Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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viele Charakterzüge, denen nachzuforschen wirklich der Mühe lohnt, und ich werde es mir nie verzeihen, daß ich ihn früher nicht verstanden habe ... Ich weiß nicht, ob ich jetzt nach der Geschichte mit Warja den Verkehr bei Jepantschins fortsetzen soll. Allerdings habe ich dort gleich von Anfang an eine ganz unabhängige, rein persönliche Stellung eingenommen; aber ich muß mir die Sache doch erst noch überlegen.«

      »Sie bedauern Ihren Bruder unnötigerweise so sehr«, erwiderte ihm der Fürst. »Wenn es schon so weit gekommen ist, daß Lisaweta Prokofjewna eine derartige Maßregel für notwendig hält, so muß Gawrila Ardalionowitsch in ihren Augen gefährlich sein, und folglich erscheinen gewisse Hoffnungen, die er hegt, nicht unbegründet.«

      »Was denn für Hoffnungen?« rief Kolja erstaunt. »Sie glauben doch nicht, daß Aglaja ... Das ist nicht möglich!«

      Der Fürst schwieg.

      »Sie sind ein schrecklicher Skeptiker, Fürst«, fügte Kolja ein paar Minuten darauf hinzu. »Ich habe bemerkt, daß Sie seit einiger Zeit außerordentlich skeptisch geworden sind; Sie fangen an, an nichts zu glauben und alles für möglich zu halten ... Habe ich die Bezeichnung ›ein Skeptiker‹ in diesem Fall richtig angewendet?«

      »Ich glaube: ja. Genau weiß ich es allerdings selbst nicht.«

      »Aber nun widerrufe ich selbst die Bezeichnung als Skeptiker!« rief Kolja auf einmal. »Sie sind kein Skeptiker, sondern eifersüchtig! Sie sind auf Ganja eines gewissen stolzen Mädchens wegen höllisch eifersüchtig!«

      Nach diesen Worten sprang Kolja auf und lachte so herzlich, wie er es vielleicht in seinem Leben noch nie getan hatte. Als er sah, daß der Fürst ganz rot geworden war, steigerte sich sein Lachen noch; der Gedanke, daß der Fürst Aglajas wegen eifersüchtig war, machte ihm den größten Spaß; aber er verstummte sofort, als er bemerkte, daß dieser sich wirklich gekränkt fühlte. Darauf führten sie noch eine oder anderthalb Stunden lang ein sehr ernstes, beratendes Gespräch miteinander.

      Am andern Tag verbrachte der Fürst wegen eines unaufschiebbaren Geschäfts den ganzen Vormittag in Petersburg. Als er (es war schon bald fünf Uhr nachmittags) nach Pawlowsk zurückkehrte, traf er auf dem Bahnhof mit Iwan Fjodorowitsch zusammen. Dieser ergriff ihn schnell bei der Hand, blickte sich ringsum, wie wenn er etwas fürchtete, und zog den Fürsten mit sich in einen Waggon erster Klasse, um mit ihm zusammen zu fahren. Er brannte vor Verlangen, mit ihm über einen wichtigen Punkt zu sprechen. »Erstens, lieber Fürst, sei nicht böse auf mich, und wenn ich mich meinerseits nicht richtig verhalten habe, so vergiß das! Ich wäre gestern schon selbst zu dir gekommen; aber ich wußte nicht, wie Lisaweta Prokofjewna das aufnehmen würde. Bei mir zu Hause ist die reine Hölle; eine rätselhafte Sphinx hat sich da niedergelassen, und ich gehe umher, ohne etwas zu verstehen. Was aber dich anlangt, so trägst du meines Erachtens weniger Schuld als wir alle, wiewohl natürlich vieles um deinetwillen so gekommen ist. Du siehst, Fürst, es ist ein Vergnügen, ein Philanthrop zu sein, aber kein sehr großes. Du hast wohl selbst schon die Früchte davon zu schmecken bekommen. Ich habe natürlich Herzensgüte sehr gern und schätze Lisaweta Prokofjewna sehr hoch, aber ...«

      Der General fuhr noch lange fort, in dieser Weise zu reden; aber seine Worte waren in wunderlicher Weise unzusammenhängend. Es war klar, daß er durch etwas ihm völlig Unverständliches stark erschüttert und in arge Verwirrung versetzt worden war.

