das jeden einzelnen Tag laut und energisch. Vor allem, wenn Katarina vor einem Spiegel stand.
›Deine biologische Uhr tickt‹, rief sie prompt in diesem Augenblick. Katarina versuchte darauf nicht zu reagieren, aber ihr Spiegelbild ließ einfach nicht locker und setzte noch eins drauf. ›Verdammt noch mal, sie rennt!‹
Über diese Worte erschrak Katarina dann doch. Sie beugte sich näher zum Spiegel hin und betrachtete sich genauer.
»Was ist das denn?«, fragte sie irritiert. Sie sah die kleinen Fältchen um ihre Augen und war sich sicher: »Die waren gestern noch nicht da. Das wäre mir doch aufgefallen.«
Sie war verzweifelt und nahe am Heulen. Jeden Tag die gleichen fiesen Sprüche ihrer inneren Stimme. Hin und wieder schaltete sich ihr Verstand dazwischen und beruhigte sie.
›Dieses Gefühl ist nur eine Torschlusspanik. Also keine ernstzunehmende Krankheit.‹
Ihre innere Stimme horchte auf und widersprach sofort. ›Was heißt hier nur?‹, kreischte sie los.
Katarina musste zugeben, sie hatte recht und sagte sich, wenn morgens mein Wecker klingelt, bleibe ich da liegen, weil ich nur zur Arbeit muss? Nein, natürlich nicht, dann ist es höchste Zeit aufzustehen!
Ruckartig sprang sie hoch. Der Stuhl knarzte laut über den Küchenboden, kippte nach hinten und krachte scheppernd auf die Dielen. Katarina achtete nicht weiter darauf. Sie bemerkte auch nicht, wie der Tee erneut über den Rand ihrer Tasse schwappte und nun in einer breiten Lache langsam über den Tisch kroch. Ihr war gerade etwas klar geworden, das sie zutiefst erschütterte. Und um ganz sicher zu sein, musste sie das mit eigenen Augen überprüfen.
Sie rannte ins Bad und starrte auf ihr Spiegelbild.
»O Gott, nein!«, keuchte sie erschrocken.
Kalter Schweiß brach aus ihren Poren. Sie hatte es verdrängt, vielleicht sogar vergessen. Aber wie in Gottes Namen war es möglich, so etwas Schwerwiegendes aus dem Gedächtnis zu verlieren? Ihre innere Stimme erinnerte sie täglich an ihr Alter. Damit hatte sie sich mittlerweile abgefunden. Doch dass seit dem Tag, an dem sie die Pille abgesetzt hatte, dreizehn Jahre vergangen waren, haute sie jetzt beinah um. Das war zu viel. Ihr Blutdruck sackte ab und sie begann zu zittern. Kraftlos ließ sie sich auf den Wannenrand sinken und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
»Wie konnte das bloß passieren?«, flüsterte sie erstickt.
Tränen tropften in ihre Handflächen. Sie konnte sie nicht mehr zurückhalten. Das wollte sie auch gar nicht, sie wollte sich in diesem Moment einfach nur bemitleiden.
Nach ein paar Minuten war sie so weit, zumindest nicht mehr zu heulen, wenn sie versuchte, darüber nachzudenken. Seit dreizehn langen Jahren ließ sie es darauf ankommen, schwanger zu werden. Diese Feststellung war wie ein Faustschlag und sie musste tief durchatmen, um weiterzumachen. Aber sie wusste, je länger sie all das verdrängte, umso weiter rückte der Zeiger ihrer biologischen Uhr. Und der stand inzwischen auf fünf vor zwölf.
Es war jetzt vierzehn Jahre her, Katarina war damals einundzwanzig, da lernte sie Felix kennen und lieben. Drei Tage später zogen sie zusammen und sie entschloss sich, die Pille zu nehmen. Das tat sie gewissenhaft ein ganzes Jahr lang. Danach war Schluss, sie setzte die Pille von heute auf morgen ab.
Der eigentliche Grund dafür war nicht der, dass sie schwanger werden wollte, sondern die Pille selbst. Sie hatte kein so gutes Verhältnis dazu, ihren Körper mit purer Chemie zu füttern. Das war nichts Natürliches und schreckte sie ab. Also stöberte sie danach im Internet und machte sich darüber schlau. Das tat sie bei vielen anderen Dingen auch. Sie informierte sich. Im Endeffekt gelangte sie jedoch immer wieder zu einer Aussage: Die Pille erhöht das Krebsrisiko.
Katarina war geschockt. Was bastelte die Pharmaindustrie da bloß für einen riskanten Scheiß zusammen? Sie stoppte sofort jede weitere Einnahme. Lieber würde sie das Risiko eingehen, schwanger zu werden, als sich von wuchernden Krebszellen zerfressen zu lassen, um dann mit Schmerzen dahinzusiechen, bis der Tod endlich eintrat. Keinesfalls!
