Fjodor Dostojewski

Die Brüder Karamasow


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Tarantel, ohne jedes Mitleid. Es verschlug mir sogar den Atem. Paß auf, ich wäre selbstverständlich gleich am folgenden Tag hingegangen und hätte um ihre Hand angehalten, um alles sozusagen auf die anständigste Weise zum Abschluß zu bringen. Denn ich bin zwar ein Mensch mit niederen Trieben, aber doch ein ehrenhafter Mensch. Und da schien mir in derselben Sekunde plötzlich jemand ins Ohr zu flüstern: Und wenn du morgen mit deinem Heiratsantrag kommst, wird ein solches Mädchen dich nicht einmal empfangen, sondern dem Kutscher befehlen, dich vom Hof zu jagen. Das würde bedeuten: Magst du mich auch in der ganzen Stadt in üblen Ruf bringen – ich fürchte dich nicht! Ich sah das Mädchen an. Meine innere Stimme hatte nicht gelogen: so würde die Sache sicherlich verlaufen. Man würde mich mit Schlägen fortjagen, das konnte man schon aus dem Ausdruck ihres Gesichts schließen. Die Wut kochte in mir, ich hatte Lust zu einem grundgemeinen, abscheulichen Streich. Sie mit spöttischer Miene anzusehen und ihr, während sie so vor mir stand, mit dem Tonfall eines Kaufmanns mitten ins Gesicht zu sagen: Viertausend Rubel! Was sagen Sie da! Ich habe doch nur gescherzt! Sie sind zu leichtgläubig, gnädiges Fräulein. Zweihundert Rubel könnte ich gut und gern lockermachen, aber viertausend Rubel sind eine Summe, gnädiges Fräulein, die man für einen solchen Leichtsinn nicht wegwirft. Sie haben sich vergebens bemüht ...

      Siehst du, ich hätte natürlich alles verloren, sie wäre weggelaufen, aber dafür hätte ich eine teuflische Rache genommen, die mich für alles übrige entschädigt hätte. Mag ich später mein ganzes Leben vor Reue heulen, wenn ich nur jetzt diesen Streich verübe! Glaub mir, noch nie war es mir begegnet, mit keiner einzigen Frau, daß ich sie in so einem Augenblick haßte. Sie habe ich damals drei oder fünf Sekunden lang furchtbar gehaßt – mit jenem Haß, der von der wahnsinnigsten Liebe nur ein Haar breit entfernt ist! Ich trat ans Fenster, legte die Stirn an die gefrorene Scheibe, und ich erinnere mich, daß das Eis mir an der Stirn wie Feuer brannte. Lange hielt ich sie nicht auf, beunruhige dich nicht! Ich wandte mich wieder um, ging zum Tisch, öffnete den Schubkasten und nahm ein Wertpapier über fünftausend Rubel, fünfprozentiges, nicht auf den Namen ausgestelltes heraus, das in meinem französischen Lexikon lag. Das zeigte ich ihr schweigend, faltete es zusammen, reichte es ihr, öffnete ihr selbst die Tür zum Flur und verbeugte mich vor ihr, ganz tief in der respektvollsten Weise. Ich war tief ergriffen, glaub mir! Sie zitterte am ganzen Körper, sah mich eine Sekunde lang starr an und wurde furchtbar blaß wie ein Tischtuch. Und auf einmal, ebenfalls ohne ein Wort zu sagen, verbeugte sie sich ganz tief und sank mit geradezu zu Füßen, so daß sie mit der Stirn den Boden berührte, nicht mit einer heftigen Bewegung, sondern ganz weich, nicht so wie es im Institut gelehrt wird, sondern auf echt russische Art. Sie sprang auf und lief hinaus. Als sie weg war, zog ich den Degen und wollte mich durchbohren – warum, weiß ich nicht. Es wäre natürlich eine furchtbare Dummheit gewesen. Sicher wohl vor Entzücken. Hast du Verständnis dafür, daß man sich auch vor Entzücken das Leben nehmen kann? Aber ich durchbohrte mich nicht, ich küßte nur den Degen und steckte ihn wieder in die Scheide was ich dir übrigens gar nicht zu erzählen brauchte. Ich bin eben bei der Erzählung meiner Seelenkämpfe wohl ein bißchen weitschweifig geworden, um mich selbst zu loben. Aber meinetwegen, mag es so sein! Hole der Teufel alle Spione des Menschenherzens! Das ist alles, was ich damals mit Katerina Iwanowna gehabt habe. Bruder Iwan weiß davon und du – sonst niemand.«

      Dmitri Fjodorowitsch stand auf, machte in starker Erregung ein paar Schritte, zog das Taschentuch heraus, wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich wieder, aber nicht auf den vorigen Platz, sondern auf die Bank an der Wand gegenüber, so daß sich Aljoscha zu ihm umdrehen mußte.

      5. Beichte eines heißen Herzens (»Mit den Fersen nach oben«)

      »Jetzt«, sagte Aljoscha, »kenne ich die erste Hälfte dieses Vorganges.«

      »Die erste Hälfte verstehst du jetzt, das ist ein Drama, und es hat sich dort abgespielt. Die zweite Hälfte aber ist ein Trauerspiel und wird sich hier abspielen.«

      »Von der zweiten Hälfte verstehe ich bis jetzt noch nichts«, sagte Aljoscha.

