Nathalie D. Plume

§4253


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so gut wie du, aber meintest du nicht, dass sie deine Nachrichten sogar gelesen hat?“ Wieder ein Stöhnen. „Ja, sie hat sie gelesen, aber erst am nächsten Tag, keine Ahnung warum, ich bin kein Mädchen, du bist doch eins, sag du es mir.“ Nun muss Jalma doch lachen, sie erhebt sich von dem Sofa, gibt der Decke, unter der sich ihr Neffe immer noch verbirgt, einen Kuss, wandelt mit den Briefen zurück ins Esszimmer und antwortet im Gehen in einem leichten Singsang: „Ja, ja, unsere Wege sind unergründlich.“

      Erschöpft überfliegt sie die restlichen Briefe, bevor sie sich hungrig über den Kühlschrankinhalt her macht. Da ihre letzte Mahlzeit schon eine Weile her ist, fällt sie über das Essen her wie eine Termitenschar. Als sie den letzten Joghurt verdrücken will, stürmt ihr Neffe in die Küche und hält ihr erschrocken sein Handy unter die Nase. „Hier, sieh, was mir Lila geschrieben hat!“ Etwas irritiert schiebt sie das Handy auf mehr Abstand zu ihren Augen und zwängt sie zusammen. „Kaleo, ich bin zwar kein Greis, aber ich kann auch in meinen so jungen dreißiger Jahren mit diesen neuartigen Dingern nicht umgehen, ließ es mir doch bitte vor.“ Kaleo räuspert sich. „Sie hat geschrieben, dass ihr und Evelins Vater im Krankenhaus sind, es gab wohl einen schlimmen Brand in der Werkshalle.“ Jalma fällt der Löffel aus der Hand, den sie gerade in ihrem Mund platzieren wollte, dabei verteilt sich der Löffelinhalt auf dem Fußboden. Kaleo, der sich direkt einen Lappen greift und den Joghurt von Jalmas Socken und dem Boden befreit, schaut fragend zu seiner Tante herauf. „Alles okay, Auntie?“ Jalma verfällt in ein merkwürdiges Starren. „Ja, das war nur ein Versehen, entschuldige. Wo sagtest du arbeitet Evelins Vater noch gleich?“ Kaleo erhebt sich und nimmt seiner Tante den Joghurt aus der Hand, um einem weiteren Unglück zu entgehen. „Bei Dukjon, warum ist das wichtig?“ Mit einem Kopfschütteln reißt sich Jalma aus ihren Gedanken, streicht ihrem Neffen über die Schulter und lächelt ihm mitfühlend zu. „Das ist nicht wichtig, nur aus Interesse. Wirst du hinfahren?“ Kaleo zuckt mit den Schultern. „Wenn du mich lässt, würde ich schon gerne. Darf ich den Wagen nehmen?“ Jalma schreitet an ihrem Neffen vorbei zurück ins Esszimmer, nimmt den Schlüssel des Mercedes aus der Schale und hält ihn fest in der Hand Kaleo hin. „Ich lasse dich fahren, unter der Bedingung, dass du trotz der Sorgen, die du dir machst, langsam und vorsichtig fährst. Hast du mich verstanden?“ Ein knappes „Ja“, und Jalmas Miene wandelt sich in Ernsthaftigkeit. „Hast du mich verstanden?“ Ein Augenrollen. „Ja Auntie, ich habe dich verstanden und werde vorsichtig fahren, obwohl ich aufgewühlt bin!“ Jalmas hartes Gesicht weicht wieder dem sonst so sanften und ihre Hand öffnet sich, um den Schlüssel frei zu geben. Kaleo greift nach dem nun offen daliegenden Autoschlüssel, streift seine Schuhe über und verlässt, nicht ohne seiner Tante noch einen Kuss auf die Wange zu geben, das Haus. Jalma läuft vom Esszimmer in die Küche und sieht ihrem Neffen besorgt durch das Küchenfenster hinterher. Die roten Rücklichter des Mercedes brennen noch einen Moment auf ihrer Netzhaut nach. „Ein Brand bei Dukjon,“ spricht sie zu sich selbst, „mag man nur hoffen, dass es nur ein Unfall war.“ Danach schlendert sie durch die Küche ins Esszimmer, durch die großen Flügeltüren ins Wohnzimmer und lässt sich erschöpft auf das gelbe Sofa fallen. Einen Moment sitzt sie da und sieht dem Tag nach, dann werden ihre Augen schwerer, ihr Körper ruhiger und Jalma gönnt ihm endlich die Ruhe, nach der er sich so sehr sehnt.

      10. Rügen, Deutschland

      Der Stuhl unter ihr stellt einen harten unnachgiebigen Gegner, auf dem sie unruhig hin- und herrutscht. Der kalte Fliesenboden versucht ihre Füße noch kälter und steifer werden zu lassen, als sie es ohnehin schon sind. Die Luft lähmt, durch den starken Desinfektionsgeruch und die Kälte des Raums, ihre Nase. Das Surren der Umgebung und die immerwährenden Durchsagen über die Lautsprecher betäuben ihre Ohren und das stetige Vorbeilaufen oder -rennen von in weiß gekleideten Gestalten hypnotisiert ihre Augen. Ihre Gedanken fühlen sich fremd an, so, als wären es die verzweifelnden Gedanken eines anderen, dem etwas Furchtbares passiert ist oder noch passieren wird. Ihr eigenes Bewusstsein muss unterdessen weit weg sein, irgendwo anders, wo es keine Luft zum Atmen, keinen Boden zum Stehen, keine Geräusche zum Hören, keine Düfte zum Riechen und nichts zu sehen gibt, was ihre Augen sehen könnten. Leise schwebt sie in diesem Nichts und versucht sich immer wieder klarzumachen, was in diesem seltsamen Moment, der über sie hineingebrochen ist, passiert.

