völlig fern, die seit jener Zeit die moralische Propaganda durch die Propaganda der Tat ersetzt haben. Die verblendete moskowitische Regierung erkannte darin freilich keinen Unterschied. Sie geht, ohne auf gesetzliche Vorschriften Rücksicht zu nehmen, auf administrativem Wege vor, angeblich gezwungen, »zu verhindern, daß etwas unternommen werde«, wie die klassische Redeweise lautet. In vielen Städten des Reiches wurden Verhaftungen vorgenommen. Das war auch in Riga der Fall, und Wladimir Yanof, den man gewaltsam aus seiner Wohnung wegschleppte, wurde nach den Minen von Minnsinsk in Ostsibirien verschickt. Ob er von da wohl jemals wiederkehrte?… Wer hätte das zu hoffen gewagt?…
Ein entsetzlicher Schlag für die beiden Familien, den das ganze slawische Riga mit ihnen empfand. Ilka wäre daran zugrunde gegangen ohne die Willensstärke, die sie aus ihrer Liebe schöpfte, da sie sofort entschlossen war, ihren Verlobten aufzusuchen, sobald ihr das erlaubt würde, und mit ihm das grauenvolle Leben der Verbannten in jenen weltfernen Gebieten zu teilen.
Leider konnte sie weder erfahren, was aus Wladimir geworden war, noch wohin man ihn gebracht hatte, und jetzt war sie schon seit vier Jahren ohne jede Nachricht von ihm.
Sechs Monate nach der Verhaftung seines Sohnes fühlte Michel Yanof sein Ende herannahen. Da wollte er noch seinen ganzen Besitz flüssig machen, im ganzen wenig, etwa zwanzigtausend Papierrubel (gegen 43.000 Mark), und den Erlös übergab er Dimitri Nicolef, ihn für seinen Sohn in Verwahrung zu behalten.
Dimitri war dazu erbötig, ließ davon aber keine Silbe verlauten, so daß selbst Ilka niemals etwas davon erfuhr. Er verwahrte die Summe so, wie sie ihm eingehändigt worden war.
Sollte die Treue aus dieser Welt jemals verbannt zu werden bestimmt sein, in Livland würde sie noch eine Zufluchtsstätte finden. Dort finden sich noch merkwürdige Paare, die einander nach zwanzig- bis fünfundzwanzigjährigem Brautstande heiraten. Wenn sie bis zu ihrer Vereinigung so lange warten, verschuldet das meist ihre noch ungenügend gesicherte Lage, und ohne Beseitigung dieses Hindernisses ist hier eine Eheschließung unmöglich.
Bei Wladimir und Ilka lag ja ein derartiges Hindernis nicht vor; die Vermögensfrage war zwischen beiden überhaupt nie erörtert worden. Das junge Mädchen besaß nichts und der junge Rechtsanwalt erwartete nichts, war ihm doch selbst die Hinterlassenschaft seines Vaters unbekannt. An Talent und Intelligenz fehlte es ihm dagegen nicht, und der Zukunft sah er, soweit das seine Gattin, ihn selbst und auch eine etwaige spätere Familie anging, ohne Sorge entgegen.
Wenn Wladimir auch in der Verbannung schmachtete, wußte Ilka doch, daß er sie ebensowenig vergessen würde, wie sie ihn. Dieses Land ist ja bekanntlich das der »verschwisterten Seelen«. Gar häufig gelingt es solchen freilich nicht, sich auf Erden noch inniger zu verbinden, wenn der Himmel nicht mit ihrer Liebe Erbarmen hat, und ohne sich voneinander losreißen zu können, schließen sie in der Ewigkeit den Bund, den zu schließen ihnen auf Erden versagt war.
Ilka wartete… ihr Herz war weit draußen bei dem Verbannten… sie hoffte, daß eine – ach, so unwahrscheinliche – Begnadigung diesen ihr wieder in die Arme führen würde. Sie erwartete, daß ihr wenigstens die Erlaubnis erteilt würde, sich zu ihm zu begeben, denn sie betrachtete sich nicht allein als seine Braut, sondern auch als seine Gefährtin für dieses Leben. Und doch, was sollte, wenn sie fortging, aus ihrem Vater hier in dem Hause werden, dessen Besorgung bisher ihr oblag und worin, dank ihrer Ordnungsliebe und Sparsamkeit, noch immer eine gewisse Behäbigkeit herrschte?
Dennoch kannte sie noch gar nicht den ganzen Ernst der Verhältnisse. Dimitri Nicolef hatte sich niemals darüber ausgesprochen, obgleich er nichts für ihn Ehrenrühriges zu gestehen gehabt hätte. Warum sollte er aber die Beunruhigungen der Gegenwart noch mit denen der Zukunft vermehren? Sie würde ja alles noch zeitig genug erfahren, und die Stunde dazu rückte immer näher heran.
