Das war es also. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben. „Ich weiß, es ist schwer hinzunehmen, aber du wirst nie Fürstin sein, denn dein Blut definiert dich. Du bist hier geboren, du wirst hier arbeiten und du wirst hier heiraten und Kinder bekommen.“
Ein Schatten legte sich auf ihren Zügen. „Werde ich hier sterben?“
„Eines Tages, ja. Aber du hast eine große Familie, eine gute Mutter und einen guten Vater. Du weißt, wo sie sind. Willst du wissen, wo mein Vater ist?“
Isabelle blickte sie fragend an.
„Mein Vater ist der Große Khan von Norfesta. Er ist fort. Er verschwand einfach. Ich vermisse ihn.“
„Das ist ungerecht.“
„Ja.“ Claudile stand auf und sah sie prüfend an. „Ich beneide dich, Isabelle. Aber das ist ein Geheimnis zwischen uns, einverstanden?“
Das Mädchen nickte zaghaft.
„Geh nun, und habe Spaß. Es reicht, wenn sich die Erwachsenen Gedanken über diese Welt machen.“
Das Mädchen zögerte kurz. „Darf ich Euch etwas fragen?“
Claudile nickte.
„Wie ist es so?“
„Ein Werwolf zu sein?“
„Fresst ihr Menschen?“
Claudile stöhnte besorgt. „Nein, ich glaube nicht.“
„Ihr glaubt nicht...?“
„Ich tue es nicht“, stellte sie klar. „Meine Brüder sehen das anders, aber ich mag Reh oder mal ein Huhn. Wildschwein ist auch nicht zu verachten. Aber einen Menschen habe ich noch nie gegessen. Stelle dir vor“, sie setzte sich wieder und zeigte auf den nahen Wald, dessen Kiefern sich sanft im Wind bewegten, „du fühlst den Wald und den Wind um deinen Körper. Du riechst die Spuren der Tiere und musst nichts fürchten, denn selbst die Bären fürchten deinen Zorn. Du atmest schneller, kannst selbst die Vögel im hohen Geäst hören und die Kälte des Winters ist nichts als ein zarter Winterhauch. Freiheit. Kraft. Dominanz.“ Sie blickte das Mädchen vor sich an und strich ihr sanft über das Gesicht. „Einsamkeit. Du ahnst nicht, wie einsam man ist. Selbst in einem Rudel gibt es Streit und Neid. Das ist der Preis.“
„Klingt schrecklich.“
„Ich habe nicht darum gebeten. Genauso wenig wie du für deine Stellung. Aber wenn ich wählen dürfte“, sie nickte bedeutungsschwer mit dem Kopf. „wäre ich gerne an deiner Stelle.“
Das Mädchen starrte sie betroffen an, nickte schließlich und ging zurück zu ihrer Familie.
Claudile streifte über den Markt.
Hier und da vermieden die Leute es, in ihre Richtung zu sehen. Sie konnte spüren, dass man ihr misstraute. Das ist in Ordnung, dachte sie bei sich. Ich an eurer Stelle würde mich zuhause einschließen und mich nicht mal auf die Straße trauen. Kein Wunder, dass Pater Brain voller Gram ist und auch kein Wunder, dass Alexandra es vorzieht, als ein Mann von der Stadtwache durchzugehen.
Wo wir gerade davon sprechen…
An einem Stand bemerkte sie den Geistlichen, wie er mit einer Schürze um den breiten Bauch Kisten mit Fisch stapelte. Sein langer Bart glänzte vor Fischschuppen. An den Blicken der Leute bemerkte sie, dass der ältere Mann von allen geachtet und geschätzt wurde. Sie schlenderte langsam heran und besah sich die Auslage.
Als er sie bemerkte, lächelte er grimmig und zog langsam ein Messer zum Fischausnehmen hervor.
