Nathalie D. Plume

§4253


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danach nimmt er seinem verdutzten Partner den Kaffee aus der Hand, nimmt einen tiefen Schluck und begibt sich wortlos in den Streifenwagen. Dorian, der wenig später neben ihm auf den Beifahrersitz fällt, grinst unsicher und schuldbewusst, aber Philippes Miene ist zu seinem Erstaunen weniger gereizt als mehr amüsiert. Dorian steckt Philippes Lachen an und ohne dass einer der beiden so richtig weiß warum, sitzen sie in einem High Yorker Streifenwagen und lachen.

      Bevor Philippe die Kupplung kommen lässt und dem Wagen den Start befiehlt, trinkt er den letzten Schluck aus dem ehemalig Dorian gehörenden Kaffee, zieht sich seine Atemmaske über und rollt aus der Parklücke. Etwas traurig sieht Dorian dem Kaffee hinterher und will gerade die Frage nach einem neuen stellen, als Philippe ihm zuvorkommt und die umgestellte Frage kopfschüttelnd abwehrt, bevor sie seine Lippe verlassen kann: „Nein. Nein Dorian, kannst du nicht.“ Stöhnend zieht auch Dorian sich die Atemmaske über und der Wagen beschleunigt die Rampe nach oben, um das Department zu verlassen. Durch die offenen Fenster dringt der abgasverpestete, heiße Fahrtwind in den Innenraum und sofort steht beiden Männern der Schweiß auf der Stirn.

      Dorian respektiert Philippe sehr, für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit Philippe die Angst vor geschlossenen Räumen zu nehmen und die ekelige, heiße und gelbe Luft der Stadt zu ertragen. Für Philippe hingegen ist es keine Selbstverständlichkeit, dass ein Mensch, auch wenn es ein Freund ist, für einen anderen seine Gesundheit aufs Spiel setzt, und in die verpestete Luft zu atmen. Philippe weiß, dass Dorian es nicht macht, um ihm in irgendeiner Art zu schmeicheln oder sich gut mit ihm zu stellen, er macht es tatsächlich aus einer Art Verständnis zu den Dingen, die Philippe durchleben musste. Dorian ist immer da gewesen, seit Philippe bei der Polizei angefangen hat. Er lernte ihn am ersten Tag der Polizeiakademie kennen. Sie saßen bei der großen Eröffnungszeremonie nebeneinander auf den unbequemen Klappstühlen und weil Philippe seinen Hut auf irgendeine Art und Weise verloren hatte, zog auch der damals noch sehr junge Dorian seine Mütze vom Kopf und sie kassierten gemeinsam die Schelte ihres Ausbilders, über die Unfähigkeit, auf ihre Uniformen acht zu geben. Damals konnte sich Philippe nicht erklären, warum ein völlig Fremder so etwas tun sollte, wie konnte er auch wissen, dass Dorian zuvor gesehen hatte, wie Philippe von ein paar anderen Trainees zusammengeschlagen worden war und sie hämisch und brutal lachend seine Mütze mitnahmen und den aus ihren Augen wertlosen französischen Flüchtling auf dem Boden der Umkleide zurückließen. Dorian hatte sich damals für seine eigenen Landsleute so geschämt, dass er versuchte es mit dieser Geste wiedergutzumachen und Philippe so beweisen wollte, dass nicht alle Amerikaner solche Arschlöcher sind.

      Aus dieser simplen Geste wuchs in den folgenden Jahren eine Freundschaft, die Dorian zwar nicht angestrebt, aber doch genießen lernte. Selbst als Dorian aus der Akademie flog und Philippe alleine seine Marke überreicht bekam, brach ihre Freundschaft nicht, eher das Gegenteil sollte der Fall werden und ohne dass Dorian es verhindern konnte, revanchierte sich der junge Franzose und half dem durch seine Hilfe immer besser werdenden Dorian erneut durch die Akademie. Ein Jahr später war es dann Dorian, der alleine seine Marke abholte und es war Philippe, der neben Dorians Mutter aus der Zuschauerreihe zu ihm hochjubelte. In den folgenden Jahren kämpften sich die beiden immer weiter die Karriereleiter nach oben und erst Philippe, dann Dorian wurden zu Detektives befördert. Erst als sie sich schon einige Jahre kannten und Philippe endlich sein Wahlrecht erhielt, begann er sich Dorian zu öffnen. Er erzählte ihm von Frankreich, von der furchtbaren aussichtslosen Lage, den hoffnungslosen Versuchen der französischen Regierung der Lage entgegenzutreten und irgendwann auch von der entsetzlichen und unmenschlichen Flucht, die der damals fünfzehnjährige Junge auf sich nahm, um in ein, aus seiner Sicht, besseres Leben zu kommen. Er zwängte sich neben einigen Dutzend anderen französischen Klima­flüchtlingen in einen Schiffscontainer, der von amerikanischen Schleusern von Frankreich nach Baltimore, in den US-Bundesstaat Maryland verschifft werden sollte. Es musste für den Jungen damals wie die einzige Möglichkeit erschienen sein, ein gutes Leben führen zu können. Philippe erzählte Dorian von dem Gefühl, als die dicken Containertüren hinter ihnen geschlossen wurden, und von der Dunkelheit, die sich über die dicht an dicht gedrängten Männer, Kinder und Frauen legte. Er erzählte ihm von dem Ruckeln und Schlagen, als der Container auf das Schiff verladen wurde, wie Bauklötze purzelten die Menschen übereinander und schlugen sich Arme und Beine, Köpfe und Schultern an den rauen Containerwänden auf. Immer wieder berichtete er Dorian von der beklemmenden Enge, von der stickigen heißen Luft, bis hin zu solcher Kälte, dass er seine Beine nicht spüren konnte.

