Dan Richter

Improvisationstheater


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wahren Regel-Fetischismus führen. So traf ich einmal auf eine Gruppe, die für sich herausgefunden hatte, dass Synchro-Spiele12 gut funktionieren, wenn handwerkliche Berufe eine Rolle spielen (womit sie ja nicht falsch lagen, da die Körperlichkeit des Handwerks sich für verbale Spiele gut eignet). Irgendwann fuhren sie sich aber derart in dieser Sicht fest, dass sie glaubten, man könne dieses Spiel ohne handwerklichen Beruf überhaupt nicht spielen.

      Auf der anderen Seite sorgen Themen wie tödliche Krankheiten oder sexueller Missbrauch mit großer Sicherheit dafür, dass nicht nur ein leichtes Impro-Spiel ruiniert wird, sondern die ganze Show anschließend darunter leidet. Aber heißt das, dass heikle Themen im Improtheater überhaupt nicht zum Gegenstand von Impro-Szenen werden dürfen?

      Alles, was das konventionelle Drama (inklusive Film und Theater) darf, dürfen wir im Improtheater auch. Aber wenn wir zum Beispiel das Thema AIDS im Improtheater aufnehmen, sollten wir damit so sensibel und behutsam wie möglich umgehen. Das Problem ist nur, dass wir bei solchen Themen ein viel höheres Risiko des Scheiterns eingehen als wenn wir ein vergleichsweise harmloses Thema wie zum Beispiel einen kleinen Ehestreit behandeln. Eine unangemessene Geste, ein idiotischer Satz können bei diesen heiklen Themen schon genug sein, um der ganzen Show einen Anstrich von Geschmacklosigkeit zu geben oder sie gar abstürzen zu lassen. Die Herausforderung besteht dann vielmehr darin, eine angemessene Form zu finden, so etwas auf die Bühne zu bringen.

      Jeder Spieler hat außerdem seine eigenen kleinen „heiklen Themenbereiche“, die einen gewissen Mut erfordern. Aber diesen Mut müssen wir natürlich aufbringen, wenn wir Improtheater zu seinem Recht verhelfen wollen – nämlich tendenziell alles spielen zu können.13

      Unbekannte Territorien betreffen nicht nur die Themen, sondern auch die Formen. Wenn man über Jahre gewohnt ist, Storys oder Impro-Formate auf eine bestimmte Art und Weise aufzuführen, glaubt man irgendwann, das ginge nur so und sonst gar nicht. So sind zum Beispiel Storytelling und Bühnenverhalten im Improtheater heutzutage ziemlich film-geprägt. Monologe und Abstraktionen, wie sie im modernen Theater üblich sind, kommen nur an den dafür vorgesehenen Stellen vor. Das Brechen alter Muster in der Improvisation erfordert ebenfalls Mut. Nur wenn wir alte Bahnen verlassen, wenn wir unser gegenwärtiges Spielen immer wieder auf eingeschliffene Muster überprüfen, werden wir unsere Kreativität wirklich freisetzen können.

       2.6.2Die Angst vorm Urteil des Publikums

       Der Vergleich mit den Mitspielern

      Die Show ist vorbei. Das Publikum klatscht begeistert. Verbeugung des Ensembles. Der Applaus brandet noch einmal auf. Dann der Applaus für die einzelnen Spieler.

      Tom – Applaus und Jubel.

      Sibylle – Applaus, begeisterte Pfiffe.

      Lukas – Applaus, begeistertes Stampfen mit den Füßen.

      Du – lediglich Höflichkeitsapplaus.

      Na? Zwickt es dich? Wenn du diese Situation nicht nur ertragen, sondern wirklich mit Freude genießen kannst, hast du ein großes Impro-Herz.

      Nach der Show grübelst du vielleicht, und dir fällt ein: Ja, Tom war am Ende der letzten Story der strahlende Held, der außerdem noch mit seinem Wissen über moderne soziologische Theorie brillierte. Sibylle hat mit ihrem Gesang alle begeistert. Lukas hat fast jede Szene mit einem urkomischen Satz beendet, der für die größten Lacher des Abends gesorgt hat. Was hast du gemacht? Du hast den Helden unterstützt, indem du einen fiesen Gegenspieler etabliert hast. Du hast der Sängerin Platz gelassen, damit ihre Stimme strahlen konnte. Und du hast die Enden für sich stehen lassen, ohne noch etwas vom Lacher abkriegen zu wollen. Mit anderen Worten: Du hast dafür gesorgt, dass die anderen ihr Potential entfalten konnten. Du hast deine ganze Kraft der Show gegeben. Du bist wahrscheinlich ein guter Improvisierer.

      Lasst euch nicht vom Applaus verführen. Lasst euch schon gar nicht von Lachern und vom Lob verführen. Haltet eure Eitelkeit im Zaum. Vergleicht euch nicht zu sehr mit euren Mitspielern, und vergleicht niemals das Lob, das sie einheimsen mit dem euren. Denn egal, ob ihr bei diesem Vergleich besser oder schlechter abschneidet als eure Mitspieler, das Vergleichen selbst nährt am Ende doch wieder nur die Eitelkeit.

