Nathalie D. Plume

§4253


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weißt du bestimmt, warum ich hier bin“, führt Kaleo seinen Monolog ein wenig ernster fort. „Ich würde wirklich gerne wissen, was mit deinem und Lilas Vater ist, und ich möchte sehr gerne mit deiner Schwester sprechen. Weißt du, wo deine Schwester ist? Oder Lila? Oder vielleicht deine Mama?“ Oskar beobachtet Kaleos Mundbewegungen genau, es sind nicht die Worte, die ihn interessieren, sondern vielmehr, wer sie sagt und in welcher Geschwindigkeit sie gesagt werden. Kaleo legt respektvoll eine Pause ein und wartet, wie man es in einem Gespräch nun mal tut, darauf, bis sein Gegenüber mit seinen Ausführungen fertig ist. Dass Oskar dabei kein Wort sagt, stört den Jungen nicht. Eine Weile geht es so, ein Starren zwischen einem Fünfjährigen, der schweigt und einem Achtzehnjährigen, der seinen Ausführungen folgt. Dann, blitzschnell, springt der kleine Junge auf, kriecht flink unter dem Tisch hervor und rennt durch die große Eingangshalle zu der Tür, in der er zuvor mit seiner Schwester und seiner Mutter verschwunden ist. Kaleo, der mit dieser Reaktion nicht gerechnet hat, strauchelt nur mit Mühe unter dem, für ihn kleinen, Tisch hervor und versucht dem Fünfjährigen zu folgen.

      Obwohl Oskar nicht ein einziges Mal nach hinten sieht, kommt es Kaleo so vor, als würde er doch darauf bedacht sein, dass er ihm folgt, und so bleibt der kleine Junge jedes Mal kurz stehen, bevor er durch eine Schwingtür wischt oder am Ende eines Korridors um die Ecke biegt. Kaleo rast ihm stetig hinterher, vorbei an Krankenhausbetten und Mehrbettzimmern, vorbei an Ärzten mit OP-Kitteln und Schwestern mit Bettpfannen, einmal muss er einem Patienten so schnell ausweichen, dass er beinahe mit ihm zusammengeprallt wäre. Der Patient zuckt aber zum Glück im letzten Moment zur Seite und droht Kaleo mit vorgehaltenen Krücken irgendwelche Maßnahmen hinterher. Sich stürmisch entschuldigend, rast er nur an ihm vorbei. Irgendwann soll die Raserei aber ein Ende finden, als Oskar mitten im Lauf vor einer mit Holz verkleideten Tür bremst und das Okapi vor den Türschlitz stellt. Kaleo, der noch viel zu viel Schwung hat, um neben dem Jungen zu halten, fliegt chancenlos an der Tür vorbei und nimmt die letzten Meter zurück im Gehen auf sich. Außer Atem steht er neben dem Fünfjährigen vor der Tür und betrachtet das billig aussehende Holz. „Was ist da drin Oskar?“, fragt er ihn verunsichert, aber der kleine Junge packt nur das Okapi am Hals, zieht es unter seinen Arm und rauscht mit derselben Geschwindigkeit, wie sie gekommen sind, um die nächste Korridorecke davon.

      Gleichbleibend verunsichert greift Kaleo an den kalten Türgriff, er lässt seine Hand ein wenig auf dem kühlen Metall liegen, bevor er es leise nach unten drückt und die Tür in den Raum aufschiebt.

      Im Raum ist es warm, viel wärmer als auf den eisigen Korridoren, selbst die Luft riecht hier nicht so stark nach Desinfektionsmittel und der Fliesenboden, der sich durch das ganze Krankenhaus zieht, weicht weichem Teppich. In der Mitte des Raums steht ein Sofa, es ist braun und sieht weich aus, außer einem Schrank und zwei Beistelltischen ist der Raum leer. Irgendwo scheint es einen altmodischen Wecker zu geben, denn das erste Geräusch, das er hört, ist ein leises Ticken. Auf dem Sofa sitzt ein Mädchen, ihre Beine hat sie an sich gezogen und ihre Hände liegen über dem mit Sommersprossen verzierten Gesicht. Ein leises Wimmern geht von der lockigen Gestalt aus, sonst ist da nichts Außergewöhnliches. Als das Mädchen den Eindringling bemerkt, lösen sich ihre Hände von ihrem Gesicht und Kaleo schauen rot verquollene Augen entgegen. Ihre Augenbrauen ziehen sich nach oben, nicht verwirrt oder besorgt, sondern dankbar. Kaleo wagt es nicht den Mund aufzumachen, er fühlt sich, als hätte man ihm einen Maulkorb angelegt, der ihm das Sprechen unmöglich macht, auch dem Mädchen geht es wohl ähnlich und so machen beide nur einen schnellen Schritt aufeinander zu und fallen sich in die Arme.

      Evelin weiß nicht, warum Kaleo im Raum steht, sie weiß nicht, wer ihm gesagt hat, was passiert ist oder warum er gekommen ist, sie weiß nicht, warum er nicht wütend auf sie ist, obwohl er jedes Recht dazu hätte; das Einzige, was ihr glasklar ist und was sie in diesem Moment auch nicht hinterfragt, ist, dass er da ist, genau im richtigen Moment, dass er einfach nur dasteht und sie hält, ohne ein Wort, ohne eine Frage, ohne einen Vorwurf.

