Mergel holte. Hier kam Svend Post ums Leben, und hier hatte sich die Hock-Hanne ertränkt. Es waren ihrer wohl noch mehr. Das versteckte Grab, das die Höhen verbargen, hatte es den Leuten angetan.
Flüchtigen Fußes eilt sie daran vorbei.
Eine Schar Krähen zieht gen Osten dem Wäldchen zu, das im Schutze der Berge liegt; die schwarzen Vögel zeichnen sich scharf ab gegen das helle Himmelsgewölbe, dessen Kuppel gleichsam von den höchsten Spitzen ringsum getragen zu werden scheint. Sie beugt sich vornüber und strebt der Spitze zu. Oben angekommen, füllt sie die Brust mit Luft, die sie langsam wieder durch die roten Lippen ausstößt.
Frisch und blühend steht das achtzehnjährige Kind der Heidehügel hier oben und blickt hinaus in die weite Welt. Die fernen Toruper Berge gen Westen gleichen in ihrer Farbe und Zartheit den Wolken; die schweren Erdmassen scheinen zu schweben; sie sehen nicht mehr irdisch aus, sie wirken märchenhaft. Und im äußersten Osten streckt das Möruper Moor sich sehnsüchtig dem Meere entgegen.
Es gibt keine festen Grenzen. Es blaut unendlich nach allen Seiten hin.
Sie späht. In ihren weitgeöffneten Augen liegt es wie erwachende Sehnsucht, und sie steht da wie ein Vogel, der davonfliegen will.
Es liegt ein heidebewachsener kleiner Hügel in der Nähe. Sie steigt hinauf, um besser sehen zu können. Sie muß so hoch hinauf wie nur möglich.
Vor ihr die Ebene, die bis an den Fjord hinabreicht, ist fruchtbar und dicht mit Häusern bestanden. In den Rübenfeldern wird gearbeitet, und alle Windmühlen drehen sich in dem frischen Winde. Ein paar beladene norwegische Schaluppen kreuzen hinauf, und eine Galeasse mit hoch aus dem Wasser ragenden, leeren Schiffsrumpf eilt mit ausgebreiteten Segeln vorwärts, der Fjordmündung zu. Jenseits des blauen Fjordstreifens stehen die nackten, jähen Lehmabhänge merkwürdig träumend ganz draußen im Wasser.
Die Sonne scheint nicht, und doch ist es ein klarer Tag. Es liegt wie ein heller Lichtstreifen über dem Fjord, über dem Flachland, wo die Rübenfelder in den bunten Farben des Herbstes welken, über den weißgetünchten Häuserfronten.
Saras Blick heftet sich auf den Wiesenhof. Hoch und schlank erhebt sich ihre Gestalt dort oben auf dem Hügel, straff vor jugendlicher Erwartung, während sie lange, lange den Bauernhof betrachtet, dessen runde gewölbte Türöffnung ihrer wartet.
Ihr Kopf ist ein wenig seitwärts gebeugt, als horche sie auf einen Ton aus weiter Ferne. Und ihre großen, klaren Augen drücken die Lebensverwunderung des jungen Gemütes aus.
Der Wind preßt das Kleid gegen ihren Körper und gegen die Knie und wickelt es in Falten um ihre Beine. Mit hoher Brust und weitgeöffneten Nüstern trinkt sie die frische Luft in sich hinein, die sausend über die Höhen fährt.
Sie beginnt den Hügel hinabzusteigen, doch wird alsbald ein Laufen daraus, und schneller und schneller geht es die Böschung hinab, daß die Röcke nur so fliegen. Schließlich vermag sie gar nicht mehr innezuhalten. Es sieht fast gefährlich aus. Sie muß stolpern. Sie weiß es, denn ihr wird angst, und trotzdem lächelt sie wie in einem süßen Schauder.
Endlich stürzt sie kopfüber hin und rollt ins Heidekraut. Dort bleibt sie einen Augenblick ganz still liegen. Dann aber ertönt ein helles, übermütiges Lachen, wie ein glucksender Strom unten zwischen den Heidekrautbüscheln.
Nur noch wenige Schritte, und gerade vor ihr liegt das Weidenhäuschen auf halber Höhe eines Berges. Bei diesem Anblick wird ihr Blick so ruhig, so voll Frieden und herzlicher Freude. Es ist das Vaterhaus.
Rings um das Häuschen herum wächst kurzes, immergrünes Gras von der Art, wie man es auf Wällen sieht. Hier will das Heidekraut nicht gedeihen. Das Grüne endet nach unten zu in einer Spitze. Dort liegt der Brunnen, der Quell, das heißt ein offenes Wasserloch, draus die Bewohner des Weidenhäuschen ihr Wasser holen, indem sie einfach einen Eimer hineintauchen. Es war einmal dort ein Garten, doch ist er aufgegeben. Die Menschen sind wohl der Mühe überdrüssig geworden. Man sieht dort nur noch ein paar moosbewachsene Stachelbeerbüsche und eine einzelne Weide, die so alt ist, daß niemand sehen kann, ob sie noch lebt oder ob sie eingegangen ist. Sie krümmt sich gen Osten und die Zweige ebenfalls, wie ein verkrüppeltes altes Weib, dessen Haare wild flattern, das aber noch bis zuletzt den Rücken steif hält.
