Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


Скачать книгу

      »Wissen Sie wohl, daß ich hierher gekommen bin, um Bäume zu sehen? Diese Bäume hier ...« Er wies auf die Bäume des Parks. »Ist das nicht lächerlich, wie? Eigentlich ist dabei doch nichts lächerlich?« fragte er Lisaweta Prokofjewna ernst und überließ sich wieder seinen Gedanken. Dann, einen Augenblick darauf, hob er den Kopf in die Höhe und begann eifrig mit den Augen unter den Anwesenden zu suchen. Er suchte Jewgeni Pawlowitsch, der ganz in der Nähe, rechts von ihm, auf demselben Fleck stand wie vorher; aber er hatte das schon vergessen und suchte ihn ringsumher. »Ah, Sie sind nicht fortgegangen!« sagte er, als er ihn endlich gefunden hatte; »Sie haben sich vorhin darüber lustig gemacht, daß ich eine Viertelstunde lang aus dem Fenster sprechen wollte ... Aber wissen Sie, daß ich noch nicht achtzehn Jahre alt bin: ich habe so viel auf dem Bett gelegen und so viel durch dieses Fenster geschaut und so viel nachgedacht ... über alles mögliche ... daß ... Ein Toter hat kein Alter, wie Sie wissen; noch in der vorigen Woche habe ich darüber nachgedacht, als ich in der Nacht aufgewacht war ... Wissen Sie aber, was Sie am meisten fürchten? Am meisten fürchten Sie unsere Aufrichtigkeit, obwohl Sie uns verachten! Auch das habe ich damals in der Nacht im Bett überlegt ... Sie meinen, ich hätte mich vorhin über Sie lustig machen wollen, Lisaweta Prokofjewna? Nein, ich habe mich nicht über Sie lustig gemacht; ich wollte Sie nur loben ... Kolja hat mir gesagt, der Fürst habe Sie ein Kind genannt ... Das ist eine richtige Bezeichnung ... Ja, was hatte ich doch noch ... ich wollte noch etwas sagen ...« Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und dachte nach. »Das war's: als Sie vorhin Abschied nahmen, da dachte ich auf einmal: da sind nun diese Menschen, und sie werden für immer vergehen, für immer! Und diese Bäume auch. Nur die Backsteinwand wird bestehen bleiben, die rote Backsteinwand des Meyerschen Hauses meinem Fenster gegenüber ... Nun, sprich ihnen einmal von alledem ... versuche es, rede davon; da ist ein schönes Mädchen ... du bist ja ein Toter; stelle dich als einen Toten vor; sage, daß ein Toter alles sagen darf ... und daß es ihn nicht mehr kümmert, ob die Fürstin Marja Alexejewna schilt, haha ...! Sie lachen doch nicht?« Er ließ seinen Blick mißtrauisch über alle hinschweifen. »Wissen Sie, wenn ich so im Bett lag, da kamen mir viele Gedanken ... wissen Sie, ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß die Natur sehr spottlustig ist ... Sie sagten vorhin, ich sei ein Atheist; aber wissen Sie, die Natur ... Warum lachen Sie wieder? Sie sind furchtbar grausam!« sagte er traurig und unwillig, indem er alle ringsumher ansah. »Ich habe Kolja nicht verdorben«, schloß er in völlig verändertem, ernstem Ton, im Ton fester Überzeugung, als ob ihm auch dies eben einfiele ...

      »Niemand, niemand lacht hier über dich; beruhige dich!« sagte Lisaweta Prokofjewna; man konnte ihr die innere Qual anhören. »Morgen wird ein neuer Arzt zu dir kommen; dein bisheriger hat sich geirrt. Aber so setze dich doch; du kannst ja nicht auf den Beinen stehen! Du redest wirr ... Ach, was sollen wir jetzt mit ihm anfangen?« sagte sie, indem sie ihn eifrig veranlassen wollte, sich auf einen Lehnstuhl zu setzen ...

      Eine Träne glitzerte auf ihrer Wange.

      Ippolit blieb überrascht stehen; dann hob er den Arm in die Höhe, streckte ihn furchtsam aus und berührte mit der Hand diese Träne. Er lächelte in kindlicher Art.

