Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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lachten.

      »Trauen Sie dem!« sagte Adelaida. »Jewgeni Pawlowitsch hat immer alle Leute zum besten! Wenn Sie wüßten, was für Dinge er manchmal mit dem größten Ernst erzählt!«

      »Meiner Ansicht nach ist das Gespräch peinlich, und wir hätten es gar nicht anfangen sollen«, bemerkte Alexandra in scharfem Ton. »Wir wollten doch spazierengehen ...«

      »Gehen wir! Der Abend ist wunderschön!« rief Jewgeni Pawlowitsch. »Aber um Ihnen zu beweisen, daß ich dieses Mal ganz ernst geredet habe, und namentlich um es dem Fürsten zu beweisen (Sie interessieren mich außerordentlich, Fürst, und ich schwöre Ihnen: ein so oberflächlicher Mensch, wie es notwendigerweise den Anschein hat, bin ich denn doch nicht, wiewohl ich wirklich oberflächlich bin!), zu diesem Zweck, meine Herrschaften, möchte ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis dem Fürsten noch eine letzte Frage vorlegen, aus reiner Neugier, und damit wollen wir dann die Sache abgetan sein lassen. Diese Frage ist mir, was sich sehr gut trifft, vor zwei Stunden in den Kopf gekommen (sehen Sie wohl, Fürst, auch ich denke manchmal über ernste Dinge nach); ich habe sie mir beantwortet; aber wir wollen sehen, was der Fürst dazu sagt. Es war soeben von einem ›vereinzelten Fall‹ die Rede. Dieser Ausdruck hat bei uns in Rußland eine große Wichtigkeit erlangt, und man hört ihn recht oft. Neulich redeten und schrieben alle Leute von jenem schrecklichen Mord, den ein junger Mann an sechs Menschen begangen hatte, und von der seltsamen Rede des Verteidigers, in der dieser gesagt hatte, dem Verbrecher habe bei seinen ärmlichen Verhältnissen ›naturgemäß‹ der Gedanke in den Kopf kommen müssen, diese sechs Menschen zu ermorden. Das war wohl nicht der Wortlaut, aber der Sinn war doch dieser oder ein ähnlicher. Meiner persönlichen Ansicht nach war der Verteidiger, als er diese sonderbare Anschauung vorbrachte, der festen Überzeugung, den liberalsten, humansten, fortschrittlichsten Gedanken ausgesprochen zu haben, den man nur überhaupt in unserer Zeit äußern kann. Nun also, wie verhält es sich damit Ihrer Ansicht nach: ist diese Verdrehung der Begriffe und Meinungen, die Möglichkeit einer so merkwürdig schiefen Auffassung der Sache ein vereinzelter Fall oder die Regel?«

      Alle lachten.

      »Ein vereinzelter Fall; selbstverständlich ein vereinzelter Fall!« riefen Alexandra und Adelaida lachend.

      »Mit deiner Erlaubnis möchte ich dich daran erinnern, Jewgeni Pawlowitsch«, fügte Fürst Schtsch. hinzu, »daß dein Scherz schon sehr abgenutzt ist.«

      »Wie denken Sie darüber, Fürst?« fragte, ohne darauf hinzuhören, Jewgeni Pawlowitsch, welcher wahrnahm, daß ihn Fürst Ljow Nikolajewitsch mit ernstem Interesse anblickte. »Was meinen Sie: war das ein vereinzelter Fall oder die Regel? Ich muß bekennen, daß ich mir diese Frage speziell für Sie zurechtgelegt habe.«

      »Nein, das war kein vereinzelter Fall«, antwortete der Fürst leise, aber mit fester Stimme.

      »Aber ich bitte Sie, Ljow Nikolajewitsch«, rief Fürst Schtsch. ein wenig ärgerlich; »sehen Sie denn nicht, daß er Ihnen eine Falle stellt? Er lacht sicher innerlich und beabsichtigt, sich gerade über Sie lustig zu machen.«

      »Ich glaubte, Jewgeni Pawlowitsch spräche im Ernst«, versetzte der Fürst errötend und schlug die Augen nieder.

      »Lieber Fürst«, fuhr Fürst Schtsch. fort, »denken Sie doch an ein Gespräch, das wir beide einmal vor drei Monaten führten; wir sprachen namentlich darüber, daß sich bei unseren jungen, neu eröffneten Gerichten bereits so viele beachtenswerte, talentvolle Verteidiger finden. Und wie viele im höchsten Grade beachtenswerte Urteile sind von unseren Geschworenen gefällt worden? Wie haben Sie selbst sich gefreut, und wie habe ich mich damals über Ihre Freude gefreut ...! Wir sagten, daß wir Anlaß hätten, stolz zu sein ... Aber diese ungeschickte Verteidigung, dieses sonderbare Argument ist sicherlich nur etwas Zufälliges, ein vereinzelter Fall unter Tausenden.«

      Fürst Ljow Nikolajewitsch dachte einen Augenblick nach, antwortete aber dann mit der Stimme festester Überzeugung, wenn auch leise und gewissermaßen schüchtern: »Ich wollte nur sagen, daß diese Entstellung der Gedanken und Begriffe (wie sich Jewgeni Pawlowitsch ausdrückte) sehr häufig begegnet und leider viel weiter verbreitet ist, als daß man sie einen vereinzelten Fall nennen könnte. Dermaßen, daß, wenn diese Entstellung nicht ein so häufiger Fall wäre, es vielleicht auch nicht so unerhörte Verbrechen geben würde wie diese ...«