      Manchmal hielt er in seinen Berichten inne und ein Schauder lief ihm durchs Gesicht. Dorian stellte sich die Berichte so realistisch wie möglich vor, er meinte zu hören, wie der Wind des offenen Ozeans an dem Container riss, er hörte das donnernde Tosen der Wellen, die gegen Bug und Container schlugen, und er spürte die Kälte, die in seine Knochen fuhr, jedes Mal, wenn Philippe weitererzählte. Manchmal dachte Dorian, dass Philippes Ausführungen nicht schlimmer werden könnten, aber dann kam etwas, was Dorian sich nicht einmal vorstellen wollte.

      Durch das unruhige Meer waren die Wasserflaschen ausgelaufen und die übrig gebliebenen Flaschen wurden an Alte und Kinder vergeben. Philippe erzählte, wie seine Zunge von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag pelziger wurde, wie ihm das Schlucken und Atmen immer schwerer fiel und seine Wahrnehmung durch den Durst getrübt wurde. Am vierten Tag waren alle Wasserreserven verbraucht und Philippe redete sich immer wieder ein, dass sie bestimmt bald da wären, dass es bestimmt nicht mehr so lange dauern konnte, ganz sicher würde er bald den Hafen sehen und Wasser aus Eimern trinken. Durch den dichten Sturm, den das Schiff zu diesem Zeitpunkt durchlaufen hatte, verspätete sich aber die Ankunft und am Abend, als die Sonne über den Meeresspiegel kippte, war es nicht das Jubeln von Menschen, das er hören konnte, sondern das Schreien einer Frau, das durch den muffigen Container schallte. In ihren dünnen Armen hielt sie den kleinen Säugling, immer wieder presste sie ihn an ihre Brust und schrie zu einem Gott, der in dem engen Container keinen Platz gefunden hatte, immer wieder pustete sie dem mittlerweile blau angelaufenen Baby in den Mund, klopfte ihm auf den Rücken, aber sein Schreien würde sie nie wieder hören können. Am Morgen des fünften Tages wickelten zwei Männer die winzige Gestalt in eine Decke und eine der Frauen, die neben Philippe saß, legte eine Kette um das menschliche Knäuel, die ihn auf der Reise begleiten sollte. Eine Reise, die der Säugling nun alleine antreten musste, die Reise, die wir alle einmal alleine meistern müssen. An diesem Tag, kurz bevor die Sonne unterging, in der Zeit, in der sie die Welt in ein romantisches Rot und ein kämpferisches Orange tauchte, lief das Schiff mit einer Verspätung von einem Tag in Baltimore ein. In dem Container wurde es unruhig und vielen der Geflüchteten fiel es schwer unter der Aufregung und Angst still zu bleiben. Im Container roch es nach Erbrochenem, Schweiß, Urin und Kot, aber das fiel keinem mehr auf, als eines der kleinen Mädchen, die durch einen Spalt nach draußen lugte, rief: „Le port, le port! On là fait!“ Zu Dorians Entsetzen war das nicht das Ende der Geschichte gewesen und Philippe hatte ihn gefragt, ob er wirklich hören wollte, wie es weiterging, und Dorian hatte immer wieder schwer geatmet und ihm erwidert: „Ja Philippe, ich werde mir das anhören, ich will meine Augen und Ohren nicht vor der Wahrheit verschließen.“ Und Philippe hatte weitergeredet, manchmal liefen ihm Tränen die Wangen herunter, keine davon fing er auf, so, als wollte er nicht berühren, was seiner Vergangenheit angehörte.

      Aufgrund der ungeplanten Verspätung, mit der das Containerschiff im Hafen von Baltimore einlief, hatten die Schleuser den falschen Container von einem falschen Schiff geladen. Verwirrt und verwundert über die Kisten voll T-Shirts, versuchten sie zwar den richtigen Container wiederzufinden, da der aber unter einem anderen Namen geführt wurde, als sie annahmen und sie das Geld der Flüchtlinge ja bereits kassiert hatten, ließen sie die halbherzige Suche bald sein. Der Container, der Philippe und die anderen von Frankreich hierher zu einem Lastwagen bringen sollte, blieb verschlossen. Aus Angst sich bemerkbar zu machen und damit eventuell die falschen Amerikaner auf den Plan zu bringen, schwieg die menschliche Fracht und als sie bemerkten, dass kein Lkw kommen würde, dass keiner kam, um sie aus dem engen Container zu befreien, war es bereits zu spät. Philippe berichtete von der Panik, die in den hungrigen, durstigen und nach frischer Luft bettelnden Menschen ausbrach. Sie schlugen gegen die Containerwände, bis ihre Hände blutig wurden, sie schrien, bis ihre Kehlen heiser waren, und sie weinten, bis ihre Augen verquollen. Philippe hatte nur dagesessen, sich nicht bewegt, flach geatmet und sich immer wieder gefragt, ob Sterben weh tat,