Stefan G. Wolf

Eine schräge Geschichte, die böse endet


Скачать книгу

Sie war nicht mehr ärgerlich, sondern eher verstört und fast verzweifelt. »Vilmer Iversen, würdest du mir bitte mal erklären, was das hier soll?« Es klang so unheimlich, dass ich die Treppe hinaufstieg, um nach dem Rechten zu sehen.

      »Es soll, was es ist, was es bleibt, was es wird, was es sein kann, sein muss«, hörte ich Vater streng sagen. In dem Augenblick, da ich das Zimmer betrat, warf er sich herum und setzte sich auf, schaute meine Mutter böse an und fragte: »Kann mir mal einer sagen, warum ich heute, wo ich gern ein wenig länger schlafen möchte, un-be-dingt in die blöde Kirche gehen muss?«

      Und Mutter und ich sagten wie aus einem Mund: »Weil du der Pfarrer bist!«

      Vater lachte nur, als er das hörte. »Ihr seid ja völlig verrückt.« Er warf sich in die Kissen, aus denen es dunkel hervormurmelte: »Ich, der Pfarrer, ihr müsst ja wirklich beide völlig verrückt sein.«

      Es kam dann die Zeit, in der er ab und an den Schlüssel aus der Garderobenschublade nahm und in die Kirche ging, die Kanzel bestieg und predigte. Das konnte gern an einem Dienstagvormittag sein oder einem Samstagabend, und wer draußen vorbeiging oder hinter der Kirche die Blumen auf einem Grab goss, der hörte ihn reden mit seinem schönen, klangvollen, modulierenden Bariton. Manchmal sprach er über Psalm 14 und die Torheit der Gottlosen, manchmal über die Geldwechsler im Tempel und die neue Abwasserumlage der Gemeinde, und manchmal auch über das letzte Spiel von Esbjerg gegen Odense. Wenn er alles gesagt hatte, was er glaubte sagen zu müssen, stieg er von der Kanzel herunter, ging durch die Sakristei nach draußen und schloss sorgfältig ab.

      Eines Tages kam der Bischof von Aarhus herübergefahren und schloss sich mit Vater in der Studierstube ein. Nach nur zwanzig Minuten saß er wieder in seinem Mercedes und ließ sich zurückfahren. Vater kam verwirrt zu uns in die Küche. »Er will mir eine Wohnung bei seinem Vater anbieten, versteht ihr das?« Wir sahen ihn zweifelnd an. »Doch, er hat gesagt, dass es in seines Vaters Haus viele Wohnungen gibt. Aber in den Weinberg will er mich nicht mehr schicken, da sollen jetzt andere ran, dabei hat doch das Bistum seit dem Mittelalter schon keine Weinberge mehr.« Er schüttelte den Kopf und ging nach draußen, um den Gartenzaun zu gießen.

      Das war auch die Zeit, in der er sich am Büffet der Landfrauen eine Gabel nahm und den Heringssalat direkt aus der Schüssel aß. Mutter konnte ihm gerade noch das Essbesteck entwenden, bevor er es in den Schokoladenpudding tauchte. Zuweilen ging er auch zu Olsens oder Bjarnesens oder Dahls, trat dort durch die Haustüren ein, die wie üblich bei uns im Ort ja selten verschlossen waren, setzte sich an den Wohnzimmertisch und fragte, wo das Essen bleibe. Oder er ging zu den Norups, da war es schon spät abends und alle lagen im Bett, und als sie am nächsten Morgen herunterkamen, da saß Vater im Sessel und war vor dem Fernseher eingeschlafen.

      Dass er eines Nachts, etwa um zwei oder halb drei, die Kirchenglocken läutete und erklärte, die Wikinger kämen von Dyngby her über den Storskov, war noch nicht das entscheidende Ereignis, das meine Mutter endgültig darin bestärkte, Vater wegzugeben, doch es wird immer so dargestellt. In Wirklichkeit brachte jedoch das, was drei Nächte später folgte, das Fass zum Überlaufen. Vater nämlich schlich sich wieder einmal unbemerkt nach draußen, nur mit dem leichten Sommerschlafanzug und den Hausschuhen bekleidet, und er ging geradewegs zum Haus von Derke Reenberg, jener Derke, die sich im Frauenkreis immer so hervortat mit ihrem Blumenschmuck für die Kirche und, Herr Pfarrer vorn, Herr Pfarrer hinten, immer um Vater herumschwänzelte. Sie war die Hebamme des Ortes, hatte aber selbst weder Mann noch Kind und erlaubte sich seit einiger Zeit, Vater mit seinem Vornamen anzusprechen. Sie war so adrett und ansehnlich, wie eine dänische Landfrau jenseits der Jugend sein kann, ihr Gesicht strahlte etwas Angenehmes aus, eine Zugewandtheit, wie man sie hier oben nicht überall findet, ansonsten waren ihre Brüste klein und ihr Hintern erheblich.