      »Für mich unterliegt es keinem Zweifel, daß du damit nichts zu schaffen hast«, drückte er sich endlich deutlicher aus. »Aber ich bitte dich in aller Freundschaft, uns eine Zeitlang nicht zu besuchen, bis sich der Wind gedreht haben wird. Was aber Jewgeni Pawlowitsch anbetrifft«, rief er mit ungewöhnlicher Wärme, »so ist das alles sinnlose Verleumdung, Verleumdung schlimmster Art! Es ist Anschwärzung; da steckt eine Intrige dahinter, der Wunsch, alles über den Haufen zu stürzen und uns zu entzweien. Siehst du, Fürst, ich sage dir im Vertrauen: zwischen uns und Jewgeni Pawlowitsch ist noch kein deutliches Wort gesprochen worden. Wir sind in keiner Weise gebunden; aber ein solches Wort kann gesprochen werden und sogar vielleicht sehr bald! Darum wollte man ihm schaden! Aber welchen Zweck das Ganze eigentlich verfolgt, das kann ich nicht begreifen! Sie ist ein wunderbares Weib, ein exzentrisches Weib; ich fürchte mich vor ihr so sehr, daß ich kaum schlafen kann. Und was hat sie für eine Equipage! Diese Schimmel! Das ist ja großartig; das ist genau das, was man im Französischen chic nennt! Wer bezahlt das für sie? Ich habe mich wahrhaftig versündigt und vorgestern gedacht, am Ende tue es Jewgeni Pawlowitsch. Aber es stellt sich heraus, daß das unmöglich ist; wenn das aber unmöglich ist, warum will sie dann diese Sache hintertreiben? Das ist das Rätsel! Um Jewgeni Pawlowitsch für sich zu behalten? Aber ich wiederhole dir und bekreuze mich dabei, daß er mit ihr nicht bekannt ist, und daß diese Wechsel pure Erfindung sind! Und mit welcher Frechheit sie ihn über die Straße weg duzte! Das ist ja die reine Tücke! Es ist klar, daß man diese Verleumdung verächtlich zurückweisen und dem beleidigten Jewgeni Pawlowitsch mit verdoppelter Achtung begegnen muß. Das habe ich auch zu Lisaweta Prokofjewna gesagt. Jetzt will ich dir meinen allergeheimsten Gedanken mitteilen: ich bin fest überzeugt, daß sie das getan hat, um sich an mir persönlich zu rächen, du erinnerst dich wohl, wegen meiner früheren Beziehungen zu ihr, wiewohl ich mir nie ihr gegenüber auch nur das geringste habe zuschulden kommen lassen. Ich erröte bei der bloßen Erinnerung. Jetzt ist sie nun wieder aufgetaucht; ich hatte schon gedacht, sie wäre für immer verschwunden. Sag mal, bitte, wo steckt denn eigentlich dieser Rogoschin? Ich dachte, sie wäre schon längst seine Frau.«

      Kurz, der Mann war mit seinem Denken völlig in Unordnung geraten. Fast die ganze Stunde über, die die Fahrt dauerte, redete er allein, warf Fragen auf, die er dann selbst beantwortete, drückte dem Fürsten die Hand und überzeugte diesen wenigstens davon, daß er nicht daran dachte, ihn irgendwie im Verdacht zu haben. Das war dem Fürsten wichtig. Zuletzt erzählte er von Jewgeni Pawlowitschs Onkel, dem Chef einer Ministerialabteilung in Petersburg; »er bekleidet ein hohes Amt, ist siebzig Jahre alt, ein Lebemann, ein Gourmand und läßt sich trotz seiner Jahre noch leicht verlocken. Haha! Ich weiß, daß er von Nastasja Filippowna gehört und sich sogar um sie bemüht hat. Ich sprach vorhin bei ihm vor; aber er empfängt nicht, er ist unpäßlich. Aber er ist reich, schwerreich, besitzt großen Einfluß und ... Nun, Gott gebe ihm Gesundheit und noch ein langes Leben; aber irgendeinmal fällt doch alles Jewgeni Pawlowitsch zu ... Ja, ja ... aber doch ängstige ich mich! Ich weiß nicht, wovor; aber ich ängstige mich ... Es ist, als ob etwas in der Luft schwebte wie eine Fledermaus; es ist ein Unheil im Anzug, und ich ängstige mich, ich ängstige mich ...!«

      Endlich, erst am dritten Tag, wie schon oben gesagt, erfolgte die förmliche Aussöhnung der Familie Jepantschin mit dem Fürsten Ljow Nikolajewitsch.

      Es war sieben Uhr abends; der Fürst wollte eben in den Park gehen.

      Auf einmal kam Lisaweta Prokofjewna ganz allein zu ihm in die Veranda.

      »Erstens, bilde dir nicht ein«, begann sie, »daß ich gekommen wäre, dich um Verzeihung zu bitten! Unsinn! Du allein trägst die ganze Schuld.«

      Der Fürst schwieg.

      »Trägst du die Schuld?«

      »In demselben Maße wie Sie. Übrigens haben weder Sie noch ich in irgendeiner Hinsicht uns absichtlich schuldig gemacht. Ich hielt mich vorgestern für schuldig; aber jetzt bin ich doch anderer Ansicht geworden und meine, daß dem nicht so ist.«

      »Also so denkst du darüber! Nun gut; höre zu und setze dich; denn ich beabsichtige nicht zu stehen.«

      Beide setzten sich.

      »Zweitens, kein Wort von den boshaften Burschen! Ich werde zehn Minuten hierbleiben und mit dir reden; ich bin hergekommen, um dich nach etwas zu fragen (du dachtest wohl schon, ich sei aus Gott weiß was für einem Grund gekommen?), und wenn du der dreisten Burschen auch nur mit einem Wort Erwähnung tust, so stehe ich auf und gehe weg und breche jeden Verkehr mit dir ab.«

      »Gut«, antwortete der Fürst.

      »Gestatte die Frage: hast du vor zwei oder eineinhalb Monaten, um Ostern herum, an Aglaja einen Brief geschrieben?«