erhielt Pierre von Anna Pawlowna das übliche rosa Brief chen mit einer Einladung; zu der Einladung hatte sie noch die Bemerkung hinzugefügt: »Sie werden bei mir die schöne Helene finden, die anzuschauen man nie müde wird.«
Als Pierre diesen Satz las, fühlte er zum erstenmal, daß sich zwischen ihm und Helene eine Art von Beziehung gebildet hatte, die von anderen Leuten gewissermaßen als rechtmäßig anerkannt wurde. Einerseits hatte dieser Gedanke für ihn etwas Schreckhaftes, als würde ihm da eine Verpflichtung auferlegt, der er nicht imstande sei gerecht zu werden; andrerseits gefiel ihm die Sache recht gut, da die Voraussetzung einer solchen Beziehung etwas Amüsantes hatte.
Die Soiree bei Anna Pawlowna war von derselben Art wie die erste, nur war das neue Gericht, mit welchem Anna Pawlowna ihre Gäste regalierte, diesmal nicht Mortemart, sondern ein Diplomat, der aus Berlin gekommen war und die neuesten Einzelheiten über den Aufenthalt des Kaisers Alexander in Potsdam mitgebracht hatte; er berichtete, wie die beiden hohen Freunde dort einander geschworen hätten, in unverbrüchlichem Bund die gerechte Sache gegen den Feind des Menschengeschlechtes zu verteidigen. Anna Pawlowna begrüßte Pierre mit einem leisen Beiklang von Traurigkeit, die sich offenbar auf den frischen Verlust beziehen sollte, der den jungen Mann betroffen hatte, also auf den Tod des Grafen Besuchow (wie denn alle es beständig für ihre Pflicht hielten, Pierre zu versichern, daß er über das Hinscheiden seines Vaters, den er doch in Wirklichkeit kaum gekannt hatte, sehr betrübt sei), und diese Traurigkeit war genau von derselben Art wie jene wehmütige Traurigkeit, welche Anna Pawlowna bei Erwähnung der erhabenen Kaiserinmutter Maria Feodorowna zum Ausdruck zu bringen pflegte. Pierre fühlte sich dadurch geschmeichelt. Mit der ihr geläufigen Kunstfertigkeit teilte Anna Pawlowna in ihrem Salon die Gäste in Gruppen. Die größere Gruppe, in welcher sich Fürst Wasili und einige Generale befanden, genoß den Diplomaten; die zweite Gruppe saß am Teetisch. Pierre wollte sich zu der ersteren gesellen; aber Anna Pawlowna, die sich in demselben Zustand der Aufregung befand wie ein Feldherr auf dem Schlachtfeld, wenn ihm viele, viele neue glänzende Ideen kommen, die er kaum Zeit finden wird alle zur Ausführung zu bringen, Anna Pawlowna berührte, sobald sie Pierres Absicht bemerkte, seinen Ärmel mit einem Finger.
»Warten Sie, ich habe für diesen Abend mit Ihnen meine besonderen Absichten.« Sie blickte zu Helene hin und lächelte ihr zu. »Meine liebe Helene, Sie müssen an meiner armen Tante, die Sie mit einer wahren Schwärmerei verehrt, ein gutes Werk tun. Gehen Sie zu ihr hin, und leisten Sie ihr zehn Minuten lang Gesellschaft. Und damit Sie sich nicht allzusehr langweilen, so nehmen Sie hier unsern liebenswürdigen Grafen mit; er wird sich nicht weigern, Sie zu begleiten.«
Die schöne Helene begab sich zu der Tante; aber den jungen Mann hielt Anna Pawlowna noch bei sich zurück, mit einer Miene, als müßte sie noch eine letzte notwendige Anordnung treffen.
»Nicht wahr, sie ist entzückend?« sagte sie zu Pierre, indem sie auf das in leichtem, schwebendem Gang sich entfernende majestätisch schöne Mädchen deutete. »Und welch ein Anstand! Ein so junges Mädchen, und welch ein feines Taktgefühl besitzt sie, wie meisterhaft weiß sie sich zu benehmen! Das kommt von ihrem prächtigen Herzen her! Glücklich wird der Mann sein, dem sie als Gattin angehören wird! Selbst wenn er persönlich kein Weltmann sein sollte, würde er doch an ihrer Seite ganz von selbst die glänzendste Stellung in der Gesellschaft einnehmen. Nicht wahr? Ich wollte nur Ihre Ansicht kennenlernen.« Damit ließ Anna Pawlowna nun auch Pierre gehen und begleitete ihn selbst zu der Tante.
Pierre gab auf Anna Pawlownas Frage, betreffend Helenens vollendete Kunst sich zu benehmen, mit voller Aufrichtigkeit eine bejahende Antwort. Wenn er manchmal an Helene gedacht hatte, so hatte er namentlich an zwei ihrer Eigenschaften gedacht: an ihre Schönheit und an die außerordentliche, ruhige Geschicklichkeit, mit der sie in Gesellschaft eine schweigsam würdige Haltung beobachtete.