      »Und ich? Verstehe ich es etwa?«

      »Einen Augenblick, Dmitri, da ist noch ein wichtiger Punkt. Du bist doch ihr Bräutigam, auch jetzt ihr Bräutigam?«

      »Ihr Bräutigam wurde ich nicht gleich, sondern erst drei Monate nach dem damaligen Ereignis. Am nächsten Tag sagte ich mir: Der Fall ist nun beendigt und erledigt, eine Fortsetzung wird es nicht geben. Hingehen und ihr einen Heiratsantrag machen – das erschien mir gemein. Sie ihrerseits ließ während der ganzen sechs Wochen, die sie noch in der Stadt blieb, kein Sterbenswörtchen von sich hören. Allerdings mit einer einzigen Ausnahme. Einen Tag nach ihrem Besuch schlüpfte das Dienstmädchen ihrer Familie zu mir und überreichte mir wortlos ein Kuvert. Auf dem Kuvert stand meine Adresse: Herrn Soundso. Ich öffnete es, es war das Geld, das von den fünftausend Rubeln übriggeblieben war. Man hatte nur viertausendfünfhundert Rubel gebraucht, doch bei dem Verkauf des Wertpapiers über fünfhundert Rubel war ein Verlust von mehr als zweihundert Rubel entstanden. So schickte sie mir nur zweihundertsechzig Rubel, glaube ich, genau erinnere ich mich nicht, und zwar nur das Geld – keine Zuschrift, kein Wörtchen, keine Erklärung. Ich suchte in dem Kuvert irgendeine Bleistiftnotiz – nichts! Nun gut, ich lebte dann für die mir verbliebenen Rubel toll drauflos, so daß sich auch der neue Major schließlich genötigt sah, mir einen Verweis zu erteilen. Der Oberstleutnant hatte das Staatsgeld jedenfalls ordnungsgemäß abgeliefert – zur allgemeinen Verwunderung, da kein Mensch mehr geglaubt hatte, daß er das Geld noch besaß. Nachdem er es abgeliefert hatte, fing er an zu kränkeln, mußte sich hinlegen und lag etwa drei Wochen. Dann trat eine Gehirnerweichung ein; und in fünf Tagen war er tot. Er wurde mit militärischen Ehren begraben, da er seinen Abschied noch nicht bekommen hatte. Katerina Iwanowna, ihre Schwester und ihre Tante verzogen zehn Tage nach der Beerdigung nach Moskau. Und da erhielt ich ganz kurz vor ihrem Umzug, am Tag ihrer Abreise – ich hatte die Damen nicht gesehen und sie nicht begleitet – ein winziges Kuvert. Es enthielt ein bläuliches Blatt Briefpapier mit Spitzenrand und darauf nur eine Zeile mit Bleistift: ›Ich werde Ihnen schreiben: warten Sie! K.‹ Das war alles.

      Das übrige werde ich dir jetzt mit wenigen Worten erklären. In Moskau änderten sich ihre Verhältnisse sehr schnell, unerwartet wie in einem arabischen Märchen. Die Generalin, ihre wichtigste Verwandte, hatte plötzlich gleichzeitig ihre beiden nächsten Erbinnen, zwei Nichten, verloren; beide waren in derselben Woche an Pocken gestorben. Die erschütterte alte Dame freute sich über Katja wie über eine leibliche Tochter, wie über einen Rettungsstern, klammerte sich an sie und änderte sofort ihr Testament zu Katjas Gunsten. Und da dies erst für die Zukunft Wert hatte, händigte sie ihr augenblicklich achtzigtausend Rubel aus. ›Hier hast du eine Mitgift‹, sagte sie, ›mach damit, was du willst!‹ Ein hysterisches Weib; ich habe sie später in Moskau beobachtet. Na, da bekomme ich nun einmal durch die Post viertausendfünfhundert Rubel zugeschickt; selbstverständlich war ich vor Verwunderung sprachlos. Drei Tage darauf kam auch der versprochene Brief. Ich besitze ihn jetzt noch; ich trage ihn immer bei mir und werde mit ihm sterben – soll ich ihn dir zeigen? Du mußt ihn unbedingt lesen! Sie bietet sich mir als Braut an, ganz von selbst. ›Ich liebe Sie sinnlos!‹ schreibt sie. ›Wenn Sie mich auch nicht lieben, ganz gleich, werden Sie mein Mann! Fürchten Sie sich nicht; ich werde Sie in keiner Hinsicht behindern, ich werde Ihr Möbel sein, ich werde der Teppich sein, über den Sie hinwegschreiten. Ich will Sie lebenslänglich lieben, will Sie vor sich selbst retten ... Aljoscha, ich bin nicht würdig, diese Zeilen mit meinem gemeinen Worten wiederzugeben, mit meinem gemeinen Ton, meinem stets gemein klingenden Ton, den ich niemals habe verbessern können! Dieser Brief hat mich bis auf den heutigen Tag tief beeindruckt, und ist mir etwa jetzt leicht ums Herz, ist mir etwa heute leicht ums Herz? Damals schrieb ich sogleich eine Antwort; es war mir einfach nicht möglich, nach Moskau zu fahren. Unter Tränen schrieb ich diese Antwort, und über eines werde ich mich lebenslänglich schämen! Ich erwähnte, daß sie jetzt eine Mitgift habe und reich sei, ich dagegen nur ein armer ungebildeter Mensch – ich erwähnte das Geld! Ich hätte diese Bemerkung unterdrücken sollen, doch sie kam mir unwillkürlich in die Feder. Dann schrieb ich gleich an Iwan nach Moskau und setzte ihm alles nach Möglichkeit auseinander, der Brief war sechs Seiten lang. Kurz, ich schickte Iwan zu ihr. Warum machst du solche Augen, warum siehst du mich so an? Na ja,