      11. High York, USA

      Philippe beißt sich auf die Unterlippe, immer wieder geht er in seinem Kopf die Möglichkeiten durch, wie er seinen Kollegen die Lage erklären kann. Er ärgert sich über den Captain, der ihm diese lästige Aufgabe überlässt. Nun bereut er es fast, die Ordner, die ihm sein Chef überreicht hat, nicht doch vorher bearbeitet zu haben. Langsam schleicht er neben seinen Kollegen her. Der Gang ist eng und so früh am Morgen immer noch in einem leichten Dämmerlicht gefangen. Ab und zu kommt er an einem der kleinen Fenster vorbei und erhascht einen kurzen, aber doch intensiven Blick auf die hinter einem Hochhaus hochkletternde Sonne. Lange richtet er seine Augen in die Morgenröte, bevor die nächste Wand das Licht verbirgt und ihm die Sonne nur noch in Erinnerung als bunte Punkte über die Netzhaut tanzt. Obwohl der Gang, umso weiter sie dem Großraumbüro kommen, immer enger wird und das Gewicht auf Philippes Brust immer schwerer, verlangsamt sich sein Schritt weiter. Dieses Mal gewinnt tatsächlich das ungute Gefühl, über das, was er gleich sagen wird, über die Angst von den auf ihn zukommenden Wänden, zerquetscht zu werden.

      Dorian, der neben Philippe durch den schummrigen Gang stapft, immer einen Schritt hinter ihm, aus respektvoller Angst sich ein zweites Mal an diesem Tag seinen heiligen Zorn zu verdienen, mustert seinen Freund von hinten. Irgendetwas an Philippes Art hat sich heute geändert, nicht nur, dass er heute nicht immer schneller wird, umso weiter sie in den engen Gang vordringen, sondern sich immer weiter zurückfallen lässt, beunruhigt ihn, es sind nicht das ständige Ziehen an der Unterlippe und das aggressive Verhalten vorhin in seinem Büro, es ist das fortwährende Murmeln von Worten, das Dorians Haare zwingt sich wie Antennen aufzustellen. Er hört Philippe seine Muttersprache nicht oft sprechen, die meiste Zeit, die er ihn kennt, hat Philippe immer in Englisch gesprochen und obwohl der französische Akzent schwer zu verbergen ist, spricht er es fließend und ohne einen einzigen Fehler. Selbst wenn sie in Gefahrensituationen gekommen sind und Philippe und er mit gezogener Waffe hinter einer aufgeklappten Autotür Schutz suchten, sprach er fließendes, einwandfreies Englisch. Aber jetzt murmelt sein Partner in einem Gemisch aus perfektem Französisch und gebrochenem Englisch vor sich hin und Dorian, der zwanghaft versucht den Worten zu lauschen, versteht kein Wort aus dem Mund seines Freundes. Philippe ist sehr schwer aus der Ruhe zu bringen und hätte man Dorian gefragt, was seine Schwäche sei, würde er vermutlich verneinen und sagen, dass dieser Mann keine Schwäche besitzt, obwohl er es besser weiß; obwohl er weiß, dass Philippe panische Angst vor geschlossenen Räumen und engen Gängen hat, würde er sagen nein, diesen Mann bringt nichts aus der Ruhe. Doch ausgerechnet heute bricht Philippe alle Annahmen, die Dorian über ihn gesammelt hat, er ist gereizt und unkonzentriert, wie er da durch den schummrigen Gang schleicht. Mit geballten Fäusten nimmt der rothaarige Mann seinen Mut zusammen und packt den immer noch englisch-französisch murmelnden Mann vorsichtig an der Schulter.

      Komplett aus seinen Gedanken gerissen spürt Philippe die Hand, die von hinten auf seiner Schulter platziert wird, und fährt erschrocken herum. „Alles gut bei dir?“, spricht ihn der rothaarige Mann leise und sehr respektvoll an. „Ja, natürlich ist alles gut, was sollte nicht gut sein Dorian?“ Den Worten Sicherheit verleihend mustert er die Reaktion seines Partners. „Ich weiß nicht, ich dachte nur weil …, weil ...“, druckst Dorian nach den richtigen Worten suchend weiter. „Du dachtest was?“ Ein Ausdruck von Spott schwingt in den Worten des Lieutenants wieder und Dorian bereut bereits ihn angesprochen zu haben. Der Situation jetzt aber heillos ausgeliefert kratzt er sich nervös an der hochgezogenen Augenbraue, schaut verunsichert zu Boden und presst die Worte heraus, die sich aus Angst vor Veröffentlichung an seinen Kehlkopf krallen. „Du wirkst etwas unsicher. Philippe, mag ja sein, dass nichts los ist, aber ich kenne dich einfach schon zu lange, um dir das zu glauben, es tut mir leid, wenn dir das heute respektlos erscheint, aber ich sorge mich eben um meinen Partner.“ Anscheinend zufrieden mit seinen Worten nimmt Dorian einen festeren Stand an und zeigt etwas mehr von seinem Selbstbewusstsein. „Es tut mir leid, wenn ich hart war Dorian, mir wurde nur heute Morgen eine Last zuteil, die ich noch zu tragen üben muss.“ Philippe räuspert sich, sieht sich verstohlen um und schmunzelt. „Ohne dir jetzt zu nahe treten zu wollen oder es als Ausrede zu benutzen, würde es dich stören unser Gespräch später fortzusetzen, es scheint mir hier doch etwas eng zu werden.“ Immer noch mit einem verschmitzten Lächeln tippt Philippe Dorian auf die Schulter und beschleunigt,