kratzten über Stein und hinterließen tiefe Spuren – umsonst. Die Lawine begrub sie unter sich und trug sie durch die Tür und hinunter in den Keller.
Schließlich wurde es um sie herum alles schwarz.
Sie konnte nicht aufhören zu schreien, starrte ins Pechschwarze und fühlte sich eingeklemmt. Das Tier und die Frau in ihr gellten panisch um Hilfe, wollten ausbrechen und alles zerfetzen. Ihre Ohren klingelten wie verrückt, während ihre Lungen nach Sauerstoff lechzten und brannten. Was sollte sie jetzt tun? Was wurde von ihr, dem dressierten Hund, erwartet? Sie ahnte, dass um sie herum es anderen ähnlich erging. Sie wollte nicht sehen, was in der Stadt gerade los war. Und sie wusste auch nicht, ob sie überlebt hatte.
Ihre Klauenhand bekam einen Balken zu fassen und sie zog sich heran, während Schnee, Eis und Geröll um sie knirschten. Sie konnte mit ihrer Kraft zehn Männer töten – und fühlte sich jetzt so hilflos wie ein Kätzchen unter einem feuchten Berg Wäsche. Ganz gleich, was sie tat: es würde nicht genug sein. Es würde nicht reichen. Gib es zu! Es hat niemals gereicht.
Ihr wurde bewusst, was sie fühlte. Sie hatte es gefühlt, als sie gezwungen war, ihren ersten Menschen zu töten, als ihre beste Freundin gestorben war, das Gefühl, das es Zeit war zu gehen, dass es ihr besser ginge, wenn sie tot war.
Es beherrschte sie wieder völlig, als ob es sie nie richtig verlassen hätte. Etwas in uns wollte immer sterben. Keine Vergebung – es gab nie Vergebung im Leben. Was sagte es über eine Person aus, die all die Personen, die sie geliebt hatten, überlebt hatte?
Sie bekam den Kopf frei und stieß gleich mit ihm an die Decke. Gierig saugte sie die Luft ein und verschluckte gleich jede Menge Staub, der sich auf der Eisfläche wie Puderzucker zu haften begann. Sie hustete stark und spürte ihre Beine nicht. Kälte kroch langsam in ihre Knochen – ungewöhnlich für einen Werwolf, denn selbst nackt konnten sie im höchsten Norden Nächtelang ohne Schutz ausharren. Eine neue Erfahrung – jetzt bekam sie wirklich Panik!
Ein unrühmliches Ende für eine der reinsten Geschöpfe unter den Werwölfe. Sie hatte immer geglaubt im Kampf zu sterben oder alt im Kreis ihrer Familie langsam zu entschlafen. Pustekuchen! Tief im Keller unter Tonnen von Schnee und Geröll. Das war ihr Grab.
Oder auch nicht…
Francesco. Alexandra. Mutter. Brain.
Gut, vielleicht nicht Brain.
Sie wollte sie wiedersehen. Um jeden Preis.
Leben.
Sie verfiel in Raserei, bis sie schwitzte. Knackend und knarrend gab die Decke nach und sie schaufelte sie nach draußen. Unbeirrbar. Die nutzlosen Beine hinter sich herziehend.
Verdammte Etikette.
Verdammtes Fürstentum.
Die neue Wut über alles verlieh ihr zusätzliche Kraft und sie stemmte sich gegen die Masse, bis die Zähne knirschten. Dann… Licht!
Hände griffen nach ihr, packten sie an den Armen und an den Schultern und zogen sie heraus.
Sie hatte es geschafft.
Mit einer Decke um die Schulter saß sie frierend da und blickte wild um sich, während überall das reinste Chaos herrschte. Aufgeregt liefen Menschen herum, doch sie verstand kein einziges Wort. Noch immer klingelten ihre Ohren und sie fühlte sich verletzlich. Allein.
Francesco brachte sich in ihr Gesichtsfeld und wedelte mit den Armen. Formte seinen Mund, als wolle er sprechen. Während sie gebannt auf seinen Mund blickte, dachte sie daran, dass er wie ein Fisch aussah. Er wollte etwas sagen.
Langsam kam ihr Gehör zurück.
„… Glück. Wir hatten unverschämtes Glück. Vor allen Dingen du! Kannst du mich hören?“
Sie starrte ihn sprachlos an. Dann ergriff sie seine Schultern und zog ihn an sich heran. Hielt ihn fest.
