Stefan G. Wolf

Eine schräge Geschichte, die böse endet


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mir fiel ein, was ich nicht bedacht hatte.

      »Scheiße!« rief ich aus, »wir müssen ihn noch mal da rausholen.« Taleesha sah mich verständnislos an. »Ich habe nicht daran gedacht, dass wir einen Totenschein brauchen oder wie das heißt. Seine Frau, der Kiosk, sein Bankkonto, hier das Auto, der Trailer – das funktioniert ohne Totenschein nicht. Am Ende sitzen wir beide hinter Gittern, weil sie uns anhängen, wir hätten ihn umgebracht und in irgend so einen beschissenen Canyon geworfen.« Ich sah den grinsenden Sheriff von Lasolita vor mir und mir wurde schlecht.

      So machten wir uns auf, die 85 hinunter und dann, kurz vor Lukeville, quer durch die Kaktuswüste nach La Buena Vista-und-so-weiter. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich endlich den Platz wiederfand, an dem ich Opa einen Tag zuvor beerdigt hatte. Taleesha weinte, als sie den Sandhügel mit den Steinen obendrauf sah, aber es half nichts, wir mussten ihn ausgraben. Es war leichter, als ich gedacht hatte, denn die Erde war noch locker, und ihn zu sehen war nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Er war äußerlich tipptopp, als hätte er sich gerade mal für ein Nickerchen in den Schatten gelegt. Wir hoben ihn aus seinem Grab, und ich war froh, dass sich Taleesha nicht ekelte oder einen Nervenzusammenbruch bekam. Wir legten ihn auf die Rückbank und fuhren nach Osten Richtung Nogales, als wir auf einen kleinen Ort namens El Sásabe trafen. Ein mittelgroßes Dorf, aber die Straßen waren von Nord nach Süd mit Ziffern und von West nach Ost mit Buchstaben bezeichnet, als wären wir in einer amerikanischen Millionenstadt. Auf einer Straße, die Calle Tercera hieß, fuhren wir in den Ort hinein, und Taleesha entdeckte an der Ecke Calle B das Schild eines Veterinärs.

       Ich öffnete das Fliegengitter und klopfte gegen die Eingangstür. Nach ein paar Minuten erschien ein junger Mann, und ich fragte ihn, ob der Doktor zu sprechen sei.

      »Ich bin der Doktor«, sagte er, »wo steht die Kuh, das Pferd, das Schwein?«

      »Mein Opa«, sagte ich und zeigte auf den Pick-up. »Er wollte noch mal das Meer sehen, meiner Schwester und mir zeigen, wo er Großmutter zum ersten Mal geküsst hat, und dann …« Ich überließ es der Fantasie des Tierarztes, die Geschichte zu Ende zu spinnen.

      »Herzschlag?«, fragte er, ich zuckte mit den Schultern und nickte mit dem Kopf.

      »Dann hilft ihm wohl kein Einlauf«, sagte der Doktor, der ein ordentliches Amerikanisch sprach, jedenfalls glaubte ich, das Wort Clyster gehört zu haben.

      »Es geht uns um den Totenschein«, ich hatte nach dem Wort Death Certificate gesucht, sagte aber Death Licence. Der Doktor verzog jedoch keine Miene.

      »Sie müssen ihn hereinbringen«, befahl er, und so schleppten Taleesha und ich den Alten ins Sprechzimmer und legten ihn auf den Stahltisch, auf dem sonst Katzen und Hunde kastriert wurden. (Wenn ich allerdings jetzt darüber nachdenke, bin ich mir nicht sicher, ob in Mexiko jemals ein Hund oder eine Katze kastriert wurde, und wenn, dann wahrscheinlich eher nicht bei einem Veterinär mit Hochschuldiplom, das hier an der Wand hing.)

      Der Arzt drehte Opa nach links und nach rechts, offensichtlich suchte er nach den üblichen Einschusslöchern, dann fand er eine Platzwunde am Hinterkopf, und ich erklärte ihm: »Er ist hingefallen, als es passierte.« Der Doktor nickte und ließ sich auch durch die Pilotenbrille, die Opa auf den letzten Metern in der Luft auf die Stirn geschoben hatte, die wattierte Weste mit dem Abzeichen der Sky Dancers und die Chaparralblüten auf seiner Brust nicht irritieren. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, zog ein Formular aus der Schublade, das er ausfüllte, und übertrug die Daten in eine Kladde. Opas Namen und Geburtsort musste ich ihm buchstabieren, aber alles in allem waren wir zehn Minuten und fünfzig Dollar später wieder draußen.

       Eigentlich hätten wir jetzt den wenig genutzten Grenzübergang und die Arizona State Route 286 nach Norden nehmen können, aber mit Opa auf der Rückbank und der Aussicht auf ein sauber ausgehobenes Grab 25 Meilen weiter westlich fuhren wir auf demselben Weg zurück, auf dem wir gekommen waren. Opa ist, jedenfalls soweit ich weiß, das erste Familienmitglied, das innerhalb von 36 Stunden zweimal beerdigt wurde.