Der andere ausschlaggebende Punkt war: Es gab Frauen, die trotz der Pille schwanger wurden. Daran hatte sich wohl auch bis heute nichts geändert.
Mit Jubelschreien konnte Katarina selbstverständlich nicht rechnen. Schließlich gehörte es nicht gerade zu Felix’ Wunschträumen, beim Sex permanent aufzupassen und darauf zu hoffen, dass nichts passierte. Und Kondome, nein. Niemals. Die versauten total die Stimmung. Aber immerhin hatte er keine Einwände, dass sie auf die Pille verzichten wollte. Ihre Gesundheit war ihm an dieser Stelle um einiges wichtiger.
Das Ganze war natürlich eine ziemlich windige Angelegenheit, darum schlossen die beiden eine Übereinkunft.
»Wenn dabei etwas schiefläuft«, sagte Felix, »dann werden wir eben Eltern. Du Mama, ich Papa.«
Beide waren sich einig und bereit, dieses Risiko einzugehen.
»Jedenfalls bin ich mit meinen zweiundzwanzig Jahren alt genug.«
Daran glaubte Katarina damals. Und sie überlegte, welche Frauen sie kannte, die in ihrem Alter bereits Kinder hatten. Nach einigem Nachdenken fielen ihr sogar mehrere ein. Ihre Freundin Meike zum Beispiel hatte zwei Kinder. Oder die Frau Peters bei ihr auf Arbeit, die war jetzt vierzig und schon Oma. Und Sandra, die war gerade im Babyjahr und nur ein Jahr älter als sie selbst. Zwei kannte sie aus ihrer ehemaligen Schulklasse, die Simone und die Andrea. Diese beiden waren ebenfalls längst Mutter. Sie alle hatten Nachwuchs.
Dieses Wissen war zu dieser Zeit Katarinas bestes Alibi, falls sie und Felix beim Aufpassen mal abgelenkt sein sollten.
Jetzt, dreizehn Jahre später, war genau jenes windige Abenteuer der Grund, weshalb sie direkt auf eine Torschlusspanik zusteuerte.
»Ich habe den Anschluss verpasst«, jammerte sie bestürzt, »oder das Schicksal hat mich vergessen.«
Es war inzwischen einige Zeit her, dass Katarina der Mutter und ihrem Baby in diesem Park begegnet war. Seitdem hatte sie ihren Wunsch nach einem Kind stets wieder verdrängt. Sie war sich sicher, irgendwann geschähe es von selbst. Deshalb hatte sie auch alles dem Zufall überlassen. Nur was war indessen passiert? Nichts. Und nun trauerte sie den Jahren nach, die sich still und leise an ihr vorbeigeschlichen hatten.
»Niemand wird sich an mich erinnern, wenn ich tot bin«, flüsterte sie den kahlen Wänden zu. »Kein Kind, das um mich weint.«
Mit verschränkten Armen umschlang sie ihren Körper, um sich damit vor der Härte ihrer eigenen Worte zu schützen. Doch das änderte nichts an der Tatsache.
»Was, wenn mich das Schicksal tatsächlich übersehen hat?«, fragte sie in den leeren Raum.
Sie stand auf, ging hinüber zum Waschbecken und starrte erneut auf ihr Spiegelbild.
»Dann hör auf zu flennen und komm endlich raus aus deinem Trott. Tu gefälligst etwas!«, antwortete es ihr ohne jegliche Rücksicht auf ihre Gefühle.
So und nicht anders sah es aus. Das Spiegelbild, ihre innere Stimme, hatte recht. Die Heulerei brachte sie nicht weiter. Energisch wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Sie brauchte eine andere Sichtweise. Doch dafür musste sie ihr Problem erst einmal ganz sachlich betrachten.
Katarina dachte an die vielen Tipps und Ratschläge ihrer Freunde und Kollegen. Davon hatte sie sich nie verrückt machen lassen und nur halbherzig zugehört. Sie wollte das alles gar nicht wissen. Außerdem war sie zur Familiengründung zu der Zeit noch nicht wirklich bereit. Deshalb wollte sie auch nichts überstürzen.
Nun kam ihr das ein oder andere wieder in den Sinn. Felix oder sie könnte unfruchtbar sein, womöglich gar sie beide, lautete ein Kommentar. Es könnte aber auch das Bier schuld sein oder der Wein. Zu viel Fleisch, zu wenig Obst und Gemüse, die falsche Diät. Zu schlecht ernähren würden sie sich sowieso, daran müsste es liegen. Noch wahrscheinlicher wären irgendwelche inneren Fehlbildungen. Ja, definitiv, daran läge es. Und nicht zu vergessen, der Ziegenpeter während der Kindheit, und das wäre erwiesen, würde später oft die Schwangerschaft