Stefan G. Wolf

Eine schräge Geschichte, die böse endet


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wohl hier immer so mit Fremden, die nichts begriffen von zerbrochenen Fenstern. Daher, so denke ich, heißt der Ort von alters her Los Vidrios, die Fenster, wahrscheinlich, kann doch sein, oder?

      Ich drehte also um und fuhr zurück, und um nicht noch einmal Bekanntschaft mit dem Filmcast an der Grenze zu machen, bog ich nach links auf eine Piste ab, die schnurgerade nach Norden führte. Ich war noch nicht weit gefahren, da sah ich vor mir einen großen Menschenauflauf. Als ich näherkam, erkannte ich die bunte Zirkustruppe. Sie hatten sich malerisch zwischen den Kakteen verteilt, während zwei Vicuñas mitten auf der Straße ihre Gefühle auslebten. Die jungfräuliche Prinzessin mit dem Tanzbären senkte ihren Blick beschämt zu Boden, während andere dabeistanden und applaudierten. »¡Hay! ¡Hay! ¡Hay!« riefen sie und »¡Esto marcha!« und die Mariachiband spielte Los ojos de mi chamaca. Kaum war ich ausgestiegen, kam die große Frau in Grün auf mich zu und versprach, mir ihre Anatomie zu zeigen, wenn ich nur fünf Dollar aufbringen könnte. Auf mein Kopfschütteln korrigierte sie ihr Angebot: einmal anfassen für zwei Dollar. Am Ende ließ ich mir aus der Hand lesen, das war mir den Dollar wert, den sie in ihrem Ausschnitt verschwinden ließ, und ich hatte ganz kurz die Vorstellung von einem Hütchenspieler – wo ist der Dollar: zwischen Brust eins und zwei oder zwischen Brust zwei und drei oder …?

      Nachdem ich alles erfahren hatte über die kleine Blonde, vor der ich mich in Acht nehmen sollte, über den Geldsegen, der mich erwartete, und das große Haus mit dem Rosengarten, in dem ich mein Glück finden würde, ging ich dorthin, wo die Männer kleine rote Würstchen auf Saguarodornen gespießt hatten und über den Fackeln des Jongleurs brieten. Sie luden mich ein, ein Spießchen zu nehmen und mich zu ihnen zu setzen. Als ich mich auf eine dieser bunten Decken fallen ließ, merkte ich, wie müde ich war. Zwei Wurstspießchen und drei Corona-Bier später war ich eingeschlafen, und während ich davonflog, um mit Opa hoch über den Orgelpfeifen des Kakteenwaldes zu kreisen, merkte ich nur noch, dass mir jemand einen Hut übers Gesicht legte. »Johann!«, rief ich meinem Opa zu, der gerade einen vollendeten gehechteten Delfinsalto in das unfassbare Blau des südlichen Himmels schrieb, »Johann! Ich kann nichts mehr sehen, ich glaube, ich bin blind!«

      Als ich erwachte, kroch das letzte Licht der untergehenden Sonne die Hänge der Ajo Mountains hinauf. Was war das bloß für ein seltsamer Traum, in dem sich Schwielensohler paarten, eine dreibrüstige Frau mir aus der Hand las und Mariachis Würstchen grillten? Im Kakteental war es schon ziemlich duster, doch nicht duster genug, um die Bierfläschchen, die hier und da zwischen den Büschen herumlagen, zu übersehen. Und wo kam der Sombrero her, der mich vor einem Sonnenbrand gerettet hatte, und die bunte Decke mit einer Spur von Erbrochenem an einer Ecke? Ich war ein klein wenig orientierungslos und zitterig.

      Als ich mich auf den Fahrersitz von Opas Travelette gewuchtet hatte, stellte ich fest, dass der Schlüssel noch im Zündschloss steckte, beste Voraussetzungen für die Rückfahrt nach Why.

      Taleesha auf Coke

       Taleesha fand ich schließlich dort, wo sich die State Route Nr. 86 gabelt und dabei die Nr. 85 nach Süden entlässt. Sie saß im Schneidersitz am Straßenrand, hatte eine leere Cola-Flasche in der Hand und starrte auf den Liquor Store auf der anderen Straßenseite. »Mann, einhundertsiebenundsechzig Einwohner, aber ein Schnapsladen!«, sagte ich, als ich mich neben sie setzte.

      »Die haben auch Cola und Sprite«, gab sie mir zur Antwort. Wir schwiegen, während die kalte Wüstenluft, die immer noch beständig aus dem Norden blies, unsere Nackenhaare aufstellte. Ein paar Knöpfe ihrer Bluse hatten ihr Loch nicht gefunden, und ich genoss es, bis ich vor meinem geistigen Auge sah, wie Opas Mund Taleeshas Brustwarzen umschloss, und ich wusste, warum sie ihn und nicht mich gewählt hatte. »Und Rice Krispies und Pretzels und Fritos Corn Chips«, ergänzte sie die Angebotspalette des Spritladens. Sie schaute mich traurig an, so dass ich mich entschloss, noch nicht über das Unvermeidliche zu reden. Vielleicht wusste sie es ja auch schon, wegen Frauen, Hormone, siebter Sinn, irgendsoetwas. Ich nahm ihr die Cola-Flasche aus der Hand und roch daran, aber ich konnte nichts entdecken außer einem süßlichen Aroma von Koffein-Citrat, Karamell und Kokablatt-Extrakt. »Und Marshmallows«, sagte sie, dabei kam ihre Stimme mit dem Wüstenwind herangeweht und die Silben klangen wie in Daunen gepackt.