Und weinte leise in den Armen ihres besten Freundes.
Sie wunderte sich über sich selbst. Sie hatte noch immer Angst eingesperrt zu sein, obwohl sie über sich den freien Himmel sehen konnte. Ihr wurde speiübel bei dem Gedanken daran.
Langsam stand sie auf. Gottlob gehorchten die Beine wieder, was ein Glück war. Außer Schrammen und einigen Prellungen hatte sie sich nicht getan. Als sie ihren Blick wandern ließ, bemerkte sie, dass sie zu den wenigen Glücklichen gehörte.
Sie war auf dem Marktplatz und um sie herum schrien und weinten Menschen, während manche Häuser heil und manche gar nicht existent waren. Um sie herum zu viel Gewusel, zu viel Bewegung, zu viel Geschrei. Sie schloss die Augen und presste die Hände auf die Ohren.
Mach, dass es aufhört!
Sie schrie.
Mit einem Mal wurde es still. Sie öffnete die Augen.
Alle starrten sie an.
Sie konnte sich kaum aufrichten. Ihre Muskeln zitterten.
„Hört her“, sagte sie laut und erschrak, wie brüchig sich ihre Stimme anhörte. „Hört her!“
Jetzt lauter.
„Wir… müssen die Verwundeten in die Burg bringen. Wir haben dort Decken, Stroh und Nahrung. Wir werden den Kamin anmachen und unsere Kräfte sammeln. Wir sind vorbereitet. Und wir werden nach Überlebenden suchen.“ Die Menge sah sie stumm an.
Dann bewegten sie sich plötzlich Richtung Burg. Gut so. Geht ruhig.
Sie sah ihnen nach und spürte, dass es das Richtige war.
„Die Leute kommen in Gruppen zu zweit oder dritt in die Burg und berichten, dass in der Stadt noch Menschen sind, die zu erschöpft sind oder zu viel Angst haben, sich zu rühren. Es sind achtzig Menschen gerade in der Burg und Francesco gibt Anweisungen, nach Überlebenden zu suchen.“ Brain, seines Zeichens Stadtvogt und Geistlicher, bekreuzigte sich und blickte ängstlich zum Himmel hoch. „Wir hatten unverschämtes Glück.“
„Unverschämtes Glück“, wiederholte Claudile und blickte auf die Schneise der Verwüstung, die sich mitten durch die Stadt gefressen hatte: Balken, Ziegel, Holz und Stein zeugten von ehemaligen Menschenbehausungen. „Die Stadt ist tot, Brain. Sie dich doch mal um“, krächzte sie heiser.
Der Mann vor ihr strich sich über den langen Bart. „Quatsch.“
„Bitte?“
„Sie waren alle auf dem Markt, Claudile“, gab er schroff zurück und fasste sie hart an den Schultern. „Du begreifst offensichtlich nicht, wie es gerade um uns steht. Wir haben bis jetzt drei tote Männer geborgen und wir suchen immer noch. Das Sägewerk hat wie durch ein Wunder alles überstanden. Unsere Ärzte sind schon an der Arbeit. Du hast vorgesorgt. Verstehst du denn nicht?“
Claudile starrte apathisch an ihm vorbei.
Er stöhnte leise, als er sich neben sie setzte. „Du bist zu streng mit dir.“
„Gut möglich, dass ich bald keine Fürstin mehr bin.“
„Warum?“
Sie erklärte es ihm stockend.
Er nickte knapp und dann tat er etwas, mit dem sie nicht rechnete. Er nahm sie beiseite. Hielt sie fest. So hatte sie ihr Vater immer gehalten. Fester Griff um Schultern und der kratzige Bart im Nacken.
Sie lächelte dankbar.
Es war, als ob sie jahrelang fort gewesen sei, fern aller Menschheit. In der Burg angekommen, begegnete sie vielen Menschen, und alle wollten auf einmal reden. Auch gut, sie hatte sowieso nichts zu sagen. Sie fürchtete sich vor Erklärungen, die sie würde abgeben musste.
Die Burg war voller Stimmen. Überall trafen sich kleinere Gruppen und redeten immerfort, oder aßen schweigend, was die Küche bereithielt.
„Wie geht es Euch?“
„Gut.