      »Unerhörte Verbrechen? Aber ich versichere Ihnen, daß genau ebensolche Verbrechen und vielleicht noch schauderhaftere auch früher vorgekommen sind, immer vorgekommen sind, und nicht nur bei uns, sondern überall, und daß sie meines Erachtens sich noch sehr lange wiederholen werden. Der Unterschied besteht nur darin, daß sie früher weniger publik wurden, während man jetzt angefangen hat, laut von ihnen zu reden und sogar zu schreiben; daher gewinnt es nun den Anschein, als seien solche Verbrecher erst jetzt aufgetreten. Darin besteht Ihr Irrtum, ein sehr naiver Irrtum, Fürst, das versichere ich Ihnen«, sagte Fürst Schtsch. lächelnd.

      »Ich weiß selbst, daß die Verbrechen auch früher sehr zahlreich und ebenso schrecklich waren; ich habe erst kürzlich mehrere Gefängnisse besucht, und es ist mir dabei gelungen, mit einer Anzahl von Verbrechern und Angeklagten bekannt zu werden. Es gibt sogar noch furchtbarere Verbrecher als jener junge Mann, Verbrecher, von denen ein jeder zehn Menschen ermordet hat, ohne nachher irgendwelche Reue zu verspüren. Aber ein Punkt ist mir dabei aufgefallen: der verstockteste Mörder, der keine Reue empfindet, weiß doch, daß er ein Verbrecher ist, das heißt, er urteilt seinem Gewissen nach, daß er schlecht gehandelt hat, wiewohl er nichts von Reue weiß. So denkt jeder von ihnen; aber diejenigen, von denen Jewgeni Pawlowitsch gesprochen hat, wollen sich nicht für Verbrecher halten und meinen, sie hätten ein Recht gehabt und ... hätten sogar gut gehandelt; das heißt, ungefähr so denken sie. Darin besteht meiner Ansicht nach der furchtbare Unterschied. Und beachten Sie, daß das lauter junge Leute sind, das heißt Leute in demjenigen Lebensalter, in welchem man am leichtesten und schutzlosesten einer Verdrehung der Anschauungen anheimfallen kann.«

      Fürst Schtsch. lachte nicht mehr und hörte dem Fürsten erstaunt zu. Alexandra Iwanowna, die schon lange etwas hatte sagen wollen, schwieg dennoch, wie wenn ein besonderer Gedanke sie vom Reden zurückhielte. Jewgeni Pawlowitsch aber sah den Fürsten mit unverhohlener Verwunderung und jetzt ohne eine Spur von Lächeln an. »Aber warum wundern Sie sich denn so über ihn, mein Herr?« mischte sich Lisaweta Prokofjewna unerwartet in das Gespräch. »Ist er etwa dümmer als Sie, weil sein Urteil von dem Ihrigen abweicht?«

      »Nein, so etwas denke ich nicht«, erwiderte Jewgeni Pawlowitsch. »Aber wie geht es denn zu, Fürst (entschuldigen Sie die Frage!), wenn Sie das alles so scharf beobachten und erkennen, wie geht es denn zu, daß Sie (ich bitte nochmals um Verzeihung) bei dieser sonderbaren Angelegenheit ... ich meine das, was sich vor einigen Tagen begab ... bei der Angelegenheit dieses Herrn, Burdowski heißt er ja wohl ..., wie geht es denn zu, daß Sie da die ganz gleiche Verdrehung der Ideen und moralischen Anschauungen nicht bemerkten? Es war ja doch ganz genau dasselbe! Ich hatte damals den Eindruck, daß Sie es überhaupt nicht bemerkt hätten.«

      »Ja, sehen Sie mal, lieber Freund«, ereiferte sich Lisaweta Prokofjewna, »wir haben es damals alle bemerkt, und nun sitzen wir hier und brüsten uns damit vor ihm; aber er, er hat heute von einem dieser Leute einen Brief erhalten, von der eigentlichen Hauptperson, von dem mit den Pickeln im Gesicht, erinnerst du dich, Alexandra? In dem Brief bittet er ihn um Verzeihung, wenn auch so auf seine Art, und teilt ihm mit, daß er sich von jenem Kameraden, der ihn damals aufgehetzt hatte, losgesagt habe; du erinnerst dich wohl an den Menschen, Alexandra? Und er glaube dem Fürsten jetzt mehr als jenem. Na, aber wir haben einen solchen Brief noch nicht erhalten, obgleich wir uns hier dem Fürsten gegenüber so hochnäsig benehmen.«

      »Und Ippolit ist auch jetzt eben zum Fürsten in das Landhaus gezogen!« rief Kolja.

      »Wie? Ist er schon hier?« fragte der Fürst aufgeregt.

      »Gleich nachdem Sie mit Lisaweta Prokofjewna weggegangen waren, ist er eingetroffen; ich hatte ihn hertransportiert!«

      »Na, da möchte ich darauf wetten«, fuhr Lisaweta Prokofjewna heftig auf, die ganz vergaß, daß sie den Fürsten einen Augenblick vorher gelobt hatte, »da möchte ich darauf