      Sie erinnert sich daran, wie sie mit ihrer Mutter auf dem Bett gesessen hat, auf die Gemälde ihres Bruders gestarrt und sich vorgestellt, was für schlimme Dinge einem Mann auf dem Nachhauseweg passieren können. Ihre Mutter hat zu ihr heruntergesehen, während ihr Bruder in seinem Zimmer spielte, und sie haben sich zusammen versucht einzureden, dass bestimmt alles gut ist und dass sie sich nur umsonst verrückt machen. Einige Minuten haben sie dagelegen und dem Meer in der Ferne gelauscht, bis sie das Geräusch hörten, das sie so abrupt aufspringen ließ, dass ihre Beine weich wurden und das Blut in ihren Köpfen pochte. Sie waren die Treppen hinuntergestürmt und beobachteten gemeinsam, wie die Tür aufgeschlossen wurde und ein Mann in das schwache Licht des Windfangs stieg. Für einen Moment hielten sie die Luft an und warteten bang darauf, dass der Mann aus dem Schleier des Windfangs heraustreten würde. Alle Logik ignorierend schienen sie sich nicht sicher sein zu wollen, dass es vielleicht doch nicht der Mann war, den sie erwarteten.

      Der Mann, der vor Evelin und ihrer Mutter steht, ist sehr viel kleiner und schmächtiger als Paul, seine Hände wirken weich und unbearbeitet und seine Haare sind nicht dunkel, sondern hell. Der Mann hält immer noch den Hausschlüssel in der Hand und als er die zwei Frauen entdeckt, stutzt er und senkt den Kopf. Evelins Mutter versucht verzweifelt die Augen des Mannes zu erhaschen, der es jedoch kaum wagt aufzusehen. Evelin sieht im Licht des Flurs, dass Oliver geweint haben muss, seine Augen sind rot unterlaufen und seine Unterlippe bebt immer noch. Da weiß Evelin, dass etwas sehr Schlimmes passiert sein muss. Oliver öffnet den Mund und seine Worte klingen gefasster, als es sein Ausdruck vermuten lässt. „Mona“, ein tiefes Einatmen, „es geht um Paul.“ Die Frau reißt die Hand nach oben und presst sie gegen ihren Mund, um den Schrei zu fangen, der ihr sonst entronnen wäre. Mit der anderen greift sie so fest um Evelins Arm, dass sie glaubt ihre Mutter könne ihn abreißen. Oliver fährt fort. „Es gab einen schlimmen Brand in der Werkshalle und Paul und Felix konnten nur sehr knapp den Flammen entkommen.“ Nun beginnt auch seine Stimme zu beben. „Die beiden sind jetzt im Krankenhaus. Mona, hole Oskar, wir können zusammen hinfahren.“ Die Frau, die immer noch fest an Evelins Arm hängt, gleitet auf ihre Knie. Oliver, der das anscheinend schon hinter sich hat und so ruhig bleibt, legt Evelin die Hand auf die Schulter, sieht ihr tief in die Augen und lächelt ihr beruhigend zu: „Evelin mein Schatz, holst du bitte deinen Bruder von oben und achtest darauf, dass er eine Jacke mitnimmt.“ Evelin wendet sich von ihm ab, um, einem Roboter gleich, den Befehl auszuführen, als er ihr nochmal hinterherruft: „Alles wird gut werden.“ Und etwas halbherziger: „Ich bin mir ganz sicher.“ Jedoch redet irgendwas auf sie ein, dass gar nichts gut werden würde und dass das nur der Anfang ist. Von was, kann sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen.

      Die Wendeltreppe hinaufhuschend, wirft sie noch einmal einen Blick auf ihre Mutter. Oliver hat sich zu ihr heruntergebeugt und sie in seine Arme geschlossen, dicke Tränen rollen in Olivers graues Hemd und lassen es immer dunkler werden.

      Die Autofahrt zum Krankenhaus kommt Evelin länger als ein ganzes Leben vor; obwohl Oliver viel zu schnell fährt und die Ampeln gerne noch in einem Kirschorange überfährt, zieht sich die Zeit träge wie ein Kaugummi dahin. Jedes Mal, wenn sie an einer Ampel eine Vollbremsung hinlegen, zuckt sie zusammen, als wäre sie von dem Auto getroffen worden. Der Dukjon Q7 ist zwar für schnelles Fahren und Abbremsen gebaut worden, aber auch dieser Wagen kann Olivers Fahrstil nur sehr schwer ertragen und immer wieder riecht es im Innenraum beißend nach verbranntem Gummi oder gequälten Zündkerzen. Als sie dann endlich auf dem Krankenhausparkplatz zum Stehen kommen und aus dem Wagen stürmen, scheint es bereits ein anderes Jahrhundert zu sein. Die Vier rennen über den asphaltierten Parkplatz. Mona hat den kleinen Oskar an der Hand, der ein wenig ahnungslos hinter ihr herfliegt und immer wieder droht unter der Geschwindigkeit seiner Mutter hinzufallen. Oliver, der während der gesamten Fahrt kein einziges Wort gesprochen hat, wischt als Erstes durch die Drehtür des Haupteinganges, seine ganze Erscheinung wirkt nun nervös und ängstlich und Evelin erschreckt der Anblick des sonst so ausgeglichenen Mannes. Immer noch rennend stolpern sie durch