„Ich will nichts stehlen.“
„Du würdest auch nichts finden“, grummelte er spöttisch, schnappte sich einen Heilbutt und schlitzte ihn fachmännisch auf. „Man muss ja schließlich von etwas leben.“
„Keine Angst.“
„Ich habe keine Angst! Ich bin zu alt, um mich zu fürchten.“ Mit zwei Fingern holte er die Innereien heraus und warf sie in einen Eimer. „Was willst du?“
„Die Stadt braucht einen Stadtvogt.“
Brain hob eine Augenbraue. „Hah! Ich habe deine Tour gestern zu spät durchschaut. Du bist ein kluges Mädchen – wirfst mit ein paar Münzen um dich und machst dich Liebkind beim Volk. Sogar mich hattest du überzeugt.“ Mit beiden Fingern packte er den Fisch bei den Kiemen und hielt ihn hoch. „Du spielst den Leuten vor, dass wir beste Freunde wären, aber sobald ich dir den Rücken zukehre, reißt du mich in Fetzen und behauptest anschließend, es wären Ganoven gewesen.“
Die Spitze hatte gesessen. „Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen.“
„Siehst du! Von mir kannst du noch etwas lernen.“ Brain packte den Fisch in eine Tüte, griff unter dem Tisch und stellte mit seinen von Blut besudelten Fingern zwei Becher und eine Flasche Selbstgebrannten auf den Tisch vor ihm. „Willst du einen Drink?“
Claudile nickte, ganz der höfliche Gast. Brain schüttete ihr und sich etwas ein und reichte ihr ein Glas. Nachdem er geleert hatte, sah er sie prüfend an: „Warum solltest du das tun? Warum sollte ich das tun? Wir sind keine Freunde!“
„Die Leute sehen zu dir auf. Sie brauchen Hilfe.“ Sie kippte die ölige Flüssigkeit in einem Zug herunter. „Ich bin neu hier, und Francesco war früher Soldat. Er gibt sich Mühe aber das können wir nicht allein. Du bist der Einzige, der uns die Stirn geboten hat. Ja, du hast nichts mehr. Also auch nichts zu verlieren.“ Himmel, das Gesöff war stark genug um beschlagenes Silber glänzend zu machen! „Du stehst jeden Morgen auf und leerst die Spänebottiche im Werk. Du gehst bei deinem Freund Michel auf dem Fischmarkt aushelfen und isst jeden Mittag dort Fisch, den du umsonst bekommst. Die paar Münzen reichen gerade mal so für die Miete. Du hast Kraft und du bist überzeugt davon im Recht zu sein.“
Brain runzelte die Stirn und sah sie aufmerksam an.
Für Claudile ergab die Wahl Sinn – für sie war Brain ein Querulant, ein alter Mann mit einer Vorgeschichte, der sicherlich von jedem in der Stadt akzeptiert wurde. Er war aber auch erfahren und nahm kein Blatt vor dem Mund. Er würde immer die Wahrheit sagen. Darauf baute sie. Wenn sie ihm Freiraum gab, konnte er ihr noch nützlich sein. Schlaue Tiere ließen sich leichter zähmen.
Brain fiel nicht darauf rein. „Ich arbeite nicht für dich! Für einen Werwolf arbeiten!?“
Claudile ließ sich nicht so leicht abschrecken. „Mmh, das erschwert die Sache. Ich könnte auch jemand anderen fragen“, bemerkte sie beiläufig. „Unser Haushalter würde sicherlich nicht Nein sagen.“
Brains Miene wurde eine Spur dunkler. „Fritz!? Diese kleine Ratte kriecht nur zu gerne in andere Leute Ärsche. Er ist kein moralischer Mensch.“ Brain merkte, dass Claudile ihn unter Druck setze. „Mmh, ich gebe dir Bescheid.“
„Wann?“
„Wenn ich so weit bin, verstanden?“ blaffte er. Mit seiner schwieligen Hand fuhr er sich über den langen Bart. „Ich traue ihm nicht.“
„Wem?“ fragte Claudile unschuldig.
„Fritz.“ Er bedeutete ihr näherzukommen. „Hat sich schon früh für die hohen Herren auf der Burg interessiert. Ich kenne ihn noch aus einer Zeit, in der wir beide noch grün hinter den Ohren waren. Wollte immer wie sie sein. Ganz oben. Kaum war er als Lakai eingestellt, grüßte er niemanden mehr. Irgendwann kam er nicht mehr in die Stadt. Das geht jetzt schon seit Jahren so. Mit dem Baron Mattes Lyren war er dicke.“ Er nickte bedeutungsschwer. „Sie waren Freunde, so scheint es. Es kam mir immer so vor, als wolle er lieber einer von euch sein.“
„Ein Werwolf!? Er?“ Claudile lachte trocken. „Tja, er scheint sich dafür zu interessieren. Hat ein Buch über eine Art Gottheit. Ein sakraler Führer oder so.“ Sie warf dem Geistlichen einen Blick zu. „Seltsam, oder?“
Er