      »Ich nehm’ das Gleiche, was du hattest«, antwortete ich, aber sie hob nur ihre leere Flasche und schwenkte sie ein paarmal hin und her, während sie eine rosafarbene Kaugummiblase platzen ließ. »Und Wrigley’s.«

      Ich versuchte es mit einer Runde Wer-weiß-denn-sowas. »Wusstest du schon, warum Why Why heißt?«

      »Why?«, fragte sie ohne Zögern und Nachdenken.

      »Deswegen!« antwortete ich und zeigte auf die beiden Straßen, die rechts und links von uns auseinanderstrebten. »Ursprünglich hieß der Ort Y, weil hier die State Routes Nr. 85« (ich zeigte nach rechts) »und Nr. 86« (ich zeigte nach links) »in einer Y-Form auseinandergehen. Oder zusammentreffen, von wo aus man das halt sehen will. Aber es gab im Staat Arizona ein Gesetz, das vorschrieb, dass Ortsnamen mindestens aus drei Buchstaben bestehen müssen. Und so entschieden sich die Leute für den Namen Why, was ja genauso ausgesprochen wird wie der Buchstabe Y. ¿Entiendes?«

      »Hm«, brummelte sie, »verstehe ich vollkommen.« Dann nickte sie ein paar Mal und noch ein paar Mal zuviel. »Macht Sinn.«

      Ich müsste hier mehrere Zeilen leer lassen, so lange haben wir unser Schweigen genossen. Die Sterne am nachtschwarzen Himmel schleuderten ihr kaltes Feuer auf uns herunter und der Dreiviertelmond, der hinter San Luis aufgegangen war, lächelte verlegen.

      »Und weißt du, warum Arizona Arizona heißt?« Es war Taleeshas Runde.

      Ich dachte immerhin einige Sekunden nach, bevor ich aufgab. »Sag, warum?«

      Taleesha richtete sich ein wenig auf und machte irgendwie einen wacheren Eindruck. »Also«, begann sie, »ich habe zwei Erklärungen: Es könnte aus der Sprache der Tohono O’Odham kommen, wo Ali Sonak kleine Quelle bedeutet.«

      »Dann müsste es aber irgendwas wie Alisona heißen«, gab ich zu bedenken.

      »Gut mitgedacht!«, lobte sie mich, »und deswegen gibt es ja auch eine zweite These, dass nämlich baskische Einwanderer das Gebiet Aritz Ona genannt haben, das heißt gute Eiche.«

      »Was du alles weißt«, staunte ich sie an.

      »Zufall«, gab sie zu, »und American Guide Series: Arizona, the Grand Canyon State, ich hab’ vorhin drin geblättert, als ich auf« – und hier zögerte sie für einen winzigen Wimpernschlag – »auf euch gewartet habe.«

      Das alles ist jetzt fast vierzig Jahre her, aber ich habe in manchen Nächten immer noch den Geruch ihrer Haut in der Nase, eine Kopfnote von Schweiß und Avons Unforgettable, eine Herznote von frischem Heu und Staub mit einem Tröpfchen Cola und einem Hauch Tabak. »Du musst doch nicht im Auto schlafen«, sagte sie und hielt die Tür des Wohnwagens auf. Das war bisher ihr Wohnwagen gewesen, Opas und Taleeshas, meine ich, und ich hatte mich jede Nacht auf der Rückbank des Pick-ups zusammengerollt. Manchmal, wenn ich noch mal draußen war, weil ich mich erleichtern wollte oder noch eine rauchen, dann hörte ich gedämpfte Geräusche, die mich neidisch machten. Wir hatten Taleesha am Lake El Dorado aufgesammelt, es hatte zwei Tage lang geregnet und sie sah zum Erbarmen aus. Wir überließen ihr den Wohnwagen und quetschten uns selbst in den Pick-up, aber schon am nächsten Tag ergab es sich irgendwie, dass sie mit Opa das Bett teilte. Opa hatte es drauf, schon immer. Er war immerhin der Kerl, der sein Kindermädchen geschwängert hatte, also wohlgemerkt: sein eigenes, das war von da an meine Oma, so ging das los. Und selbst jetzt, zusammen mit Taleesha im Klappbett, löffelchenweise, respektierte ich Opa und gestattete mir keine schlechten Gedanken. Ich hörte und spürte, dass das Mädchen leise weinte, und ich genoss ihre Wärme und Nähe. Dann schliefen wir ein. Keine Träume.

      Taleesha saß auf dem Campingstuhl vor dem Wohnwagen, als ich herauskam. Ich setzte mich auf die Stufen des Trailers und beide begrüßten wir den neuen Tag wie aus einem Mund: »Und jetzt?«

      Keiner wusste darauf eine Antwort. Sie warf mir die Packung Winston zu und ich steckte mir eine an. Eigentlich rauchte ich nur gelegentlich abends,