Nathalie D. Plume

§4253


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dass wir mit einem Zivilwagen kommen würden, aber heute sind die Dinge wohl etwas anders. Was können Sie uns den über den Fall sagen, Officer?“ Die kurze Frau redet weiter: „Leider noch nicht viel Lieutenant. Es ist die Leiche einer jungen Frau, wir konnten sie anhand ihrer Fingerabdrücke identifizieren. Ihr Name ist Fiona Duczek. Sie kommt ursprünglich aus Polen, einen Pass haben wir nicht bei ihr gefunden. Die ganze Sache sieht aus wie ein Mord, aber die Indizien sprechen eher für einen Selbstmord.“ Auf Philippes fragenden Blick reagierend spricht sie mit einer kurzen Pause weiter. „Es gibt einen Brief und die Leitstelle konnte mir berichten, dass das Opfer große Mengen an Airbus-Aktien hielt, aber ich kann mir nicht helfen, irgendetwas an diesem anscheinenden Selbstmord ist komisch. Wir haben außer dem Brief noch ein Flugticket gefunden, auf dem ihr Name natürlich nicht draufstand, Sie wissen schon, die neuen Datenschutzrichtlinien, außerdem ein kleines gläsernes Okapi. Sonst hatte die Frau nichts bei sich.“ Der Boden verwandelt sich von staubigem Sand in schleimigen Morast und alle drei ziehen ihre Köpfe ein, als sie durch den Eingang, der mehr ein großes Loch in einer mit Graffiti besprühten Wand ist, treten.

      Die Luft in der großen alten Industriehalle ist im Verhältnis zu der dicken schwülen Luft, die schon seit Wochen über High York hängt, kühl und feucht, hie und da tropft es sogar von der Decke. „Wohin ging das Flugticket, das sie bei sich trug, und was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, irgendetwas ist komisch daran? Entschuldigung, wenn ich auf dem Schlauch stehe, was haben Airbus-Aktien damit zu tun?“ Philippe versucht während des Gesprächs immer wieder mit der kleinen Frau Schritt zu halten, die für ihre Größe erstaunliche Geschwindigkeiten an den Tag legt. „Oh, haben Sie es noch gar nicht gehört? Sie haben den ersten Absatz veröffentlicht und …“ „Ja, ich weiß!“, unterbricht er die Frau im Wort. „Ich dachte aber, dass er nur den Autobau verbietet?“ Ewas eingeschüchtert und bemüht respektvoll nickt die kleine Frau immer wieder verständnisvoll und fährt dann fort. „Nein Sir, leider nicht, der erste Absatz ist weitaus allgemeiner gefasst worden, er verbietet den gesamten Bau von allen Verkehrsmitteln, die schädlich für die Umwelt sind, um es mal grob auszudrücken. Und bevor Sie nochmal fragen müssen, das Flugticket war für einen Flug von Frankfurt in Deutschland nach High York. Laut der Uhrzeit ist sie heute ganz früh gelandet.“ Philippe beißt sich auf die Unterlippe – hätte er nur diese blöden Ordner in Angriff genommen, bevor er heute Morgen losfuhr. Da daran jetzt aber nichts mehr zu ändern ist, erwidert er nur knapp: „Natürlich, ich hatte es für einen Moment verdrängt und ich schätze mal nicht, dass Sie wissen, was die Frau in Deutschland wollte?“ Die kleine Frau hinterfragt die anscheinende Unwissenheit über die aktuelle Situation nicht weiter und quasselt unbeirrt weiter. „Nein, wir wissen nicht, was sie in Deutschland wollte, so weit sind wir aktuell noch nicht. Sie wollten doch wissen, warum mir die Sache komisch vorkommt. Hier, sehen Sie selbst.“ Alle drei stehen vor einer großen milchigen Plane. Der Plastikgeruch umhüllt sie wie eine Wolke, und Dorian, der etwas hinter Philippe und dem Officer läuft, rümpft die Nase. Für ihn ist dieser Geruch auf ewig mit dem Tod verbunden, seit er selbst drei Jahre bei der Mordkommission gearbeitet hat. Die kleine Frau hebt den Schleier und legt damit den Blick auf die Leiche frei. Zwei Gerichtsmediziner in weißen Overalls knien um den leblosen Körper; als sie Philippe sehen, stehen beide auf und nicken ihm zu. „Kann ich es mir ansehen?“, richtet Philippe das Wort an sie. Etwas verwundert sehen sie sich an. „Wir hatten eigentlich mit der Mordkommission gerechnet Sir, aber natürlich können Sie es sich anschauen, die Spurensicherung hat ihren Job schon beendet und wir können auch später mit unserer Arbeit fortfahren.“ Zögernd macht Philippe einen Schritt auf die Leiche zu, Dorian folgt ihm. „Können Sie schon etwas über die Todesursache sagen?“, wendet Dorian sich an den jüngeren der beiden Männer. „Sie starb wahrscheinlich durch einen Genickbruch, sie hat sich erhängt, baumelte, als wir gekommen sind, da oben unter der Decke.“ Er deutete auf einen T-Träger, der von einer Seite der Halle in die andere führt. „Wir haben sie runterschneiden müssen, sie hat eine ziemlich miese Prellung am Kopf, die aber älter ist, es sieht nicht nach Fremdeinwirkung aus.“ Philippe umkreist langsam und leise die Leiche, es kommt ihm immer so vor, als gebiete der Tod die Ruhe, um die Toten nicht zu wecken. Die Gerichtsmediziner durchqueren den Vorhang aus Plastik, und bevor er hinter ihnen zufällt, grummelt der Ältere: „Sagen Sie Bescheid, wenn Sie fertig sind, damit wir sie eintüten können.“ Und etwas respektvoller erwidert der Jüngere, durch den Job weniger verdorben: „Lassen Sie sich aber gerne Zeit.“ Ein langsames Nicken aus Dorians Richtung und der Vorhang fällt.

