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Lebendige Stunden


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paar Stunden in der Woche haben dürfen – hier im Garten, wo ihr immer so wohl gewesen ist. Blick auf den leeren Lehnstuhl.

      HAUSDORFER. Vielleicht hätt' ich mich doch zuweilen entschlossen, hineinzufahren, glaubst du nicht?

      HEINRICH wie beschämt. Mein verehrter Herr Hausdorfer, ich rede da immer von mir, und ich bin noch jung, und es liegt doch noch irgendwas wie eine Zukunft vor mir. Was haben Sie verloren!

      HAUSDORFER. Viel, viel.

      HEINRICH. Ich weiß, was Ihnen meine Mutter bedeutet hat; ich hab' es immer gewußt, auch schon damals.

      HAUSDORFER. Damals?

      HEINRICH. Ich war ja kein kleines Kind mehr, als der, der mein Vater war, uns verließ.

      HAUSDORFER. Ja, ja.

      HEINRICH. Ich erinnere mich noch an den Tag, da mir die Mutter sagte, der Papa sei abgereist. Und als er nicht zurückkam, hab' ich mir eine Zeit lang eingebildet, daß er gestorben sei, und in der Nacht hab' ich manchmal bitterlich geweint. Aber kurz darauf bin ich ihm auf der Straße begegnet, und zwar mit jener andern, um derentwillen er meine Mutter verlassen hatte. Ich habe mich in ein Haustor versteckt, damit er mich nicht sieht, als ob ich kleiner Bub' mich vor ihm schämen müßte. Ja, ich hab' es früh verstanden, daß meine Mutter vollkommen frei war, so frei, als wenn sie verwitwet wäre.

      HAUSDORFER. Du hast uns also verziehen, scheint es.

      HEINRICH leicht verletzt. Entschuldigen Sie, ich habe mich wahrscheinlich ungeschickt ausgedrückt. Wieder wärmer. Aber soll man denn nicht über einfache und natürliche Dinge einfach und natürlich reden können, besonders in einem solchen Augenblick? Es drängt mich, Ihnen wie einem Vater die Hand zu drücken, denn ich weiß, wie sehr meine Mutter Sie geliebt hat. Es wird immer dunkler. Auf der Straße jenseits des Gitters werden Laternen angezündet.

      HAUSDORFER. Geliebt – das war' schon was besonderes. Was hebt sich nicht alles auf der Welt, wenn's jung ist. Freunde sind wir gewesen, Heinrich, alte Leute und Freunde. Verstehst du das? Oder hat das Wort für so junge Ohren noch keinen Klang? Aber wie sollt ihr das verstehn, ihr jungen Leute, vor denen noch die Zukunft liegt, denen die Welt offensteht, – und gar ein Mensch wie du, mit solchen Aussichten. Es ist ja kein Wunder.

      HEINRICH. Sie irren sich, Herr Hausdorfer: ich begreife das sehr gut. Wenn ich Ihnen ... uns meine arme Mutter wieder zurückrufen könnte – o Gott! Wenn ich sie nur noch einmal, nur für einen Abend wieder hier sitzen sähe, wie vieles gab' ich dafür hin!

      HAUSDORFER. Vieles? Bitterer. Was?

      HEINRICH zögernd. Es ist mir, als wenn ich meine ganze Zukunft, als wenn ich alles, was ich noch leisten, alles, was ich noch erreichen will, dafür hingeben könnte.

      HAUSDORFER. Sei nicht bös', Heinrich, das glaubst du selber nicht.

      HEINRICH. Wenn ich die Möglichkeit hätte, wenn es in meiner Macht stünde ...

      HAUSDORFER. Es ist nicht wahr, Heinrich. Auch wenn du die Macht hättest – ich kenne dich! Euch alle kenn' ich, ich weiß, wie ihr seid.

      HEINRICH. »Ihr?« Ich weiß nicht, für wen außer mir ich einzustehen habe.

      HAUSDORFER. Du mußt für niemanden einstehn. Wenn ich »ihr« sage, so weiß ich schon, wie ich das mein'. Da hab' ich nämlich einen jungem Kollegen im Amt gehabt, das ist eine Geschichte von ungefähr zehn Jahren, der hat sich mit der Musik beschäftigt in seinen Mußestunden; es ist auch einmal bei einer Liedertafel vom Männergesangverein etwas von ihm aufgeführt worden; Franz Thomas hat er geheißen. Und dem ist sein einziges Kind gestorben, ein Bub', sieben Jahr war er alt, bildschön und aufgeweckt. Ich hab' ihn nämlich gekannt; er ist manchmal mit seiner Mutter gekommen, den Vater vom Bureau abzuholen. Also das Kind ist gestorben, an der Diphtheritis, in einer Nacht, und ich komm' hin Kondolenzvisit machen. Und er, der Vater nämlich, sitzt beim Klavier und spielt – ja, spielt. Dabei muß ich bemerken: das tote Kind ist im selben Zimmer aufgebahrt gelegen – und er spielt und hört nicht auf, wie ich komme, sondern nickt mir zu, und wie ich hinter ihm stehe, sagt er leise: »Hören Sie, Herr Hausdorfer, das ist für mein armes Buberl. Grad ist mir die Melodie eingefallen.« Und das tote Kind liegt daneben im Sarg. – Ja. Mir ist es über den Rücken gelaufen.

