Stefan G. Wolf

Eine schräge Geschichte, die böse endet


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wir Männer sicherten das Lager rechts und links.

      Als ich morgens aufwachte, lagen alle noch so da, wie sie sich abends gebettet hatten, außer Dorothy. Sie war nach unten vom Bett gerutscht und hatte gerade ihr Badetuch fallen lassen, als ich die Augen öffnete. Sie war bemüht, kein Geräusch zu machen, und ich beschloss, es ihr gleichzutun, um den Anblick niemals zu vergessen, dieses Zwielicht aus Herbstnebel, Sonnenaufgang und Eibendickicht, das einen Streifen Glanz auf ihren jugendlichen Körper und auf ihr reizendes Gesicht zauberte, auf ihre, ja, verdammt noch mal, wenn es doch so war: rosigen Wangen, ihre wunderschön geschwungenen Lippen, ihre glatte hohe Stirn, hinter der sie ganz kindlich vertieft war in das, was sie tat. Sie schaute an sich hinunter, wiegte sich dabei in der Hüfte, und sah plötzlich zum Bett herüber, da trafen sich unsere Blicke. Sie hielt einen Moment inne, für den Bruchteil einer Sekunde aus ihren Gedanken gerissen und erschrocken, dann drehte sie sich mir zu, breitete die Arme aus, lächelte fast unmerklich und verschwand im Bad.

      Als wir uns New York näherten, so etwa nach den letzten Hügeln vor Roxbury, wurde der Verkehr dichter und die Bebauung ebenfalls. »He, Leute«, sagte ich, »wir machen’s so: Ich habe keine Lust mit der Karre durch New York zu kreuzen, außerdem brauche ich das Geld, das ich noch dafür kriegen kann, so lange die Kiste überhaupt noch einen Stoffwechsel hat. Ich verkaufe den Wagen, bevor wir in die Stadt reinfahren, und wir nehmen dann den Bus.« Alle fügten sich in ihr Schicksal, und ich glaube, sie waren viel zu sehr mit ihrer ferneren Zukunft beschäftigt, als dass sie über solche naheliegenden praktischen Dinge nachdenken wollten.

      Für den Wagen bekam ich in Hackensack dreihundert Dollar. Vom Ortsschild an (Hackensack, pop. 32,127 – A City In Motion) konnte ich mich vier Blocks lang vor Lachen nicht halten: Hackensack, wie bescheuert klang das denn! Da wusste ich noch nicht, dass der Autohändler, der die Karre mit verkniffener Mine begutachtete und jedes Stäubchen auf dem Blech in Abzug brachte, Walter John Sackenhack hieß. Trusted Cars and a Trusted Name: Sackenhack in Hackensack.

      Von Hackensack ist es nur noch ein Katzensprung über den Hudson hinein ins pralle Menschenleben New Yorks. Wir stiegen am Grand Central aus, und ich folgte den anderen wie ein herrenloser Hund, als sie wie besoffen durch die Straßen torkelten, immer mit dem Kopf im Nacken und Aahs und Oohs und Guck-mal-das und He!-Habt-ihr-gesehen? Irgendwann war ich’s leid. »Leute, macht ihr allein weiter, wir treffen uns in zwei Stunden genau hier, könnt ihr euch das merken? Broadway« – ich zeigte die Straße hinauf – »Canal Street« – ich bewegte die Arme von rechts nach links. »Genau hier! Habt ihr verstanden?« Alle nickten.

      Und was soll ich sagen? Sie waren pünktlich alle wieder am vereinbarten Treffpunkt. »Prima!«, lobte ich, »erste Aufgabe bestanden«. Gemeinsam schlenderten wir nach Süden, bogen irgendwo Richtung Hudson ab und suchten uns ein Diner, denn es war schon später Nachmittag. Inmitten all der Radiogeschäfte und -reparaturläden auf der Cortlandt Street fanden wir einen Deli, der Kosher Knish, Lachsbagel, Corned Beef-Pastrami-Sandwich mit sauren Gürkchen und solche Sachen anbot. »Was ist denn Knockwurst?«, fragte Dorothy, »und Kreplach Soup?«, fragte Hunk. »Ich weiß nicht«, sagte ich, »bestellt’s, dann seht ihr’s, oder esst, was ihr kennt.«

      Für den Abend hatte jeder einen anderen Plan: Dorothy wollte unbedingt ins Kino, Hunk auf das Empire State Building und Taleesha hatte einen Jazz Club gefunden, wo sie SCHON DIREKT HEUTE ABEND vorsingen sollte. Ich hatte mittlerweile herausgefunden, dass es tatsächlich eine Yellow Brick Road gab.

      »Taleesha muss wissen, was sie tut, aber ihr zwei solltet euch in die Bahn setzen und nach Northport gondeln, das ist auf Long Island und da ist nämlich diese Straße, in der Onkel Ozzy wohnen soll. Je früher, umso besser«, und ich dachte: das gilt für Erfolg wie für Enttäuschung.

      »Und du?«, fragten alle wie aus einem Mund.

