatte es seitdem nicht mehr aufgehört, in mir zu klingen. Es war keinesfalls unangenehm, oder so. Vielmehr fühlte es sich vom ersten Moment total vertraut an. Als wäre es schon immer in mir gewesen und hätte darauf gewartet, geweckt zu werden. Was wiederum die Frage aufwarf, warum es mir nicht in all den Wochen, in denen ich Chris schon kannte, nicht aufgefallen war? Es ist gar nicht zu ignorieren. Zwar tönt es mal lauter und mal leiser in mir, aber doch war es immer da. Warum hatte ich es nicht bemerkt?
Und Himmel nochmal, seit zehn Wochen ging ich ins All in, ohne dass ich mich daran erinnern konnte? Zehn Wochen? Meine Erinnerungen an die letzten zehn Samstage bestanden aus Home Office, Pizza um Mitternacht und anschließendem Einschlafen auf dem Sofa, während im Hintergrund Friends in Dauerschleife lief. Nichts von besonderer Bedeutung. Ich hatte die letzten zehn Samstagabende gearbeitet. Es musste so sein. Anderenfalls hätten wir die Timeline unseres Projekts nicht einhalten können.
Und Vampire? In meiner Stadt? Klar war es hier absolut attraktiv und weird und offen für alle und so manche Randgruppe führte hier ein friedvolles Leben. Aber Vampire? Dieser Teil ist für mich noch immer schwer zu begreifen. Und das, obwohl ich einen von ihnen heute hatte von mir trinken lassen.
Die Vorstellung, wie sich Chris' Zähne durch meine Haut bohrten und er in tiefen Zügen mein Blut trank, erregt mich noch immer.
Verrückt. Total verrückt.
Und doch erinnert mich die kleine, rote Stelle an meinem Hals an die köstliche Szenerie im Keller eines unscheinbaren Cafés. Und wie bereitwillig ich ihm mein Blut gegeben hatte ... Was hatte mich da nur geritten?
Ein gewisses Summen gibt mir die Antwort.
Herrje, ich glaube, in diesem Café würden wir uns nicht mehr blicken lassen können.
Auch das Küchengespräch geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Besonders Angels Worte hatten einen unangenehmen Beigeschmack hinterlassen. Du und Chris seid füreinander bestimmt. Er weiß das und du auch.
Chris wollte mich also verwandeln? Ich würde zu einem Vampir werden? Weil wir füreinander bestimmt sind? Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich will. Ein Vampir sein ...
Ich habe nur eine vage Vorstellung davon, was das bedeutet. Und die habe ich auch nur, weil ich das ein oder andere literarische Stück darüber gelesen habe, eins klischeehafter als das andere.
Würde er mich denn verwandeln müssen? Könnte ich nicht einfach mit meinem Leben weitermachen wie bisher? Vielleicht sollte ich nächsten Samstag noch einmal das All in besuchen und mir die Erinnerungen an diese Woche nehmen lassen? Seltsames Erinnerungsserum rein und einfach alles auf null stellen lassen. Dann müsste ich nur noch Chris bitten, sich aus meinem Leben herauszuhalten. Und alles wäre gut.
Aber wäre es das wirklich?
Ein kleiner Summton verrät mir, dass ich das vergessen kann.
Fuck.