      Nachdem Philippe die Leiche mehrfach umrundet und sich einen Überblick verschafft hat, rückt er ein wenig näher an das bleiche Gesicht heran. Die Augen sind offen, in ihnen liegt kein Ausdruck. Die blonden Haare sind ordentlich zu einem dünnen Zopf geflochten und über dem Gesicht hängt eine Strähne. Philippe schaudert, er kennt diese Frau, irgendwoher kennt er die Frau, in seinem Kopf kreisen die Gedanken, immer wieder fliegt die Antwort vorbei, legt sich auf seine Zunge, bleibt aber unaussprechbar. Er betrachtet ihre Kleidung, sie gab sich wohl Mühe gut auszusehen, der Rock nicht zu kurz, um anstößig zu wirken, aber auch nicht so lang, um ihre Weiblichkeit zu verstecken, eine vermutlich ehemalig sauber eingesteckte Bluse darüber. Die Kleidung wirkt nicht teuer, Material und Aussehen eher billig. Philippe richtet sich aus der Hocke auf, stößt dabei aber versehentlich gegen das Holster seiner Waffe. Für einen Sekundenbruchteil springt ein Bild vor seine Augen, eine zur Waffe geformte, an den Kopf gehaltene Hand. Verwundert über diese merkwürdige Sequenz aus seinem Gedächtnis reibt er sich den schmerzenden Ellbogen. Dann stolpern Worte über seine Lippen: „Brighter than the sun.“ „Hast du was gesagt?“ Dorian blickt aus einer Akte auf und runzelt die Stirn. „Nein, habe ich nicht“, entgegnet Philippe mehr zu sich als zu Dorian. Dann zuckt er zusammen und ruft nach der kleinen Frau. „Officer?“ Die zierliche Frau wischt durch den Spalt der Plastikplane. Ohne auf das „Ja Sir!“ zu warten, spricht Philippe weiter: „Die Frau hat keinen Selbstmord begangen!“ Dem Officer entgleitet für einen Moment das Gesicht, stotternd versucht sie sich zu sammeln. „Aber …, aber …, woher …, wie …, ich meine …?“ Genervt rollt Philippe mit den Augen. „Fährt die Frau einen alten Fiat Punto?“ Immer noch perplex, scrollt sie auf dem Display in ihrer Hand herum und nickt dann zart. „Ja Sir, einen 1993er blauen Fiat Punto, woher …?“ „Spielt keine Rolle“, unterbricht er erneut die Frau. „Was steht in dem Abschiedsbrief? Sie sagten eben irgendetwas von Airbus-Aktien.“ Der Officer scrollt schnell auf dem Display nach oben und drückt ihn dann Philippe in die Hand. Philippes Augen fliegen schnell über den Text, manchmal nickt er bestätigend, dann reicht er das Display zurück an die junge Frau. „Grob gefasst schreibt sie, dass sie sich wegen der großen Verluste an ihren Airbus-Aktien und der damit verlorenen Unsummen nicht mehr im Stande fühlt weiterzuleben. Richtig?“ Bestätigung. „Das ist sehr grob, Sir, aber ja, das stimmt.“ „Diese Frau hatte ganz sicher keine Airbus-Aktien.“ In dem Gesicht des Officers spiegelt sich Entrüstung wider. „Aber die Leitstelle meinte ...“ Wieder ein Augenrollen. „Die Leitstelle weiß auch nicht alles, mag ja sein, dass sie mal Aktien hatte, aber jetzt bestimmt nicht mehr. Warum sollte sie einen uralten Fiat fahren, billiges Haarfärbemittel benutzen, das die Haare immer dünner werden lässt, und Kleider tragen, die von einem dieser Billigkaufhäuser kommen?“ Das Display von einer Hand in die andere schiebend hält die Frau ihre Augen zu Boden gerichtet. „Sir, das wird nicht ausreichen, um das als Mordfall aufzunehmen.“ Philippes Anspannung steigt: „Mein Gott, wann war der Todeszeitpunkt?“ Eine vorsichtige Antwort. „Circa vor sechs Stunden, Sir.“ Seine Theorie bestätigt sehend lüftet sich Philippes Stimmung. Er tippt ein paar Daten in sein Handy und hält es dann der immer noch nervös dreinblickenden Frau vors Gesicht. „Hier, sehen Sie sich das an, die Dukjon-Aktie ist vor ca. zwanzig Stunden in den Keller gefallen, die Airbus-Aktien aber erst vor vier Stunden, das heißt, die Frau kann das noch gar nicht gewusst haben, als sie sich umbrachte.“ Die Frau vor Philippe betrachtet das Display des Handys und schüttelt erneut den Kopf. „Sie kann es doch schon vorher erfahren haben. Sie hätte zum Beispiel schon den Absatz lesen können und damit Rückschlüsse ziehen.“ Philippe hebt ungläubig und verständnislos die Augenbrauen. „Hätten Sie sich umgebracht anhand von Rückschlüssen? Hätten Sie nicht auch gewartet, bis die Aktien wirklich fallen, bei allem Respekt, niemand begeht Selbstmord aufgrund von irgendwelchen Rückschlüssen! Und genau wie Sie und ich hat sie die Bekanntmachung bestimmt auch nicht sofort ernst genommen, wenn sie überhaupt noch im Besitz dieser