Der Vater Dimitri Nicolefs, ein Kaufmann in Riga, hatte bei seinem Tode sein Geschäft in sehr traurigem Zustande zurückgelassen. Dessen Liquidation ergab eine Schuldenlast von fünfundzwanzigtausend Rubeln. Um den Namen seines Vaters nicht durch den Makel einer Konkurserklärung beflecken zu lassen, entschloß sich Dimitri, diese Schulden zu bezahlen. Dadurch, daß er alles zu Gelde machte, was er besaß, gelang es ihm, einige tausend Rubel aufzubringen. Für den Rest gewährte man ihm Stundung, und jedes Jahr gelang es ihm, durch seine Tätigkeit einen Teil der Forderungen des Gläubigers zu berichtigen. Dieser Gläubiger war das Haus der Gebrüder Johausen. Gegenwärtig schuldete der für seinen Vater eingetretene Dimitri Nicolef noch die für ihn ungeheure Summe von achtzehntausend Rubeln. Erschwert, ja bis zur Trostlosigkeit erschreckend, wurde die Sachlage noch dadurch, daß die Verfallzeit für den Schuldbetrag in kaum sechs Wochen, am nächsten 15. Mai, herankam.
Daß die Gebrüder Johausen ihm eine weitere Frist gewähren, auf eine nochmalige Prolongation seiner Verbindlichkeiten eingehen würden, konnte Dimitri Nicolef keinesfalls erwarten. Er stand hier nicht nur dem Bankier, dem Geschäftsmanne gegenüber, sondern auch dem politischen Gegner, der in ihm den Rivalen in der antigermanischen Bewegung sah, die vor ihrem Ausbruche stand. Frank Johausen, das Haupt der Firma, hatte ihn durch diese Forderung, diese Schuld – wenn es auch die letzte war – völlig in der Hand, und er würde gewiß unerbittlich sein.
Das Gespräch zwischen dem Arzte, dem Konsul und Ilka dauerte noch eine halbe Stunde fort, und das junge Mädchen zeigte sich höchst besorgt wegen des Ausbleibens ihres Vaters, als dieser endlich an der Zimmertür auftauchte.
Obgleich Dimitri Nicolef erst siebenundvierzig Jahre zählte, sah er doch um zehn Jahre älter aus. Seiner äußeren Erscheinung nach von übermittlerer Größe, hatte er einen schon ergrauenden Bart, ein etwas strenges Gesicht, eine von Runzeln durchschnittene Stirn – von Furchen, worin nur trübe Gedanken und quälende Sorgen aufkeimen zu können schienen – im übrigen aber erschien er recht gesund und kräftig. Von der Jugend her hatte er sich einen bezwingenden Blick und eine klangvolle, eindringliche Stimme bewahrt… jene Stimme, die, nach Jean Jacques Ausdruck, einen Widerhall im Herzen findet.
Dimitri Nicolef entledigte sich seines vom Regen triefenden Mantels, legte den Hut auf einen Stuhl und ging dann zu seiner Tochter, die er auf die Stirn küßte; erst hierauf drückte er den beiden Freunden die Hand.
»Du kommst ja recht spät, Vater, sagte Ilka.
– Ich wurde aufgehalten, antwortete Dimitri. Eine Unterrichtsstunde, die sich unerwarteterweise ausdehnte…
– Nun, so laß uns jetzt den Tee genießen, setzte das junge Mädchen hinzu.
– Wenigstens wenn du nicht allzu ermüdet bist, bemerkte Doktor Hamine. Du sollst dich auf keinen Fall genieren… ich bin nicht zufrieden mit deinem Aussehen… du bedarfst der Ruhe…
– Ja, doch das hat nichts zu bedeuten, antwortete Nicoles. Die Nacht wird mich wieder herstellen. Jetzt wollen wir Tee trinken, liebe Freunde, ich hab' euch ja schon zu lange warten lassen, und wenn ihr's erlaubt, leg' ich mich frühzeitig nieder.
– Was fehlt dir denn, Vater? fragte Ilka, die Dimitri ängstlich in die Augen sah.
– Nichts, liebes Kind, nichts, sag' ich dir. Wenn du dich noch mehr beunruhigst, wird Hamine zu guter Letzt an mir noch eine gar nicht vorhandene Krankheit entdecken, und wär' es nur, um ihm die Befriedigung zu gewähren, mich zu kurieren!
– Es gibt auch solche, von denen man nicht wieder gesundet, antwortete der Arzt kopfschüttelnd.
– Sie haben nichts Neues gehört, Herr Nicolef? fragte der Konsul.
– Nichts… außer daß der General Gorko, der in Petersburg war, nach Riga zurückgekehrt ist.
– Schön, rief der Doktor, ich bezweifle sehr, daß diese Rückkehr den Johausens besonders angenehm sein wird, denn die sieht man da unten doch mit scheelen Augen an.«
Auf Dimitri Nicolefs Stirn zeigten sich schwere Falten. Der Name erinnerte ihn an den bevorstehenden Zahlungstermin, der ihn jedenfalls ganz der Gnade des deutschen Bankiers überlieferte.
Da der Tee fertig war, füllte Ilka die Tassen. Es war eine sehr gute Sorte, obwohl sie nicht, wie der Tee der reichen Leute, das Pfund bis 130 Mark kostete. Glücklicherweise gibt es solchen zu jedem Preise,