Walter Brendel

Die Macht der Geimbünde


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Versuchung, derartige Bestrebungen als Verschwörung zu ächten: Sie sind dann keine Verschwörung mehr, die sich vielleicht schon aus Furcht vor politischer Verfolgung konspirativer Mittel bedienen muss, sondern eine legitime Oppositionspartei. In der Tat fällt auf, dass in den Staaten Europas jeweils mit dem Aufkommen des Parteienwesens die Neigung zu Verschwörungsideologien zurückgeht. In England ist dieser Moment 1688 mit der Glorious Revolution gekommen, als sich die Gegner des neuen Königs Wilhelm von Oranien als „die loyale Opposition seiner Majestät“ bezeichneten und damit verschwörerischer Umtriebe nicht mehr verdächtig waren – danach hat es keine Verschwörungstheorie in England mehr zu Massenanhang gebracht. Ähnlich in Frankreich, wo während der Revolution der Glaube an einheitliche Volonté générale im Sinne Jean-Jacques Rousseaus zu der Überzeugung beitrug, interessegeleitete Abweichungen von diesem allgemeinen Volkswillen seien Verschwörungen und müssten gewaltsam unterdrückt werden.. Die Furcht vor Verschwörungen ließ erst nach der Julirevolution 1830 nach, als sich ein Mehrparteiensystem etablierte, ähnlich wie in Deutschland nach der von 1848: Mit dem Pluralismus und der damit einhergehenden Institutionalisierung von Parteien verbreitet sich eine moderne Vorstellung von Politik, die der traditionalen oder charismatischen Herrschaft eine rationale Form der Konsensbildung durch öffentliche Diskussion gegenüberstellt. Mit zunehmender Transparenz und Verfahrenslegitimation, wie sie die dritte Form in Max Webers Typologie kennzeichnen, nämlich die rationale Herrschaft, verlieren verschwörungsideologische Vorstellungen somit ihre Glaubwürdigkeit. In diesem Sinne könnte dann die breite Annahme der antisemitischen Verschwörungstheorien des Nationalsozialismus als besonders schwerer Rückfall in das eigentlich bereits überwundene Zeitalter der Verschwörungsideologien verstanden werden.

      • Psychologische Grundlagen

      Laut den amerikanischen Psychologen Jennifer Whitson und Adam Galinsky sind Personen, wenn sie glauben, keine Kontrolle über die Situation zu haben, in der sie sich befinden, anfälliger für Verschwörungstheorien und Aberglauben. Sie tendieren dann dazu, überall Muster und Verbindungen zu sehen - selbst dort, wo es gar keine gibt - oder abergläubische Rituale mit einer Situation zu assoziieren. Suggeriert man Menschen, die Kontrolle über eine Situation verloren zu haben, so suchen sie auch im scheinbaren Chaos nach Halt.

      Kontrollverlust wird von der Psyche als extrem starke Bedrohung wahrgenommen. Der starke Versuch, sie wiederherzustellen, kann auch die Wahrnehmung der Realität beeinflussen und man erzeugt sich mit Hilfe von „mentaler Gymnastik“ eine imaginäre Ordnung. Eine Möglichkeit ist, nach Strukturen zu suchen, um die Situation besser verstehen und zukünftige Entwicklungen vorhersagen zu können. Man sucht nach Mustern - und, wenn es keine gibt, baut man durch Sinnestäuschungen welche ein. Man sieht Muster und Verbindungen, welche nicht existieren. Um auszuschließen, dass es sich bei den Versuchspersonen um generell verunsicherte Menschen handelte, die unabhängig vom Kontext ordnende Strukturen suchen, suggerierte man ihnen Sicherheit. Dann unterschieden sich die Ergebnisse nicht mehr von den anderen Versuchspersonen. Bei Kontrollverlust werden auch angebotene einfache Zusammenhänge und Lösungen dankbar angenommen.

      Verschwörungsideologien und Gewalt

      Der historische Überblick über die Konjunkturen der Verschwörungsideologien zeigt die immense Gewaltbereitschaft, die mit diesem Denken einhergeht: Vom mittelalterlichen Inquisitionsterror gegen Andersgläubige über die englischen Verfolgungen von Kryptokatholiken und Jesuiten zur „grande terreur“ der Französischen Revolution, dann vom Schrecken des stalinistischen Gulag bis schließlich zum Grauen in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten: Stets folgte auf die „Entlarvung“ vermeintlicher Verschwörer und Volksfeinde deren Eliminierung. Und noch in der jüngsten Vergangenheit zeigt der Bombenanschlag von Oklahoma City von 1995 die mörderische Potenz von Verschwörungsideologien. Der Zusammenhang ist notwendiger Bestandteil der scheinrationalen Logik der Verschwörungsideologien: Wenn die Bedrohung durch die als übermächtig vorgestellten Verschwörer so groß ist und wenn es aufgrund der ideologischen Selbstabdichtung keinerlei Mittel gibt, diese Phantasievorstellung zu widerlegen, muss buchstäblich jedes Mittel recht sein, sich ihrer zu erwehren.