      HEINRICH hat mit sichtlichem Interesse und endlich mit einiger Befriedigung zugehört. Nun ja. Ich verstehe ganz gut, daß viele und gerade sehr vortreffliche Menschen solchen Dingen gegenüber eine Art Grauen empfinden mögen. –

      HAUSDORFER. Grauen – ja! Das wird schon das rechte Wort sein.

      HEINRICH. Aber sagen Sie selbst, Herr Hausdorfer: sind die Leute nicht eigentlich beneidenswert, denen es so schnell gelingt, sich hinauszuretten – in ihren Beruf, in ihre Kunst? die vielleicht sogar die wunderbare Fähigkeit haben, ihren Schmerz in ihrer Weise zu gestalten, statt ihn in nutzlosen Tränen hinströmen zu lassen?

      HAUSDORFER. Gestalten? Weckt das die Toten wieder auf?

      HEINRICH. So wenig als die Tränen. Ich sage auch nicht, daß die Freude an der Arbeit das Leid über ein entschwundenes Wesen aufwiegt. Aber ist es nicht endlich das Einzige, was uns übrig bleibt: arbeiten? Werden Sie nicht Ihren Garten pflegen wie zuvor? Und ich – ja, ich ersehne den Tag, da ich wieder fähig sein werde, etwas Ordentliches zu schaffen wie früher einmal. Ins Unabänderliche müssen wir uns fügen.

      HAUSDORFER. Ins Unabänderliche, das mag ja sein.

      HEINRICH. Es war unabänderlich.

      HAUSDORFER. Nein, nein.

      HEINRICH ein wenig befremdet. Gewiß. Mit welchen Gedanken quälen Sie sich denn? Haben Sie nicht selbst erst vor sechs Wochen den Doktor gesprochen? Er hat Ihnen damals die Wahrheit nicht verschwiegen. Es hat so kommen müssen.

      HAUSDORFER. Nicht so früh! Noch nicht jetzt.

      HEINRICH. Wie können Sie das behaupten, Herr Hausdorfer? Sie nehmen doch nicht an, daß irgend etwas versäumt worden ist?

      HAUSDORFER. O nein, o nein, entschuldige. Nichts ist Versäumt worden.

      HEINRICH. Nun also!

      HAUSDORFER. Aber hast du mir nicht selbst grad erzählt, daß sie noch zwei bis drei Jahre vor sich gehabt hätte?

      HEINRICH. Ach so. Das ist schon wahr. Aber der Doktor machte auch auf die Möglichkeit eines plötzlichen Todes aufmerksam, wie Ihnen sehr wohl bekannt ist.

      HAUSDORFER. Plötzlich? – Das war' ja schon richtig. Zögernd, aber dann entschlossen. Aber ob's auch natürlich zugegangen ist, das wär' noch eine andere Frage.

      HEINRICH betreten. Wie?! Warum diese ... Nein. Ich verstehe nicht, was Sie auf diese Vermutung bringt, zu der nicht der geringste ... Der Arzt hätte es doch merken müssen.

      HAUSDORFER. Warum denn? Man trinkt das Morphiumflascherl aus, in der Früh' wird man tot im Bett gefunden; die Angehörigen sind ja vorbereitet.

      HEINRICH. Sie sagen das mit einer so eigentümlichen Bestimmtheit ... Hat meine Mutter vielleicht eine Äußerung getan? ...

      HAUSDORFER. Laß es dir genügen – ich irr' mich nicht.

      HEINRICH. Da Sie mir so viel gesagt haben, Herr Hausdorfer, so werden Sie es wohl begreiflich finden ...

      HAUSDORFER. Ich weiß es – frag' mich nicht mehr!

      HEINRICH. Ach so. Der Brief auf ihrem Schreibtisch ...

      HAUSDORFER nickt. Ja.

      Pause.

      HEINRICH betroffen. So, so ... Aber warum bin ich eigentlich erstaunt? Wie oft in diesen furchtbaren Nächten hab' ich mich gefragt – ja, ich gesteh' es Ihnen, auf die Gefahr, daß ich Ihnen wieder grauenhaft erscheine – was uns armselige Geschöpfe denn zwingt, so viel Elend, so viel Martern auf uns zu nehmen, wenn es doch in unserer Macht liegt, jeden Augenblick selbst ein Ende zu machen.

      HAUSDORFER. Heinrich!

      HEINRICH. Wenn meine Mutter getan hat, was Sie zu wissen behaupten, so