Stefan G. Wolf

Eine schräge Geschichte, die böse endet


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wenn ich dich so ansehe«, ich ließ meinen Blick wandern, von den Zopfspangen bis zu den roten Schuhen mit den Schleifchen, »also, wenn ich dich so ansehe, denke ich, dass Fucking nicht die angemessene Sprache für dich ist. Du siehst eher aus, als ob du deinen Teddy vermisst.«

      Dorothy riss sich die Spangen aus dem Haar, öffnete die Zöpfe, fuhr mit beiden Händen durch ihren Schopf, beugte sich vor und wieder zurück, um die ganze Pracht um ihren Kopf und auf ihren Schultern zu verteilen und sah mich von unten durch ihr Pony an: »Besser so?«

      »Definitiv«, sagte ich, »jetzt brauchst du nur noch einen Petticoat mit Polka Dots oder Jeans und so eine von den Blusen, die du überm Bauch knotest …«

      »Meingott, Männer!«, stoppte mich Taleesha. Also gut, ich hielt die Klappe und klemmte mich hinters Lenkrad. Zwei Tage, zwei Nächte, so dachte ich, dann bin ich sie endlich wieder los. Leider.

      Bald – was auf amerikanischen Highways ›bald‹ heißt – erreichten wir den Lake Michigan, und ich bog auf eine kleinere Straße ab, auf der wir dem See näher sein konnten.

      Ich muss so sieben oder acht gewesen sein, Opa gehörte noch nicht lange zu unserem Leben, da kamen wir von einem Badetag an der Ostsee zurück, Opa und ich. Schon in der Haustür platzte es aus mir heraus: »Opa ist heute übers Wasser gelaufen!«, erzählte ich aufgeregt meinen Eltern.

      Mein Vater gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf und sagte: »Du sollst nicht lügen!«

      »Aber es ist doch wahr!« Ich stampfte mit dem Fuß auf.

      Opa schaute zugleich betreten und herausfordernd. Weil er hinter mir stand, konnte ich freilich nicht sehen, wie er schaute, doch in den Augen meiner Mutter erkannte ich den Widerschein des Betretenseins und die Augen meines Vaters gaben das Spiegelbild der Herausforderung ab. »Ist doch keine große Sache«, sagte mein Opa, und meinte es beschwichtigend, doch meine Mutter antwortete umgehend: »Das wäre auch das erste Mal, dass du zu einer großen Sache fähig wärst.«

      »Na, dann schau dir aber mal den Buben an«, gab er ohne Zögern zur Antwort, und Mutter fauchte ihn an: »Kein Wort mehr, sonst hast du ihn gesehen!« Ich verstand von alledem nichts, und weil er bemerkte, dass hinter meiner Stirn eine große Frage Gestalt annahm, scheuchte Vater mich in mein Zimmer.

       Das war es, woran ich denken musste, als wir an diesem Lake Michigan entlangfuhren, der ein See ist, jedoch vom Ufer aus betrachtet so groß wie ein Meer. »Mein Opa konnte übers Wasser gehen«, sagte ich laut zu den beiden anderen, die es sich auf der Rückbank bequem gemacht hatten.

      »O Jesus!«, entfuhr es Taleesha, »ohne Scheiß jetzt?«, fragte Dorothy, und ich nickte. »Mann, cool«, fügte Dorothy hinzu und Taleesha ließ ein »Wie konnte er …« unvollendet stehen.

       »Keine große Sache«, antwortete ich mit Opas Worten, und ich weiß nicht, was mich geritten hat, aber es rutschte mir einfach so heraus: »Kann ich auch.« So kam es, dass ich an einem Donnerstag, dem 7. September 1961 über die Wasser des Michigan-Sees gewandelt bin – nur für den Fall, dass ihr eine Sekte gründen wollt, wir können das auf Franchise-Basis machen. In Amerika würde das gut laufen, da bin ich mir sicher.

       Soweit ich mich erinnern kann – mein Gott, das ist wie gesagt eine Ewigkeit her – sind wir bei Burns Harbor ans Ufer runtergegangen, und ich habe mir vorsorglich Schuhe und Strümpfe ausgezogen. Der Wind blies sanft, aber beständig aus Süden, als ich die Wasserfläche betrat. Wahrscheinlich hat sich keiner so sehr gewundert wie ich, als ich tatsächlich die ersten Schritte machte. Die kleinen Wellen kitzelten an den Fußsohlen, aber sonst war alles ok. Vom Ufer her trug der Wind die erstickten Aufschreie der beiden Mädchen heran, und ich spürte einen Flow, der mich weitertrug. Wenn man mal den ersten Schritt gemacht hat, dann geht es wie von selbst, glaubt mir.