      Jetzt ist er weg

      Jetzt war hier unten alles erledigt, eine Nacht noch, dann würden wir uns auf den Weg machen. On the Road Again, diesmal ich hinterm Lenkrad. King of the Road. Abschied von Opa, und ich ahnte, dass es diesmal für sehr lange sein würde.

      In der Nacht schlief jeder auf seiner Seite, und als ich aufwachte, war Taleesha schon angezogen und hatte einen Becher Kaffee in der Hand. Ich stützte mich auf den Ellbogen, ließ die Jalousie am rückwärtigen Fenster hochschnellen und erschrak. Ganz deutlich waren dort Opas Hände auf der Scheibe zu sehen, so wie das aussieht, wenn Kinder mit Fingerfarben die Kindergartenfenster dekorieren, Handballen, fünf Finger, vom Daumen nur das vordere Glied, schräg zu den anderen vier. Opas Hände, grau-braun und rot. Jetzt erinnerte ich mich: Da war das Kaninchen gewesen, das hatte er geschossen, und nachdem er es ausgenommen und ihm das Fell über die Ohren gezogen hatte, war er gestolpert und hatte sich mit beiden Händen an der Scheibe abgestützt. Opas Hände, grau-braun und rot.

      »Was machst du?«, fragte Taleesha, als ich mit einem Eimer loszog, ein Slalom um übermannshohe Kakteen und überalterte Wohnwagen, um am Waschhäuschen des Coyote Howl Trailer Parks Wasser zu holen.

      »Nach was sieht’s aus?«, fragte ich zurück. Als ich wieder zum Wagen kam, hatte auch sie Opas Hände entdeckt. »Kein Gruß aus dem Jenseits«, beruhigte ich sie und erinnerte sie an den Vorfall zwei Tage zuvor.

      »Aber wir haben das gestern nicht gesehen«, wandte sie ein.

      »Weil wir müde waren«, gab ich zurück, »und wir haben auch die Jalousie nicht hochgemacht.« Ich schüttete schwallweise das Wasser über die Rückfront und Opas Hände verliefen sich über die Karosserie des Wohnwagens.

      Taleesha und ich, wir beide hatten ein gemeinsames Ziel, deshalb verschwendeten wir auch nicht mehr viele Worte und machten uns auf den Weg. Ich hängte den Wohnwagen an den Travelette und wir zuckelten los. Wir wollten beide nach New York, das hatten wir gestern Abend beschlossen. Taleesha träumte, warum sollte sie nicht? Jetzt hatte sie ja fast nichts mehr als diesen Traum, in dem sie sich in New York sah, auf einer Bühne, gern auch Broadway, singend, tanzend, vom Beifall umtost. Oh doch, sie konnte singen – I’m sorry, Paper Roses, Blue Bayou sang sie, ein wenig kehlig, aber angenehm, mit warmem Timbre. Wo hast du …? wollte ich fragen, aber sie kam mir zuvor. »Ich singe, solange ich denken kann, du weißt, alle schwarzen Mädchen fangen im Kirchenchor mit dem Singen an.« Und sie begann wieder: Precious Lord, Take My Hands.

      Ich hatte Taleesha versprochen, so weit wie möglich nach Norden zu fahren, bevor wir Richtung Ostküste abbogen, denn ein schwarzes Mädchen und ein weißer Mann auf dem Weg durch die Südstaaten, das konnte für beide böse enden. Ich hatte ein verblasstes Kartenblatt vor meinem geistigen Auge, wollte über Phoenix, Flagstaff und Albuquerque Denver ansteuern, von wo aus der Highway Nr. 70 ziemlich geradewegs nach Osten führt.

      Am ersten Tag kamen wir nur bis Holbrook, ich war es nicht gewohnt, so lange Strecken zu fahren, muss ich zugeben, also stellten wir den Wohnwagen zwischen dem Puerco River und den Eisenbahnschienen in einem Gebüsch ab. Wir hatten unterwegs ein paar Donuts gegessen, jetzt holten wir das Bier aus dem Kühlschrank und hingen einfach nur rum, dösten, wechselten ein paar Sätze, alberten, bedauerten Opa (oder Johnny, wie Taleesha sagte) und dösten wieder ein. Irgendwann wurde es kühl, wir wechselten nach drinnen, hörten Radio Phoenix (Where The Valley Comes To Talk) und schliefen schließlich auf dem Klappbett ein.

      Als ich wieder erwachte, war Taleesha schon angezogen und hatte einen Becher Kaffee in der Hand. Ich stützte mich auf den Ellbogen, ließ die Jalousie am rückwärtigen Fenster hochschnellen und erschrak. Ganz deutlich waren dort Opas Hände auf der Scheibe zu sehen, grau-braun und rot, wie die Abdrücke zweier mit Fingerfarben angemalten Hände. Ich sprang aus dem Bett und fiel fast mit der Tür nach draußen. Wir hatten uns seit gestern früh offensichtlich keinen Inch von unserem alten Stellplatz gerührt, der Wohnwagen stand abgekoppelt neben dem Pick-up zwischen den blöden Kakteen des Coyote Howl Parks. »Ganz ruhig, Schätzchen«, raunte ich Taleesha zu, als gelte es, eine Klapperschlange nicht im Schlaf zu stören.

      »Das