      Vater also, so wurde der Tatverlauf später rekonstruiert (von Mutter, nebenbei), ging zu Derke, betrat unbehelligt das Haus, stieß in der Küche zunächst gegen die Milchschüssel der beiden Katzen, drehte dann um, sich des Grundrisses erinnernd, und fand ohne Weiteres das Schlafzimmer. Derke hat sich wohl nicht gewehrt, es war vielmehr die Nacht, die ihr schon vor langer Zeit verheißen worden war. Und so entjungferte mein Vater, Pfarrer außer Dienst Vilmer Iversen, die Hebamme Derke Reenberg in ihrem achtunddreißigsten Jahr. Und soll ich was sagen: Ich habe es beiden gegönnt. Nur dass Derke den Bub, den sie neun Monate später allein entband (da muss so etwas wie Berufsstolz dabei gewesen sein) Laurens nannte, das hat mich getroffen.

      ›Hat er im Rosenborg alles, was er braucht‹, schrieb ich weiter, ›zumindest, was man ihm ohne Verletzung von Anstand und ohne großes Aufsehen zugestehen kann?‹

      Mein Blick fiel auf die ersten Worte des Briefes und ich stellte fest, dass Mutter noch nichts davon wusste, dass ihr Vater tot war. ›Liebe Mama, jetzt muss ich dir von Opa erzählen. Das mit dem Fallschirmsprung war ja sein größter Wunsch, es ging ja auch anfangs alles gut, eigentlich fast bis zum Schluss. Ich habe ihm ein schönes Grab bereitet dort unten, und ein paar Indianer waren auch dabei, ich glaube, das hätte ihm gefallen.‹

      So, jetzt war’s raus, ich atmete erleichtert auf, aber eigentlich war ja noch gar nichts passiert, denn der Brief lag noch auf meinen Knien.

      ›Liebe Mutter‹, fuhr ich also fort, ›ich freue mich darauf, bald wieder zuhause zu sein. Ich habe mir gerade eine Passage besorgt auf einem kleinen Frachtschiff. Die Piet Heyn fährt nach Rotterdam, wenn alles gut geht, bin ich spätestens in zwei Wochen bei dir. Die Überfahrt kostet mich nichts, dafür muss ich aber auch zupacken, alles was es so auf und unter Deck für einen wie mich zu tun gibt.‹

      Dann fiel mir nichts mehr ein. Ich schrieb ein paar ungelenke letzte Worte und grüßte ganz lieb, herzlich und mit Küssen. Dann steckte ich den Brief in meinen Rucksack, bis ich einen Postkasten finden würde.

      Unter Schmugglern

      Die Piet Heyn fuhr nicht nach Rotterdam. Ich bin kein Seemann und auf dem Atlantik gibt es auch keine Straßenschilder, aber mir war schnell klar: Die Piet Heyn fuhr nicht nach Rotterdam, nicht nach Antwerpen und nicht nach Hamburg, auch nicht nach Southampton oder Le Havre, sie fuhr überhaupt nicht nach Osten. Selbst wenn man wie ich die meiste Zeit unter Deck verbringen musste, hat man doch irgendwann mal die Sonne an Backbord aufgehen und an Steuerbord untergehen sehen. Wir fuhren also geradewegs nach Süden. Dennoch hielt ich an dem Tag, an dem mir das klar wurde, den Erstbesten an, der mir im Gang entgegenkam, ein kleiner Bengale mit riesengroßen Glupschaugen. Ich deutete auf den Fußboden und fragte: »Nach Rotterdam?«, gerade so als ob das der Bus von Vejlby nach Skaade sei und Tante Liv mich an der Haltestelle Fredens Kirkegaard erwartete. Er schaute mich verwirrt an und zuckte mit den Schultern. »Donnoh«, sagte er und war schon verschwunden.

      Auch die Gedanken der drei Seeleute, die mit mir die Kajüte teilten, blieben hinter den fremden Klängen ihrer Dialekte verborgen: Shkodran war Albaner, Panjang Malaie und Eduardo, den alle Eddy nannten, kam aus Chile. Vom Steuermannsmaat, einem rotblonden Schotten mit stechendem Blick, bekam ich zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben einen Tritt in den Hintern, als ich ihn nach dem nächsten Hafen fragte. Wenn mir die Richtung nicht passe, so rief er mir sinngemäß hinterher, als ich mich von den Planken aufgerappelt hatte und durch die nächste Luke unter Deck verschwand, wenn mir die Richtung nicht passe, könne ich ja von Bord gehen. Er lachte dazu noch nicht einmal!

      Eines Abends hieß es, wir sollten uns unter Deck bereithalten, gleich würden wir anlegen und dann sofort alle Mann die Ladung löschen, um am nächsten Tag die Fracht für Rotterdam aufzunehmen. Es war schon schwarze Nacht, als wir die typischen Geräusche und Schiffsbewegungen spürten, die anzeigten, dass wir angelegt hatten. Dann ging alles ganz schnell, der Schotte, der Lademeister und zwei seiner Schergen, schlimme Kerle mit stahlharten Fäusten, trieben uns an, wir wuchteten die großen Holzkisten an Deck und dann, immer zu zweit, über die Gangway auf den Kai, wo ein paar dunkle Gestalten sie sofort auf einem Lastwagen stapelten. Bei aller Hetze und Mühe bekam ich doch mit, dass der ganze Bereich des Hafens nur von ein paar schwachen Laternen beleuchtet wurde, die kaum heller waren als der Vollmond, der am wolkenlosen Himmel stand.

      Ich hatte gerade meine dritte Kiste abgesetzt, da brach die Hölle los: Von allen Seiten stürmten Männer in Uniform