      Ich schritt also über die Wasser des Michigan-Sees und erhob dabei – ich kann es nicht anders sagen – meine Seele zum Herrn. Es hatte etwas von einem Erweckungserlebnis, ich riss die Arme hoch, legte den Kopf in den Nacken, schaute in den Himmel, auf dem leichte weiße Wolken nach Norden getrieben wurden und immer wieder die Sonne verdeckten, und schrie so laut »Halleluja«, dass die Menschen in Chicago und Milwaukee zueinander sagten: »Hast du die Stimme vernommen, die da Halleluja gerufen hat?« Ach, was sage ich: Von Sheboygan bis Itchi-iti-kipi Spring und von Ludington bis Saint Ignace, rund um den ganzen großen See schauten sich die Menschen an, ob Amerikaner oder Kanadier oder Menschen der Ersten Nation, und lachten und sagten: »Er hat den Herrn gepriesen!«

      In diesem Augenblick entschloss sich eine Silbermöwe, einen gewaltigen Schwall Scheiße fahren zu lassen, der mich mit einer solchen überraschenden Wucht auf die Stirn traf, dass er meine Sinne benebelte. Ich hatte einen dicken weißen Misthaufen auf dem Vorderlappen meiner linken Gehirnhälfte, und mir war sofort klar, dass das nichts Spirituelles war, auch wenn es von oben kam. »Scheiße!« rief ich aus, so laut, dass … na, ihr könnt es euch denken, und die Leute in Sheboygan und Saint Ignace zuckten zusammen und kehrten schnell und ein bisschen beleidigt zu ihren alltäglichen Beschäftigungen zurück. Doch jetzt war ich aus dem Tritt gekommen, strauchelte, stolperte, und ehe ich mich versah, war ich bis zu den Waden in den Fluten eingesunken. Ich fing an, mit den Armen zu rudern, trat heftig mit den Füßen, als wollte ich Rahm zu Butter verarbeiten, doch das Michigan-Wasser blieb eine sehr flüssige Angelegenheit. Ich versank.

      Man kann sich unschwer die Gesichter der beiden Mädels vorstellen, als ich nach einem minutenlangen Kampf gegen den immer noch ablandigen Wind und die höher schlagenden Wellen das Ufer zurückgewonnen hatte. Jetzt, da ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, war ihre Besorgnis gewichen und hatte einem ganz leichten Anflug von Schadenfreude Platz gemacht, die sie meisterlich unter Ausrufen des Bedauerns und Trostes und Gesten der Fürsorge verbargen.

      »Du musst die nassen Kleider ausziehen«, befahl Taleesha, »sonst holst du dir den Tod.«

      »Ja, zieh deine Kleider aus«, nickte Dorothy beifällig.

      Die Sonne war inzwischen völlig hinter grauen Wolken verschwunden und der Wind drehte auf Ost, es war ziemlich frisch geworden. »Aber ich kann doch nicht …« Es war ein schwacher Versuch, geboren aus doppelter Scham: Als Wasserläufer versagt zu haben und mich hier vor den Augen der Mädchen meiner nassen Kleider entledigen zu sollen.

       Doch es half nichts, sie zogen und zerrten hinten und vorn, knöpften Knöpfe auf und zogen an den Ärmeln und an den Hosenbeinen, und Taleesha befahl: »alles!«, und so stand ich da, der Mann, der die Gesetze der Natur herausgefordert und beinahe besiegt hatte, und dann an einem Möwenschiss gescheitert war, nackt, nass und zitternd. Als ich bemerkte, dass Dorothy den Kopf leicht zur Seite neigte und intensiv meine unterkühlte Männlichkeit betrachtete, sprang ich ins Auto. »Einsteigen!«, rief ich, »wir fahren.«

      Ein Wiedersehen in Holiday City

      Als ich den Motor anließ, stieß der betagte Travelette eine schwarze Wolke aus und hinterließ auf der Pfütze unter dem Motorblock einen öligen Schimmer. Der Zustand der Karre bereitete mir schon seit einiger Zeit Kopfschmerzen, wir sollten so flott wie möglich unser Ziel erreichen.

      »Keine goldenen Kuppeln mehr, keine Tornados, keine spirituellen Experimente«, sagte ich, während ich folgenlos eine rote Ampel überfuhr. »Wir dürfen unser Ziel nicht aus den Augen verlieren.«

      »New York!«, rief es von der Rückbank wie aus einem Mund.

      »Ja, genau: New York«, bestätigte ich, und die beiden begannen zu singen: »Start spreadin’ the news, I’m leaving today, I want to be a part of it: New York, New York!« Auf der Ladefläche des Pick-Up flatterten meine Kleider im Wind, und ich hoffte, dass sie bis zum Abend so weit trocken sein würden, dass ich nicht länger splitterfasernackt durch Amerika fahren musste. Taleesha hatte mir eine Jacke mit einer großen rosa Schleife umgehängt, damit ich nicht zu viel Aufsehen erregte, aber wahrscheinlich erregt ein Mann, der mit bloßem Oberkörper einen Pick-up steuert, im Mittleren Westen weniger Aufsehen als einer, der dabei eine rosa Jacke trägt.

      Wir kamen an diesem Tag noch bis in die Nähe von Holiday City in Ohio, das klang