      »Ich ... habe Sie ...«, begann er erfreut, »Sie wissen nicht, wie ich Sie ... er hat immer mit solcher Begeisterung mit mir von Ihnen gesprochen, er, Kolja ... ich liebe seine Begeisterung. Ich habe ihn nicht verdorben! Er ist der einzige Freund, den ich zurücklasse ... ich hätte gern alle Menschen als meine Freunde zurückgelassen, alle; aber ich habe keinen zum Freund gewinnen können, keinen ... Ich wollte wirken und schaffen; ich hatte ein Recht darauf ... Oh, wie vieles wollte ich! Jetzt will ich nichts mehr; ich will nichts mehr wollen; ich habe mir das Wort darauf gegeben, nichts mehr zu wollen; mögen Sie jetzt ohne mich die Wahrheit suchen! Ja, die Natur ist spottlustig! Warum«, fuhr er, plötzlich lebhafter werdend, fort, »warum schafft sie die besten Wesen, um sich dann über sie lustig zu machen? Sie hat den Menschen das einzige Wesen gezeigt, das auf der Erde als vollkommen anerkannt wurde, und hat gerade dieses Wesen dazu prädestiniert, Lehren zu verkünden, infolge deren so viel Blut vergossen worden ist, daß, wenn es alles auf einmal vergossen worden wäre, die Menschen darin hätten ertrinken können! Oh, es ist gut, daß ich sterbe! Ich hätte auch vielleicht irgendeine furchtbare Lüge gesagt; die Natur würde es schon so eingerichtet haben ...! Ich habe niemand verdorben ... Ich wollte leben, um das Glück aller Menschen zu fördern, um die Wahrheit zu entdecken und zu verkünden ... Ich blickte durch das Fenster nach der Meyerschen Mauer und dachte, ich brauchte nur eine Viertelstunde zu reden, dann würde ich alle, alle überzeugen; und nun bin ich einmal im Leben mit Menschen zusammengekommen, wenn auch nicht mit vielen Menschen, so doch mit Ihnen, und was ist nun das Resultat? Nichts! Das Resultat ist, daß Sie mich verachten! Also bin ich ein Dummkopf; also tauge ich nichts; also ist es Zeit, daß ich gehe! Und ich habe es nicht verstanden, irgendwelche Erinnerung an mich zurückzulassen! Kein Laut, keine Spur, keine Tat bleibt von mir zurück; keine einzige Überzeugung habe ich verbreitet ...! Lachen Sie nicht über den Toren! Vergessen Sie mich! Vergessen Sie alles ... vergessen Sie, bitte; seien Sie nicht so grausam! Wissen Sie, wenn sich diese Schwindsucht nicht eingestellt hätte, hätte ich mir selbst das Leben genommen ...«

      Er schien noch vieles sagen zu wollen; aber er sprach nicht zu Ende, warf sich in den Lehnstuhl, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte wie ein kleines Kind.

      »Na, nun sagen Sie bloß, was soll man nun mit ihm anfangen?« rief Lisaweta Prokofjewna, stürzte auf ihn zu, faßte seinen Kopf und drückte ihn fest, ganz fest gegen ihre Brust. Er schluchzte krampfhaft. »Nun, nun, nun! Nun, weine nur nicht; nun, laß nur gut sein; du bist ein guter Junge; Gott wird dir wegen deiner Unwissenheit verzeihen; nun, hör nur auf; zeige dich mannhaft ...! Sonst mußt du dich ja auch schämen!«

      »Ich habe da bei uns zu Hause«, redete Ippolit weiter, indem er mit Anstrengung den Kopf ein wenig in die Höhe hob, »ich habe einen Bruder und zwei Schwestern, kleine, arme, unschuldige Kinder ... Sie wird sie verderben! Sie sind eine Heilige; Sie sind selbst ein Kind; retten Sie sie! Entreißen Sie sie dieser ... sie ist ... es ist eine Schande ... Oh, helfen Sie ihnen, helfen Sie ihnen; Gott wird es Ihnen hundertfach vergelten. Helfen Sie um Gottes willen, um Christi willen ...!«

      »Nun sagen Sie doch endlich, Iwan Fjodorowitsch, was jetzt geschehen soll!« rief Lisaweta Prokofjewna in gereiztem Ton. »Tun Sie mir den Gefallen und brechen Sie Ihr majestätisches Schweigen! Wenn Sie keine Entscheidung treffen, so mögen Sie wissen, daß ich selbst hierbleiben und hier übernachten werde; Sie haben mich genug mit Ihrer Herrschsucht tyrannisiert!«

      Solche lebhaften, zornigen Fragen waren bei Lisaweta Prokofjewna nichts Seltenes; sie erwartete dann eine sofortige Antwort. Aber in ähnlichen Fällen pflegen die meisten Anwesenden, auch wenn ihrer viele sind, mit Stillschweigen und passiver Neugier zu antworten, ohne daß sie Verlangen trügen, eine verantwortliche Tätigkeit zu übernehmen; ihre Gedanken sprechen sie dann erst lange nachher aus. Unter den hier Anwesenden befanden sich auch einige, die bereit waren, ohne ein Wort zu sagen, nötigenfalls bis zum Morgen da zu sitzen, zum Beispiel Warwara Ardalionowna, die den ganzen Abend über schweigsam in einiger Entfernung gesessen und während der ganzen Zeit mit außerordentlichem Interesse zugehört hatte, wozu sie vielleicht ihre besonderen Gründe hatte.

      »Meine Meinung, liebe Frau«, versetzte der General, »geht dahin, daß hier jetzt sozusagen eine Krankenwärterin besser angebracht wäre als wir mit unserer Aufregung, und vielleicht außerdem noch ein zuverlässiger, nüchterner Mensch für die Nacht. Jedenfalls müssen wir den Fürsten danach fragen und ... ihm dann sofort Ruhe gönnen. Morgen können wir ja unsere Teilnahme weiter betätigen.«

      »Es ist gleich zwölf Uhr; wir wollen fahren. Soll er nun mit uns mitfahren oder bei Ihnen bleiben?« wandte sich Doktorenko gereizt und ärgerlich an den Fürsten.

      »Wenn Sie wollen, können auch Sie bei ihm hierbleiben«, antwortete der Fürst. »Es wird Platz genug da sein.«

      »Exzellenz«, sagte unerwartet Herr Keller, der rasch und eifrig an den General herantrat, »wenn ein zuverlässiger Mensch für die Nacht erforderlich ist, so bin ich bereit, für meinen Freund dieses Opfer zu bringen ... er ist eine ganz herrliche Seele! Ich halte ihn schon lange für einen bedeutenden Menschen, Exzellenz! Meine eigene Bildung ist ja natürlich nur mangelhaft; aber wenn er etwas