Die Tante empfing die beiden jungen Leute in ihrem Eckchen mit dem üblichen Lächeln, schien aber ihre schwärmerische Verehrung für Helene absichtlich verbergen und vielmehr ihre Furcht vor Anna Pawlowna zum Ausdruck bringen zu wollen. Sie blickte ihre Nichte an, wie wenn sie fragen wollte, was sie denn eigentlich mit diesen beiden jungen Leuten anfangen solle. Als Anna Pawlowna von ihnen zurücktrat, berührte sie noch einmal mit der Fingerspitze Pierres Rockärmel und sagte leise:
»Ich hoffe, Sie werden nun nicht mehr sagen, daß man sich bei mir langweilt.« Dabei richtete sie ihren Blick auf Helene.
Helene lächelte mit einer Miene, welche besagte, sie halte es für unmöglich, daß jemand sie ansehe, ohne von ihr entzückt zu sein. Die Tante räusperte sich, schluckte den Speichel hinunter und sagte auf französisch, sie freue sich sehr, Helene zu sehen; dann wandte sie sich mit derselben Begrüßung und mit derselben Miene zu Pierre. Während des langweiligen, wiederholt stockenden Gesprächs blickte Helene einmal nach Pierre hin und lächelte ihn mit jenem klaren, schönen Lächeln an, mit dem sie alle anzulächeln pflegte. Aber Pierre war dieses Lächeln so gewohnt und fand darin so wenig ihn persönlich Angehendes, daß er es gar nicht weiter beachtete. Die Tante sprach unterdessen gerade von einer Dosensammlung, die Pierres seliger Vater, Graf Besuchow, besessen habe, und zeigte dabei ihre eigene Tabaksdose. Die Prinzessin Helene bat um die Erlaubnis, das Porträt des Gemahls der Tante besehen zu dürfen, das auf der Dose angebracht war.
»Es ist wohl von Wines gemalt«, sagte Pierre, indem er den Namen eines bekannten Miniaturmalers nannte. Er beugte sich dabei über den Tisch, um die Dose in die Hand zu nehmen, horchte aber nach dem Gespräch am andern Tisch hin.
Er erhob sich ein wenig, in der Absicht, um den Tisch herumzugehen; aber die Tante reichte ihm die Dose gerade über Helene weg, hinter ihrem Kopf. Helene beugte sich nach vorn, um Raum zu geben, und blickte lächelnd um sich. Sie trug, wie stets bei Abendgesellschaften, ein nach damaliger Mode vorn und hinten sehr tief ausgeschnittenes Kleid. Ihre Büste, die auf Pierre immer den Eindruck des Marmorartigen gemacht hatte, befand sich in so geringem Abstand von seinen Augen, daß er trotz seiner Kurzsichtigkeit unwillkürlich ihre Schultern und ihren Hals als etwas von reizvollem Leben Erfülltes erkannte, und so nah an seinen Lippen, daß er sich nur ein wenig zu bücken brauchte, um sie zu berühren. Er empfand die Wärme ihres Körpers, roch den Duft ihres Parfüms und hörte das Knistern des Korsetts bei ihren Bewegungen. Er sah jetzt nicht ihre marmorartige Schönheit, die mit dem Kleid zusammen ein einheitliches Ganzes bildete; sondern er sah und fühlte den ganzen Reiz ihres Leibes, dem der Anzug lediglich als Hülle diente. Und nachdem er einmal zu dieser Art des Sehens gelangt war, war er nicht mehr imstande in anderer Weise zu sehen, so wie wir in eine einmal aufgeklärte Täuschung uns nicht wieder zurückversetzen können.
»Hatten Sie denn bisher noch nicht bemerkt, wie schön ich bin?« schien Helene zu fragen. »Hatten Sie gar nicht bemerkt, daß ich ein Weib bin? Ja, ich bin ein Weib, das jedem angehören kann, auch Ihnen«, sagte ihr Blick. Und in diesem Augenblick hatte Pierre das Gefühl, daß Helene seine Frau nicht nur werden könne, sondern werden müsse, unter allen Umständen werden müsse.
Er war davon in diesem Augenblick so fest überzeugt, als ob er schon mit ihr vor dem Altar stünde. Wie und wann es geschehen werde, darüber war er sich nicht klar; er war sich nicht einmal darüber klar, ob es ihm zum Segen gereichen werde (er hatte sogar die Empfindung, daß es aus irgendeinem Grund nicht gutgehen werde); aber daß es geschehen werde, das wußte er.
Pierre schlug die Augen nieder, hob sie wieder in die Höhe und wollte in der Prinzessin Helene von neuem nichts weiter als das ihm fernstehende, ihm fremde schöne Mädchen sehen, das er bisher täglich in ihr gesehen hatte; aber dies zu tun, war er nicht mehr imstande. Er war dazu ebensowenig imstande, wie jemand, der im Nebel einen Steppengrashalm gesehen und für einen Baum gehalten hat, nachher, nachdem er gesehen hat, daß es ein Halm ist, von neuem in ihm einen Baum sehen kann. Sie stand ihm auf einmal so nahe, daß ihm beklommen wurde; sie hatte schon Gewalt über ihn. Und zwischen ihm und ihr bestanden jetzt keinerlei Schranken mehr außer denen, die sein eigener Wille errichtete.
»Gut, ich lasse Sie in Ihrem kleinen Winkel. Ich sehe, daß Sie sich da ganz wohl befinden«, hörte er auf einmal Anna Pawlowna sagen.
Pierre überlegte ängstlich, ob er auch nicht irgend etwas Unpassendes getan habe, errötete und blickte rings um sich. Es kam ihm vor, als wüßten alle geradeso gut wie er selbst, was mit