Fabio Stassi

Ich töte wen ich will


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er zu hören, wie sie durch den Flur geht, eine Tür schließt, doch weit weg, wie aus einer anderen Stadt. Er hat einen neuen Roman angefangen, es geht um den seltsamen Fall eines Arztes, und er unterstreicht die ersten Zeilen mit einem Bleistift, den er angespitzt hat:

      Rechtsanwalt Utterson war ein Mann mit bärbeißigem Gesicht, das niemals von einem Lächeln erhellt wurde; kalt, wortkarg und verlegen im Gespräch; schwerfällig in seinen Gefühlen; hager, lang, ein verstaubter, trauriger Mensch, und dabei doch in gewisser Weise liebenswürdig.3

      Die nächsten zwei, drei Stunden dieses Nachmittags wird er lesend verbringen, ohne sich zu rühren, wie immer. Wenn da nicht dieser Durst wäre. Wahrscheinlich ist der Ausflug ins Museum Schuld, all diese Gemälde und Statuen, dieses ständige Treppauf, Treppab in einem riesigen Gebäude. Noch immer tun ihm die Beine weh, und er fürchtet, der stechende Schmerz in der Wade werde zurückkommen, der ihn nachts im Bett derart quält, dass er sich zusammenkrümmt.

      Der Arzt hat seiner Mutter gesagt, sie soll ihn viel trinken lassen, Kinder brauchen Flüssigkeit. Es wäre besser, er würde jetzt aufstehen, bevor einer dieser Krämpfe ihm wieder in die Muskeln beißt. Er braucht ja nur in die Küche zu gehen, sich ein Wasserglas zu füllen und es bis zum letzten Tropfen auszutrinken. Danach kann er wieder in Ruhe lesen.

      Also überwindet der Junge die Trägheit, steckt sich den Bleistift in die Tasche, schlägt das Buch zu und legt es auf den Sessel. Er braucht kein Lesezeichen, denn er hat gerade erst mit dem Buch angefangen. Er öffnet die Tür des Zimmers und steht im Flur.

      Den hat sein Vater erst vor kurzem neu streichen lassen, die Farbe haben sie zusammen ausgesucht, ein Hellblau wie das Blau des Zuckerpapiers. Er mag den Farbton, den der Flur annimmt, wenn man abends die Deckenlampen einschaltet. Doch jetzt ist Nachmittag, und aus dem Wohnzimmer kommt ein diffuser Lichtschimmer, der die Wände dunkler macht.

      In der Küche ist niemand. Er öffnet den Kühlschrank. Gestern Abend hat er eine Flasche Cola offen gelassen, sicher ist die Kohlensäure entwichen. Er gießt den Inhalt in ein Glas, immer dasselbe.

      In der Familie hat jeder sein eigenes Glas, das ist nicht schwierig, sie sind nur zu dritt. Das des Vaters ist das größte, auch die Form ist anders, darum hat er oft gedacht, dass sein Vater dem Glas ähnelt, aus dem er trinkt. Ein dummer Gedanke, das weiß er, aber wenn der Vater ein Glas wäre, würde der Junge ihn sich so vorstellen: breiter als die anderen, aus dickem, opaken Glas, so dass man nie sieht, was es enthält.

      Auch seine Mutter gleicht ihrem Glas. Der Hals vor allem, so zart und lang, wie gläsern. Als er kleiner war, nannte er sie meine Giraffe.

      Und er?

      Ähnelt auch er seinem Glas?

      Schwer zu sagen, es kommt ihm nämlich so vor, als hätte sein Körper sich in den letzten Monaten verändert. Er ist gewachsen, nicht viel, aber doch um so viele Zentimeter, dass er es selbst merkt. Seine glatten Haare kräuseln sich jetzt, wenn er sie kämmen will, genügt der Kamm nicht mehr. Am Handgelenk trägt er nun die Uhr, die seine Großeltern ihm zum Geburtstag geschenkt haben.

      Vielleicht wird es jetzt Zeit, sich ein neues Glas auszusuchen, denkt er, aber noch gefällt ihm die Gravur. Immer muss er mit dem Finger darüber streichen. Sie stellt einen Vogel dar, eine große Eule mit angelegten Flügeln. In einem Handbuch hat er gelesen, dass Eulen im Dunkeln sehen können. Aus dem Glas zu trinken, wird auch ihm diese Kraft verleihen. Mit jedem Schluck wird seine Sehkraft besser, davon ist er überzeugt. Er trinkt das schale Getränk und stellt das Glas auf die Arbeitsfläche in der Küche. Im Wohnzimmer erwartet ihn ein Buch, und es verspricht, eine spannende Lektüre zu sein. Der Schmerz im Bein scheint verflogen. Vielleicht kann er ihm heute entgehen. Er ist schon im Flur, als er ein Geräusch hört, ein leises Geräusch, kaum vernehmlich. Wie eine Türangel, die knarrt. Es kommt aus einem der Zimmer. Das wird seine Mutter sein, die irgendwelche häuslichen Angelegenheiten erledigt. Da fällt ihm ein, er hat ihr gar nicht erzählt, dass da im Museum ein Gemälde war, das ihn zum Lachen brachte. Es ähnelte dem Gesicht, das der Vater manchmal beim Abendessen macht. In Wirklichkeit war es kein Portrait, es bildete keine menschliche Gestalt ab. Wenn jemand nachgefragt hätte, er hätte es nicht beschreiben können, es war nur eine chaotische Ansammlung von Linien und geometrischen Figuren, mehr nicht. Trotzdem war ihm das Gekritzel sofort vertraut vorgekommen. Er hatte eine Weile darüber nachdenken und das Bild von verschiedenen Punkten im Saal aus betrachten müssen. Dann hatte er verstanden: In einer Ecke tauchte dieser rundliche, fahle, ahnungslose Gesichtsausdruck auf, den auch seine Mutter so gut kannte.

