zu ihm hingefahren? Du hast ja neulich selbst bekannt, daß du es tun wolltest. Ja oder nein? Bist du vor ihm auf die Knie gefallen oder nicht?«
»Auf die Knie ist er ganz und gar nicht gefallen«, rief Kolja. »Ganz im Gegenteil: Ippolit hat gestern die Hand des Fürsten ergriffen und zweimal geküßt; das habe ich selbst gesehen; und damit endete die ganze Aussprache; der Fürst sagte nur noch ganz einfach, Ippolit werde sich in der Sommerfrische wohler fühlen, und der war sofort damit einverstanden überzusiedeln, sobald es ihm nur ein wenig besser gehen werde.«
»Sie hätten das nicht sagen sollen, Kolja ...«, murmelte der Fürst, indem er aufstand und nach seinem Hut griff.
»Warum erzählen Sie das? Ich ...«
»Wohin willst du denn?« hielt ihn Lisaweta Prokofjewna zurück.
»Lassen Sie sich hier nicht stören, Fürst!« fuhr Kolja in seinem Feuereifer fort. »Gehen Sie nicht zu ihm hin, und beunruhigen Sie ihn nicht; er ist, von der Fahrt ermüdet, eingeschlafen; er freut sich sehr; und wissen Sie, Fürst, meiner Ansicht nach ist es das beste, wenn Sie ihn jetzt nicht aufsuchen. Verschieben Sie es lieber auf morgen; sonst wird er wieder verlegen. Er hat heute vormittag zu mir gesagt, er habe sich schon seit einem halben Jahr nicht so wohl und kräftig gefühlt; er hustet sogar weit weniger.«
Der Fürst bemerkte, daß Aglaja auf einmal von ihrem Platz in der Ecke herauskam und an den Tisch herantrat. Er wagte nicht, nach ihr hinzublicken; aber er fühlte mit seinem ganzen Wesen, daß sie ihn in diesem Augenblick ansah und vielleicht zornig ansah, und daß in ihren schwarzen Augen jedenfalls ein Ausdruck des Unwillens lag und ihr Gesicht glühte.
»Ich glaube, Nikolai Ardalionowitsch, Sie haben nicht gut daran getan, ihn hierher zu bringen, wenn es sich um jenen schwindsüchtigen jungen Menschen handelt, der damals zu weinen anfing und uns zu seinem Begräbnis einlud«, bemerkte Jewgeni Pawlowitsch. »Er sprach damals in so pathetischen Ausdrücken von der Mauer des Nachbarhauses, daß er sich unfehlbar nach dieser Mauer zurücksehnen wird; davon können Sie überzeugt sein.«
»Das ist ganz richtig. Er wird sich mit dir zanken und überwerfen und wieder wegfahren; weiter kommt nichts dabei heraus!«
Nach diesen Worten zog Lisaweta Prokofjewna würdevoll den Korb mit ihrer Handarbeit zu sich heran, da sie ganz vergessen hatte, daß alle bereits aufgestanden waren, um den Spaziergang anzutreten.
»Es ist mir erinnerlich, daß er mit dieser Mauer sehr geprahlt hat«, begann Jewgeni Pawlowitsch von neuem. »Ohne diese Mauer wird er nicht mit großartigen Redewendungen sterben können, und daran ist ihm doch viel gelegen.«
»Nun gut«, murmelte der Fürst, »wenn Sie ihm nicht verzeihen wollen, wird er eben ohne Ihre Verzeihung sterben ... Jetzt ist er um der Bäume willen hierher übergesiedelt.«
»Oh, ich meinerseits verzeihe ihm alles; das können Sie ihm ausrichten.«
»So darf die Sache nicht aufgefaßt werden«, antwortete der Fürst leise und anscheinend nur ungern, indem er fortfuhr, mit gesenkten Augen auf einen Punkt des Fußbodens hinzublicken. »Es ist erforderlich, daß auch Sie bereit sind, von ihm Verzeihung anzunehmen.«
»Aber was habe ich denn damit zu tun? Was habe ich ihm denn zuleide getan?«
»Wenn Sie das nicht verstehen, so ... aber Sie verstehen es ja; er wollte damals ... Sie alle segnen und Ihren Segen empfangen; weiter nichts ...«
»Lieber Fürst«, fiel Fürst Schtsch. schnell mit einer gewissen Behutsamkeit ein, nachdem er mit einem und dem andern von den Anwesenden einen Blick gewechselt hatte, »das Paradies läßt sich auf Erden nicht so leicht wiederherstellen; und doch rechnen Sie gewissermaßen mit einer Wiederherstellung des Paradieses; das ist ein schweres Ding, Fürst, weit schwerer, als es Ihrem prächtigen Herzen erscheint. Wir wollen lieber davon aufhören; sonst geraten wir alle am Ende wieder ins Streiten, und dann ...«
»Wir wollen zur Musik gehen!« sagte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton und erhob sich ärgerlich von ihrem Platz.
