Einverständnis vorgehen, sich seiner zu bemächtigen. Erschien es nun ratsam, weiter auf Reval zu wandern?… Nein, dachte er. Besser, er ginge auf Pernau zu, das er in kürzerer Zeit erreichen könnte. Bei der jetzigen Zunahme der Temperatur konnte, in der Ostsee wie im finnischen Meerbusen, der Aufbruch des Eises sich nicht mehr lange verzögern.
Hierüber im Klaren, galt es für ihn nur noch, aus der Mühle zu entkommen, sobald die Dunkelheit die weitere Flucht ermöglichte.
Wie sollte das aber geschehen, ohne die Aufmerksamkeit des Müllers zu erregen?… Da dessen Mühle bei dem stetig gewordenen Winde arbeitete, richtete er sich hier unzweifelhaft gleich für die folgende Nacht ein. An einen Versuch, nach dem untern Raum zu gelangen und durch die eine oder andere Tür zu entweichen, war überhaupt nicht zu denken. Vielleicht war es möglich, durch die Dachluke zu schlüpfen. bis zu dem großen, zur Bewegung des Daches dienenden Hebelbaume zu kriechen und über diesen hin den Erdboden zu erreichen.
Ein gewandter kräftiger Mann konnte das wohl versuchen, obgleich sich die Flügelwelle drehte und die Gefahr nahe lag, sich in den Zähnen des Triebwerkes zu fangen. Dann war einer freilich bedroht, zermalmt zu werden, doch darauf durfte es jetzt nicht ankommen.
Noch fehlte eine Stunde, bis es finster genug wäre. Wenn der Müller nun aber vorher in den Dachraum hinauskam, sobald ihn irgend ein Umstand dazu veranlaßte… konnte der Flüchtling auch dann noch hoffen, unentdeckt zu bleiben?… Nein, gleichgültig, ob es dann noch hell oder schon dunkel war, denn im zweiten Falle würde der Müller ja eine Laterne mitbringen.
Nun, wenn der Müller den Dachraum bestieg und den Mann bemerkte, der sich da versteckt hatte, so wollte dieser sich auf ihn stürzen, ihn niederwerfen und knebeln. Leistete der Müller Widerstand und versuchte er, sich zu verteidigen, drohten seine Rufe den Weiler zu alarmieren, dann wehe dem Armen! Das Messer des Flüchtlings hätte ihm dann in der Kehle gesessen und jeden Aufschrei erstickt. Dieser wäre doch wahrlich nicht von so weit hierher gekommen, und hätte so vielen Gefahren getrotzt, um zuletzt vor irgend einem Mittel zur Erlangung seiner Freiheit zurückzuschrecken.
Immerhin bewahrte er die Hoffnung, nicht zu dem verzweifelten Mittel des Blutvergießens greifen zu müssen, um wieder fort zu kommen. Der Müller hatte ja im Dachraume kaum etwas zu suchen, er mußte vielmehr seine Mühlsteine im Auge behalten, die sich bei dem schnellen Gange der großen Flügel mit rasender Geschwindigkeit drehten.
Eine Stunde verstrich unter dem Tick-tack der Welle, dem Knarren des Zahngetriebes, dem Pfeifen des Windes und dem leisen Knirschen der zerdrückten Körner. Langsam ging die unter diesen Breiten immer lange dauernde Dämmerung ins Dunkel des Abends über. Im Inneren des Dachraumes war es schon völlig finster. Jetzt mußte ein Entschluß gefaßt werden. Die nächtliche Wanderung würde gewiß anstrengend werden, galt es dabei doch, vierzig Werst zurückzulegen und deshalb unverzüglich aufzubrechen, sobald das möglich wäre.
Der Flüchtling überzeugte sich, daß sein im Leibgurt getragenes Messer leicht aus der Scheide zu ziehen war. In die Kammer des Revolvers steckte er sechs neue Patronen zum Ersatz für die, die er gegen die Wölfe verschossen hatte.
Nun blieb nur die, übrigens nicht geringe, Schwierigkeit übrig, wieder durch die Dachluke zu schlüpfen, ohne von der sich drehenden Welle erfaßt zu werden, die sich dicht an der Luke auf das Gestell des Mühlwerkes stützte. Gelang das, so war es leicht, von der Ausladung des Daches aus den großen Hebelbaum zu erreichen.
Schon schlich der Flüchtling nach der Luke hin, als sich trotz des Klapperns der Mühle und des Knarrens der Zahnräder ein Geräusch vernehmbar machte.
Es rührte von schweren Tritten her, unter denen die Stufen der Treppe ächzten.
Eine Laterne in der Hand, kam der Müller nach dem Dachraum hinaus.
Er wurde gerade in dem Augenblick sichtbar, wo sich der zu allem entschlossene Flüchtling, den Revolver in der Hand, auf ihn stürzen wollte.