      Der Vater versteht nicht, was sie beide so amüsiert. Nie würde er vermuten, dass seine Frau und sein Sohn sich mit diesem Gekicher und den Blicken, die sie sich zuwerfen, ausgerechnet über ihn lustig machen. Aber schon seit einiger Zeit stört ihn das Einverständnis zwischen den beiden.

      Anfangs machten ihn seine Wutanfälle noch komischer. Sein Blick verhärtete sich, die Kinnladen zitterten fast. Dann veränderte sich sein ganzes Verhalten. Er fing an, zu übertreiben. Sich mit beiden anzulegen. Der Mutter vorzuwerfen, dass er wie ein Ochse schuftete, während sie sich einen faulen Lenz machte, mit dieser Halbtagsarbeit bei der Stadtverwaltung, die sie ganz in der Nähe gefunden hatte, sie und all ihre Kolleginnen, die zu nichts anderem taugten, als auf dem Balkon zu rauchen und dummes Zeug zu quatschen. Von da an gab es nichts mehr zum Lachen.

      Jetzt passiert es immer öfter. Wenn der Vater abends nach Hause kommt, hadert er mit der ganzen Welt. Die Abendessen enden in eisigem Schweigen, die Stille lastet so schwer, dass der Junge unwillkürlich langsamer isst, langsamer als eine Schnecke: er hat Angst, sogar eine Gabel, die gegen den Teller stößt, könnte den Vater aufregen.

      Darum geht er hinterher immer in sein Zimmer, um zu lesen. Er liest alles, am liebsten aber Romane. Und das tut er mit der gleichen grimmigen Erbitterung, mit der sein Vater von der Arbeit heimkehrt. Die Lampe bleibt bis spät in der Nacht an, obwohl er am nächsten Morgen immer nur mit Mühe aus dem Bett kommt, um zur Schule zu gehen. Zum Glück hat er keine Probleme mit den Lehrerinnen, weil er sich gut ausdrücken kann und ein ausgezeichnetes Gedächtnis hat und alle zufrieden mit ihm sind und er für sie einer der tüchtigsten Schüler an der Schule ist – sie verzeihen ihm sogar seine Zerstreutheit.

      Nein, vielleicht war es besser, der Mutter nichts von dem Bild zu erzählen. Vor ein paar Wochen hat er sie mit den Händen vorm Gesicht auf dem Badewannenrand sitzend gefunden. Sie sagte, sie habe sich gerade gewaschen, aber es war klar, dass das nicht stimmte. Und am Tag darauf geisterte sie mit verstörten Augen und ihrem Glas mit dem langen Hals in der Hand unablässig durch die Wohnung.

      Heute hingegen scheint sie wieder normal zu sein. Sie hat beim Mittagessen sogar Witze gemacht. Und sie hat ihm ein neues Buch geschenkt und gesagt, das habe sie in seinem Alter auch gelesen und in den Jahren danach noch viele Male. Der Junge kann es nicht erwarten, zu erfahren, was in diesem Roman passiert und warum er so berühmt ist. Ob es stimmt, was die Mutter behauptet, dass in allen Menschen etwas Gutes und etwas Böses steckt. Doch da ist wieder das Knarren. Es kommt nicht aus dem Wohnzimmer. Er trägt nur Strümpfe, und im Flur liegt Teppichboden. Er überlegt eine Weile, beschließt, zurückzugehen.

      Er geht wieder an der Küche vorbei, lässt die Badezimmertür hinter sich. Die Tür zum Schlafzimmer der Eltern ist geschlossen. Er versucht, sie zu öffnen, doch sie ist von innen abgeschlossen. Er legt ein Ohr an das weiße Holz. Ja, das Knarren kommt von hier. Mama? ruft er, aber niemand antwortet. Das Schlüsselloch befindet sich genau auf seiner Höhe. Er könnte hindurchschauen. Er schließt ein Auge und nähert das andere dem Schlüsselloch: Im Zimmer ist kein Licht, das schwarze Dunkel ist undurchdringlich. Er will schon gehen, da fällt ihm ein, dass er keine Eile haben darf. So machen es die Eulen, sie hocken einfach da, auf einem Zweig, warten und starren im Dunkel der Nacht einen Wald an, bis ihre Augen leuchten und sich die Umrisse der Bäume vor ihnen abzeichnen, das Gewirr der Zweige, ein rasch vorüberlaufendes Tier.

      Schon meint er Konturen zu erkennen. Er muss sich nur ein bisschen anstrengen, sich an die Dunkelheit gewöhnen, den Blick schärfen, all seine Sinne gebrauchen, wie vor diesem Gemälde. Und endlich erscheint das Zimmer, ein Möbel nach dem anderen.

      Das Sesselchen beim Bett,

      der Nachttisch,