Alle schlossen sich ihr an.
II
Der Fürst trat plötzlich an Jewgeni Pawlowitsch heran.
»Jewgeni Pawlowitsch«, sagte er mit auffälliger Wärme, indem er seine Hand ergriff, »seien Sie überzeugt, daß ich Sie trotz allem für den edelsten, besten Menschen halte; das versichere ich Ihnen ...«
Jewgeni Pawlowitsch war so erstaunt, daß er sogar einen Schritt zurücktrat. Einen Augenblick lang hatte er die größte Mühe, einen starken Lachreiz zu unterdrücken; aber bei näherem Hinsehen bemerkte er, daß der Fürst kaum seiner selbst mächtig war und sich jedenfalls in einem ganz eigenartigen Zustand befand.
»Ich möchte darauf wetten, Fürst«, rief er, »daß Sie eigentlich etwas ganz anderes sagen wollten und vielleicht gar nicht zu mir ... Aber was ist mit Ihnen? Fühlen Sie sich nicht wohl?«
»Möglich, gut möglich, und Sie haben sehr richtig bemerkt, daß ich mich vielleicht gar nicht an Sie wenden wollte!«
Nach diesen Worten lächelte er auf eine ganz seltsame und sogar komische Weise; aber plötzlich schien er in starke Erregung zu geraten und rief:
»Erinnern Sie mich nicht an mein Benehmen vor drei Tagen! Ich habe mich diese drei Tage über sehr geschämt ... Ich weiß, daß ich schlecht gehandelt habe ...«
»Aber ... aber was haben Sie denn so Schreckliches getan?«
»Ich sehe, daß Sie sich vielleicht mehr für mich schämen, als es die andern alle tun, Jewgeni Pawlowitsch. Sie erröten, und das ist das Zeichen eines guten Herzens. Ich gehe sogleich weg; glauben Sie mir!«
»Aber was hat er denn nur? Fangen etwa die Anfälle bei ihm so an?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna erschrocken an Kolja.
»Beachten Sie das nicht weiter, Lisaweta Prokofjewna; ich bekomme keinen Anfall; ich werde sogleich weggehen. Ich weiß, daß ich von der Natur stiefmütterlich behandelt bin. Ich bin vierundzwanzig Jahre lang krank gewesen, bis zu meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr. Fassen Sie auch jetzt meine Worte und Handlungen als die eines Kranken auf. Ich werde sogleich weggehen, sogleich; seien Sie dessen versichert. Ich erröte über mein Wesen nicht; denn es wäre ja wunderlich, wenn ich darüber erröten wollte, nicht wahr? Aber für die Gesellschaft tauge ich nicht ... Ich sage das nicht aus gekränktem Ehrgefühl ... Ich habe in diesen drei Tagen viel nachgedacht und bin zu der Einsicht gekommen, daß ich Ihnen bei erster Gelegenheit meinen Entschluß offen und ehrlich mitteilen muß. Es gibt Ideen, hohe Ideen, von denen ich nicht zu reden anfangen darf, weil ich unfehlbar alle Hörer zum Lachen bringen würde; eben dies hat mir Fürst Schtsch. soeben ins Gedächtnis zurückgerufen ... Ich besitze kein schickliches Benehmen, und meine Gefühle sind maßlos; meine Worte entsprechen meinen Gedanken nicht, sondern kommen anders heraus; darin aber liegt eine Herabwürdigung dieser Gedanken. Und daher habe ich kein Recht ... Außerdem bin ich mißtrauisch; ich ... ich bin überzeugt, daß mich in diesem Haus niemand kränken will, und daß ich hier mehr geliebt werde, als ich verdiene; aber ich weiß, weiß zuverlässig, daß nach einer vierundzwanzigjährigen Krankheit notwendigerweise etwas zurückbleiben mußte, so daß die Menschen manchmal nicht umhin können, über mich zu lachen ... nicht wahr?«
Er blickte sich ringsum und schien eine Erwiderung, eine Antwort auf seine Frage zu erwarten. Alle standen stumm da, peinlich erstaunt über dieses unerwartete, krankhafte und, wie es schien, jeder Ursache entbehrende Benehmen. Aber dieses Benehmen gab zu einer seltsamen Episode Anlaß.
»Warum sagen Sie das hier?« rief Aglaja plötzlich. »Warum sagen Sie das zu diesen Menschen? Zu diesen Menschen! Zu diesen Menschen!«
Sie schien im höchsten Grad entrüstet zu sein; ihre Augen sprühten Funken. Der Fürst stand stumm und sprachlos vor ihr und wurde auf einmal ganz blaß.
»Hier ist niemand, der solcher Worte wert wäre!« fuhr Aglaja heftig fort. »Alle, die hier anwesend sind, sind nicht so viel wert wie Ihr kleiner