      Aufgrund der Erfahrungen des griechischen Unabhängigkeitskrieges (1821 – 1829), als eine christliche Minderheit sich gewaltsam mit Hilfe von Großbritannien aus dem Osmanischen Reich gelöst hatte, fürchtete die jungtürkische Regierung im Jahre 1915 Ähnliches: Sie vermutete, die christlichen Armenierstünden insgeheim mit Russland, das schon lange Interesse an der Kontrolle der Meerengen besaß, im Bunde. Daher schalteten sie mit den Todesmärschen in die mesopotamische Wüste diese vermeintliche „fünfte Kolonne“ des Kriegsgegners aus.

      Doch Gewalt ist nicht nur die Folge staatlicher Verschwörungstheorien „von oben“: In den beiden großen Freiheitskämpfendes 18. Jahrhunderts spielen Verschwörungstheorien „von unten“ für die Motivation der Revolutionäre eine nicht zu unterschätzende Rolle. Von George Washington etwa ist bekannt, dass er hinter dem konfliktträchtigen Handeln der britischen Regierung, das zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg führte, eine Verschwörung witterte: Die Besteuerung der Kolonisten ohne ihre Repräsentation im Parlament erschien ihm nicht als rationale Verfolgung britischer Interessen, die nur ebenden seinen widersprachen und die politisch, das heißt durch Verhandlung und Kompromiss, zu regeln wäre, sondern als absichtliche und vor den Amerikanern lange geheim gehaltene Böswilligkeit, die es zu bekämpfen gelte – eine Interpretation, die den Kämpfern für die Unabhängigkeit gewiss mehr Anhänger zuführte, als wenn er sie rein rational dargestellt hätte.

      Noch deutlicher wird der Zusammenhang von revolutionärer Gewalt und Verschwörungstheorie im vorrevolutionären Frankreich, wo unter der Landbevölkerung immer wieder Gerüchte von Hungerverschwörungen aufflackerten. Die berühmteste und wohl auch folgenreichste war das im Frühjahr 1789 massenhaft kolportierte Gerücht, Adel und König würden absichtlich die Getreideversorgung verknappen, um in der folgenden Hungerkrise den beim Volk beliebten Finanzminister Jacques Necker entlassen und die von ihm empfohlene Einberufung der Generalstände aussetzen zu können. Diese Verschwörungstheorie trug nicht unwesentlich zur Delegitimierung des Ancien-Régime und zur Bereitschaft der von einer Hungersnot bedrohten Massen bei, auch Gewalt einzusetzen.

      Die Gerüchte um Hungerverschwörungen ließen in der Folgezeit aber nicht nach. Tatsächlich waren ähnliche Sorgen der Pariser Sansculotten im Zusammenhang mit der durch Inflation bedrohten Revolutionswährung, den Assignaten, einer der Auslöser für den massenhaften Terror des Wohlfahrtsausschusses. Die Verschwörungstheorie, die revolutionäre Gewalt „von unten“ motiviert hatte, war zur Rechtfertigung staatlichen Terrors „von oben“ geworden.

      Verschwörungstheorien in der Literatur

      Verschwörungstheorien, ihre intrigante Lancierung oder Aufdeckung sind seit je Stoff zahlreicher Bühnenstücke und Prosawerke. Seit einiger Zeit werden Verschwörungstheorien vor allem in der amerikanischen Literatur thematisiert. Hier lassen sich drei Aspekte ausmachen, die sie für Autor und Leserschaft interessant machen: Spannung, Satire und Postmoderne; bei vielen Büchern kommen mehrere dieser Aspekte zum Tragen:

      • (Welt)Verschwörungstheorien eignen sich hervorragend dazu, Spannung zu erzeugen: Der Held dringt mit dem Leser immer tiefer in die Geheimnisse einer ungeheuerlichen Konspiration ein, gerät eben dadurch mehrfach in größte Gefahr und entkommt den finsteren Geheimbündlern nur knapp, wenn überhaupt. Dieser Dramaturgie gehorchen z. B. die Romane von Dan Brown. Ein weiteres Beispiel ist der Roman Welt in Angst von Michael Crichton, der der Angst von Umweltskeptikern vor einer angeblichen Verschwörung von Umweltschützern gegen den westlichen Lebensstil Ausdruck verleiht.

      • Satirisch werden Verschwörungstheorien zum Beispiel in William S. Burroughs berühmter Kurzgeschichte „23Skiddoo“ behandelt, die in schnoddrigem Insider-Jargon schildert, wie einem obskuren Geheimdienst seine telepathisch kontrollierten Mörder aus dem Ruder laufen. Auch die Illuminatus-Trilogie von Robert Anton Wilsonund Robert Shea benutzt vielfach satirische Momente, etwa wenn gleich zu Beginn des ersten Bandes das Denken in Verschwörungstheorien als Ideologie entlarvt wird mit dem das Kommunistische Manifest parodierenden Motto: „Die Geschichte der Welt ist die Geschichte der Kriege zwischen Geheimbünden“.

      In der postmodernen Literatur tritt das Motiv der Verschwörungstheorie besonders häufig