       Die Angst, für dumm, humorlos oder unattraktiv gehalten zu werden

      Viele der bekanntesten Impro-Spiele zielen darauf ab, der Phantasie und der Freiheit der spontanen Assoziation einfach freien Lauf zu lassen. Die Originalität des Unbewussten, das schneller ist als unser Denken wirkt dann oft genial. Oft erreichen dann die Spieler ein Plateau und glauben, nun von der Angst, für dumm gehalten zu werden, befreit zu sein. Aber listig kehrt diese zu unerwarteten Gelegenheiten zurück: Wenn wir darauf kommen, Langform-Impro zu spielen, wenn wir Storys entwickeln wollen, wenn wir Charaktere mit Substanz spielen wollen. Dann flüstert sie tückisch: „Kann ich denn das überhaupt?“. Sie sind manchmal fasziniert von den Fähigkeiten oder dem Wissen ihrer Kollegen und glauben, genau so sein zu müssen. Sie fürchten, nicht nur vom Publikum, sondern auch von den Mitspielern für dumm gehalten zu werden.

      Was deine Fähigkeiten oder die Könnerschaft einer bestimmten Form betrifft, so kannst dir das Training nicht ersparen. Aber: Du kannst trotzdem mutig auf die Bühne springen wie am ersten Impro-Tag, denn Scheitern gehört dazu. Außerdem gibt es nie die eine Art, eine Geschichte zu erzählen. Wenn du deine Kollegin vielleicht dafür bewunderst, wie es ihr gelingt, aus jeder Story-Plattform das herrlichste Melodram zu basteln, so sei dir darüber im Klaren, dass Melodramen zwar bewegend sein mögen, aber längst nicht das einzige Genre auf diesem Planeten.

      Wir müssen auch die Tatsache akzeptieren, dass wir nie so klug sein werden wie unsere Mitspieler. Aber sie auch nie so klug wie wir. Ich beobachte immer wieder, dass Impro-Spieler ein überaus reiches Wissen in den unterschiedlichsten Bereichen haben. Sie haben Lebenserfahrungen gemacht, um die man sie beneidet. Aber sie wagen oft nicht, aus diesem Brunnen zu schöpfen. Im Idealfall ergänzen sich unsere Kenntnisse und Weisheiten perfekt.

      Nutze deine Intelligenz und sei dir deiner Intelligenz bewusst! Leider spielen immer noch viel zu viele Impro-Spieler dumme Charaktere, um nicht für dumm gehalten zu werden. Das mag paradox klingen, aber es scheint zunächst leichter und sicherer, einen betrunkenen Zahnarzt zu spielen, der von nichts eine Ahnung hat, als einen nüchternen, kompetenten. Außerdem kommt der Lacher aus dem Publikum schneller. Natürlich gehen wir ein Risiko ein, wenn wir einen kompetenten Zahnarzt spielen. Aber da müssen wir eben behaupten! Wir dürfen nicht aus Angst, für dumm gehalten zu werden, dumm spielen!

      Die Angst, für humorlos oder langweilig gehalten zu werden, findet auf der Bühne ihr Ventil im Gagging – dem Zerstören einer Szene für den schnellen Lacher.14 Gagging bricht sich auch in anderen Situationen Bahn, zum Beispiel wenn der Spieler die Spannung der Szene, die Verletzlichkeit der Figur oder einfach nur die Stille im Publikum nicht aushält. Niemand will das Publikum langweilen. Das Problem ist nur, dass wir auf der Bühne kaum ein Signal aus dem Publikum bekommen, das uns verrät, ob es sich langweilt oder nicht. Wenn man von extremen Äußerungen wie Jubeln oder Schluchzen absieht, dann ist die einzige regelmäßige akustische Äußerung des Publikums das Lachen. Dieses positive Feedback ist für einige Spieler dermaßen anregend, dass sie nervös werden, wenn einmal nicht gelacht wird.

      Dieses Phänomen beobachten wir auch bei Gruppen, die den Übergang von Kurz- zu Langformen wagen. Klassische Impro-Spiele sind, wenn man sich nur halbwegs anstellt, fast eine Lacher-Garantie, ein Selbstläufer. Langformen funktionieren anders, und zwar selbst dann, wenn man langformatige Comedy spielt. Der Rhythmus der Lacher ist ein anderer, die Art der Lacher abwechslungsreicher. Es geht nicht nur um Gags, komische Figuren und Situationen, sondern um den Aufbau von Spannungsmomenten und einer ganzen Story. Wenn wir aber jeden Story-Ansatz für einen Gag opfern, kann nichts entstehen. Du bekommst zwar vielleicht noch deinen Lacher, aber deine Partner sind nun am Zuge, die Story-Karre wieder zum Laufen zu bekommen. Bei Improvisationen, die nicht in erster Linie auf Comedy abzielen, ist die Herausforderung noch größer: Schweigt das Publikum, weil es sich langweilt oder weil es von der Story gefesselt ist?