Das Haus selber sieht zusammengedrückt aus infolge des schweren hohen Strohdaches und der niederen Lehmwände. Unterm Dachfirst kommen ein paar kleine Fenster zum Vorschein; recht kümmerlich und fast wie traurig sehen sie aus.
Es ist nur ein ärmliches Kätnerhäuschen, vom Sturm zerzaust und gebrechlich, und es liegt so geduldig und läßt Wind und Wetter über sich ergehen.
Das Weidenhäuschen ist der Mittelpunkt, von dem aus Fußsteige nach allen Richtungen hin laufen. Die Menschen hier haben sich von jeher ihren Unterhalt von weit her holen müssen. Jakob, der Weidenhäusler, geht getreulich in aller Frühe jeden Morgen und kehrt jeden Abend spät zurück auf diesen Steigen, die er mit seinen eisenbeschlagenen Holzschuhen tiefer und tiefer höhlt. Das tut er nun schon vierzig Jahre lang.
Auf diesen Wegen haben die Eltern ihre Kinder hinausgesandt in die Welt, immer eins nach dem andern, im ganzen zehn an der Zahl. Das erstemal begleitete die Mutter sie so weit, daß sie, zurückblickend, das Vaterhaus nicht mehr sehen konnten. Denn die Mutter weiß aus eigener Erfahrung, welche Macht eine solche Hütte wie das Weidenhäuschen ausübt, wenn ein Kind sie verlassen soll. Waren sie dann die letzte Böschung hinabgeschritten, dann hat sie ihr Kind geküßt und es mit tausend Ermahnungen fortgeschickt. Sie hat genickt und gelächelt, als sei sie vergnügt, während ihr doch die Tränen die Brust zuzuschnüren drohten. Und der kleine Knirps oder das Mädchen haben einen wehmütigen Abschied genommen und sind mit ihrem Bündel auf dem Nacken davongetrabt. Endlich ist noch mehrmals gewinkt worden.
Mit der Erinnerung an eine Mutter, die hoch oben steht und mit der Hand zum Abschied winkt, und dem Bild des Vaterhauses da drinnen in den Bergen zieht das Kind fort.
Und jeden Tag in der Fremde denkt es an das Haus mit dem Weidenbaum und dem grünen Fleck. Jeden Tag nehmen die Gedanken daran an Innigkeit zu, bis sich schließlich über der heimatlichen Hütte ein Glorienschein wölbt, um den alle Schlösser der Welt sie beneiden könnten.
So wird das Weidenhäuschen geliebt von zehn Kindern. Sie tragen es in ihrem Herzen. Und wenn sie, selbst erwachsen, heimkehren, dann eilen sie den Berg hinan, als ginge es zum Stelldichein, nur, um so bald wie möglich die Schornsteinspitze vor Augen zu haben.
An jedem ersten Novembertag sitzen Jakob und Dorte im Weidenhäuschen und warten auf das Kommen der Kinder, die auf all den verschiedenen Fußsteigen eintreffen. Für diese Familie ist dieser Tag der jährliche Festtag geworden. Lange vorher schon gelten ihm alle Gedanken und alle Worte. Jakob und Dorte sprechen von nichts anderem in der ganzen Welt als von den Kindern: ob sie sich gut führen und wie sich ihr Leben überhaupt gestaltet.
Jakob, der Weidenhäusler, versäumt niemals seine Arbeit.
Selbst wenn ihm so elend zu Mute ist, daß er morgens auf dem Fußsteig wie ein krankes Pferd zwischen den Strängen hin und her schwankt, auf seinen Posten verfügt er sich trotzdem. Am 1. November jedoch bleibt er zu Hause. Er schützt Krankheit vor, oder er findet seinem Arbeitgeber gegenüber irgend einen anderen Vorwand; denn er sieht wohl ein, daß er unmöglich den wahren Grund angeben kann. Seinen Tagelohn verlieren, um zu Hause mit seinen Kindern zusammen zu sein, das ist eine Weichherzigkeit, die ein Mann in Jakobs Stellung nicht verantworten kann. Er versucht es auch gar nicht. Er weiß gut, daß es nicht stattfinden darf, er kann nur einfach nicht widerstehen.
Wenn Jakob eines Abends kurz vor dem 1. November seine Arbeit verläßt, geht er zum Höker und macht dort größere Einkäufe an Kaffee, Zucker, Zwieback und Kringeln. Und dann kauft er auch einen Viertel Liter alten Rum. Das Ungewohnte dieses seltenen Getränks erhöht die Festlichkeit des Tages; sein Duft und die schöne dunkelbraune Farbe beleben den Mut. Aber er begreift gut, daß er hier die Wege der Üppigkeit und des Luxus wandelt; daher steckt er auch heimlich die Flasche in die Tasche, damit niemand sie zu sehen bekommt. Er tut ganz verschämt – aber es ist nun einmal Sitte geworden, daß er am 1. November zu seinem Kaffee ein Gläschen alten