Sobald der Müller aber nur mit halbem Leibe über den Fußboden des Dachraumes emporragte, sagte er:
»Väterchen, jetzt ist's Zeit davonzulaufen! Zögere nicht… geh hinunter… die Tür ist offen.«
Vor Erstaunen fand der Flüchtling keine Antwort. Der wackere Mann wußte also schon, daß er hier war?… Er mußte es beobachtet haben, wie er sich in die Mühle flüchtete?… Das zwar nicht, wohl aber war der Müller, während der Fremde schlief, nach dem Dachraume hinausgekommen, hatte diesen da gesehen, sich aber gehütet, ihn zu wecken. War es nicht ein Russe, wie er selbst? Das erkennen Slawen schon am Gesichtsausdrucke. Er hatte sich gesagt, daß die livländische Polizei diesem Manne nachspürte… Warum?… Das wollte er ihn ebensowenig fragen, wie er ihn dem Brigadier Eck und dessen Polizisten ausgeliefert hätte.
»Geh hinunter,« wiederholte er mit verhaltener Stimme.
Der Flüchtling, dem vor Erregung das Herz stürmisch klopfte, begab sich nach dem unteren Raum, von dessen Türen eine offen stand.
»Hier ist noch einiger Mundvorrat, sagte der Müller, der dabei etwas Brot und Fleisch in den Hängebeutel des Flüchtlings steckte. Ich habe bemerkt, daß der ebenso leer war wie deine Flasche. Fülle sie dir und geh in Gottes Namen…
– Wenn aber die Polizei erführe…
– Suche ihr auszuweichen und mach' dir um mich keine Sorge. Ich frage dich nicht, wer du sein magst, ich weiß nur, daß du ein Slawe bist, und niemals wird ein Slawe den anderen den deutschen Häschern in die Hände spielen.
– O… Dank… tausend Dank! rief der Flüchtling.
– Geh' nun, Väterchen. Gott geleite dich und verzeihe dir, wenn du der Verzeihung bedarfst!«
Die Nacht war tiefdunkel und der am Erdhügel vorüberführende Weg vollständig verlassen. Der Flüchtling winkte dem Müller noch einmal Abschied zu und verschwand dann in der Finsternis.
Auf dem eingeschlagenen neuen Wege handelte es sich nun darum, den Flecken Fallen noch in der Nacht zu erreichen, in dessen Umgebung ein Versteck aufzusuchen und da den folgenden Tag auszuruhen. Vierzig Werst… der Flüchtling würde sie zu überwinden wissen, dann befand er sich nur noch sechzig Werst von Pernau. In zwei Tagemärschen hoffte er, wenn kein Zwischenfall ihn aufhielt, noch vor Mitternacht des 11. April in dieser Stadt einzutreffen. Dort gedachte er sich zu verbergen bis zur Beschaffung der nötigen Mittel, die ihm erlaubten, an Bord eines Schiffes zu gehen, und hier mußten viele solche fertig liegen, mit dem ersten Aufbruch des Ostseeeises auszulaufen.
Rasch schritt der Flüchtling nun dahin, hier über eine offene Ebene, dort am Saume dunkler Weiden- und Birkenwälder. Zuweilen mußte er am Fuße eines Hügels hingehen, mußte engen Schluchten folgen oder kleinere, zwischen den Binsen und Granitblöcken an ihren Ufern nur halb zugefrorene Wasserläufe überschreiten. Der Boden war hier weniger dürr als in der Nähe des Peipussees, wo sich die mit gelblichem Sande vermischte Erde nur mit einer mageren Pflanzenhülle bedeckt. Weit auseinander liegend tauchten schlummernde Dorfschaften auf inmitten flacher, einförmiger Felder, die der Pflug nun bald zur Einsaat von Buchweizen, Roggen, Lein und Hanf durchfurchen sollte.
Die Temperatur hob sich merkbar. Der halbgeschmolzene Schnee verwandelte sich zu einer schlammigen Masse. Dieses Jahr trat das Tauwetter ausnehmend zeitig ein.
Gegen fünf Uhr früh stieß der Flüchtling kurz vor dem Flecken Fallen auf ein altes Gemäuer, wo er sich verstecken konnte, ohne von jemand gesehen worden zu sein. Ein Teil des vom Müller erhaltenen Mundvorrates stärkte ihn schon wieder… das übrige würde der Schlaf tun.
Um sechs Uhr abends brach er, ohne in seiner Ruhe im geringsten gestört worden zu sein, von neuem auf. Wenn er von den sechzig bis Pernau noch übrigen Wersten in der Nacht vom 9. zum 10. April die Hälfte hinter sich brachte, würde das der vorletzte Tagesmarsch sein.
Das gelang ihm auch. Mit Tagesanbruch mußte der Flüchtling Halt machen, diesmal aber, in Ermangelung eines besseren Verstecks, tief in einem Fichtenwalde, eine halbe Werst von der Landstraße. Jedenfalls war das ratsamer, als in einem Bauerngute oder einer Schenke ein Mittagsmahl und einen Ruheplatz zu suchen. Man trifft