      »Ich werde sehen, dass ich noch heute ein Schiff finde, dass einen Seemann wie mich braucht, um nach Europa zurückzuschippern.«

       Waren wir Freunde? Keine Ahnung, wir hatten wahrscheinlich nicht ausreichend Gelegenheit gehabt, das auszuprobieren, obgleich wir uns ja nah genug gekommen waren (der eine mehr, der andere weniger). Taleesha, der Opa und ich, das war die eine Geschichte, Dorothy, vom Winde verweht, und ihr seltsamer Lover, das war eine andere. Und alle hatten wir den Anfang eines langen Fadens in der Hand. Irgendwo dort, ein paar Handbreit oder ein paar Armlängen weiter mochten sich die Fäden verwirren oder es wartete jemand mit einer scharfen Schere. Vielleicht war es aber auch dem einen oder anderen vergönnt, Hand über Hand die Spule abzuwickeln, bis der Faden auf natürliche Weise aufgebraucht war.

      Ob wir uns noch mal wiedersehen, fragte ausgerechnet Hunk, dem ich so viel Empfindsamkeit und Weitblick gar nicht zugetraut hätte. Niemand antwortete darauf sofort. Nach einer Weile sagte ich: »Ok, so machen wir’s! Hier, genau hier, und zwar am selben Tag in … wie vielen Jahren?«

      »Fünf«, rief Dorothy in die Runde, aber Taleesha gab zu bedenken, dass wir das wohl nicht schaffen würden, »ich meine, Laurens muss ja extra übers Meer kommen, und in fünf Jahren ist ja wahrscheinlich auch noch nicht so viel passiert.«

       Mein Blick fiel auf die Menükarte vor uns auf dem Tisch. 40 Jahre Jaffah Kosher Deli stand oben drauf. »Was haltet ihr von vierzig Jahren? Mit Kindern, Gehhilfe und falschen Zähnen!« Alle lachten. »Ja, so machen wir’s, aber dann schon zum Frühstück, damit wir genügend Zeit haben«, – »ja, ja zum Frühstück, so halb neun, neun, am 11. September 2001«, (»du meine Güte: geht das denn überhaupt, ich meine das mit den Zweitausend?«, gab Dorothy zu bedenken), »genau hier in der Cortlandt Street 17. Das wird bestimmt ein Mordsspaß!«.

      Liebe Mama!

      Mutter hatte schon lange nichts mehr von mir gehört, und deswegen dachte ich, es wäre ganz gut, wenn ich ihr jetzt mal einen Brief schriebe, bevor ich wieder aufs Schiff gehe. Seit Vater im Rosenborg war, ging es ihr zwar besser, aber sie war doch ziemlich allein, na ja, das Ganze hat sie einige Freundschaften im Ort gekostet.

      Ich hatte mir Schreibpapier besorgt und mich in den Batterypark gesetzt, geradewegs mit Blick auf die Freiheitsstatue, und ich begann zu schreiben.

      ›Liebe Mama, ich bin jetzt wieder in New York und denke, dass ich bald eine Passage über den Teich bekomme, dann komme ich erst mal nach Hause. Seit ich ohne Opa unterwegs bin, ist viel passiert, aber das erzähle ich dir, wenn wir uns wiedersehen, und das wird ja schon bald sein. Ich hatte nette Reisegesellschaft, so ist es mir auf der Fahrt hierher nicht langweilig geworden.‹

      Ich hielt inne. So weit, so gut. Ich wollte bewusst nichts von den Mädchen schreiben, sonst würde sie sich alles Mögliche ausdenken.

      Weiter geht’s.

      ›Ich soll dich auch schön von Großtante Margret, Tante Mabel, Onkel Jasper und von Kiley und Kirk und Pete und allen, die du nicht kennst, grüßen. Ich habe sie zweimal besucht, einmal auf dem Hinweg in den Süden und einmal auf dem Rückweg. Es geht ihnen allen gut.‹ Schon seltsam: Da kennt man die Verwandtschaft jahrelang nur aus Briefen und kleinen Schwarz-Weiß-Fotos, und dann liegt man sich eines Tages in den Armen, als sei ein Sonntagnachmittagbesuch in Iowa das Selbstverständlichste auf der Welt.

      ›Wie geht es eigentlich Vater? Hat er sich eingelebt im Rosenborg? Sind die Schwestern nett?‹

       Ja, Vater, das war so eine Geschichte für sich. Eines Sonntagmorgens vor etwa anderthalb Jahren haben wir uns für den Kirchgang zurecht gemacht, ich hatte eine Tasse Kaffee im Stehen, half Mutter, die Knöpfe ihres Kleides auf dem Rücken zuzumachen, zog schon meine Schuhe an, da hörte ich aus dem Elternschlafzimmer, wie sie mit Vater laut wurde.

      »Du musst jetzt endlich mal aufstehen, Vilmer, wir sind schon fast fertig und du liegst noch im Bett«, fuhr Mutter ihn an.

      »Lass mich!«, antwortete Vater, deutlich leiser und ein wenig matt.

      »Ich kann dich aber nicht lassen, ich muss dir jetzt die Decke wegziehen«, und dann hörte ich einen Aufschrei meines Vaters.

      »Gib mir die Decke zurück, was soll das denn, du gemeine Frau. Lass mir meine Ruhe!«

      Nach