kam gerade aus der Toilette, als sein Boss ihn fast umrannte. „Darf man denn hier nicht einmal zum Pinkeln?“, fragte der Mitarbeiter scharf. Etwas verdattert, aber schlagfertig, legte Thor seinen Arm um ihn und schob ihn in sein Büro. Der Chef wusste genau, dass sein Mitarbeiter mit Berührungen am ehesten zu beruhigen war. „Björn, hör zu! Setze dich bitte in den nächsten Flieger nach London und kontaktiere Mr. Fitzgerald im British Museum. Ich habe ihn schon per E-Mail verständigt, er erwartet dich. Du musst mit ihm – ich weiß er ist der beste Spezialist dafür – Du musst mit ihm heraus-finden, was es mit dem kleinen Hundeknöchelchen auf sich hat! Woher kommt das? Gibt es noch mehr Material für unsere Sequenzierungen?“ „Chef, was ist das für ein Kamikaze-Auftrag! Glauben Sie wirklich, ich kann da etwas erreichen? Das gibt doch nur eine nette Sightseeing-Tour!“ „Wenn du die Sache so angehst, natürlich! Hey Junge, ich erwarte etwas mehr Biss“, konterte der Chef. „Ich bin doch kein Vampir!“, gab Björn sehr schlagfertig zurück. „Du hockst so schnell als möglich im Flieger und siehst, was du erreichen kannst! Hugh! Ich habe gesprochen!“ Immer wenn Thor diese Floskel frei nach Karl May deklamierte, wussten seine Mitarbeiter, dass alle Diskussion vergeblich war.
Noch am gleichen Tag gegen Abend saß Björn in einem Billig-Flieger nach Stansted. Er nahm den Express-Bus nach Kings Cross und lief zu einem nahegelegenen Hostel, wo er ein Zimmer gebucht hatte. Er wollte das Reisebudget des Instituts nicht allzu sehr mit seiner Vergnügungsreise belasten und war immer noch nicht überzeugt, dass er die kleinste Chance auf einen Erfolg haben würde. Am nächsten Tag frühstückte er Toast, Margarine mit Buttergeschmack und Jam, im Keller des Hostels zu einem dünnen Kaffee und nahm ein Taxi von Kings Cross, wohl wissend, dass es nach Holborn zum Museum nicht weit war. Noch immer hatte er den muffigen, ungelüfteten Geruch der Kissen und Decken des Hostels in der Nase. Pünktlich um 10 Uhr war er da und Mr. Fitzgerald empfing ihn, wie verabredet, am Haupteingang. „Welcome Björn! I am Patrick!“, sagte Fitzgerald, gab ihm die Hand und umfasste mit seiner anderen Björns Unterarm. Dieser fragte sich sofort, ob wohl Patrick so wie er gepolt war? Auszuschließen war es nicht! Nachdem beide gemerkt hatten, dass Björns Englisch etwas holprig war, schwenkte Patrick in eine Art Schwyzerdütsch um. „Du musst wissen, ich habe eine Weile in Bern gelebt“, erklärte er. Björn war erleichtert und Patrick kam mit seinem Leipziger Dialekt gut zurecht.
Patrick zeigte ihm in einem kurzen Schnelldurchgang das Wichtigste des Museums und dann verzogen sie sich in das riesige Asservaten-Lager. „Thor hat mir schon von seiner bahnbrechenden Entdeckung berichtet.“ Patrick zog eine Schublade auf und Björn sah etwa 200 Knöchelchen dort liegen. Alle sorgfältig nummeriert. „Hier, Nummer '192837', müsste euer Goldstückchen sein. Siehst du, hier wurde die kleine Probe für Eure Sequenzierung entnommen.“ Björn war verblüfft, dass sich das alles so geordnet anließ. „Was sind das andere für Knochen?“, fragte Björn. „Nun, das müssten zunächst alle sein, die damals von Carter gefunden wurden. Ich habe das Dokument von Carters 'Servant' gelesen, das mir Andromeda von euch in Leipzig geschickt hatte. Sie hat wirklich einen tollen Fund gemacht.“ Manchmal fiel Patrick das deutsche Wort nicht ein und er beließ es beim Englischen. „Das heißt, dass wir alle diese 200 Proben sequenzieren müssten, um zuordnen zu können, welche Knochen zusammen gehören!“ Björn trat der Schweiß auf die Stirn. Er sah schon, dass diese Arbeit an ihm hängen blieb. „Das ist doch nicht alles! Hier, die nächsten Schubladen beinhalten auch Knochen aus der Ausgrabungskampagne von Carter. Diesmal waren allerdings große Ober- und Unterschenkelknochen dabei, die Björn eindeutig als ‚human‘ einordnete. „Diese kommen wohl nicht in Frage, die sind doch nicht vom Hund, oder?“, stellte er fest. „Wohl kaum!“, bestätigte Patrick.
„Habt ihr denn eine Ahnung, von welchem Körperteil dieses Hundeknöchelchen sein könnte?“, fragte Björn. „Nein, nicht wirklich!“ erwiderte Patrick enttäuscht. Sie schauten sich alle Fundstücke genau an und wurden immer ratloser. Die Zeit verflog wie im Fluge.
Schließlich schob Patrick alle Schubladen wieder zurück und sagte zu Björn: „Ich sehe, wir kommen nicht weiter! Wir brauchen eine Luftveränderung! Ich habe da eine Idee, komm mit!“ Patrick nahm Björn am Arm, sie verließen das Museum und stiegen ins nächste Londoner Taxi. „To London Eye please“, gab Patrick dem Driver Anweisung und kurz darauf fand sich Björn in einer Glasgondel des Londoner Riesenrads wieder. Patrick wusste natürlich nicht, dass Björn extreme Höhenangst hatte. Dieser hielt sich schon gleich zu Anfang auf der hölzernen Sitzbank fest und vermied es, nach unten zu schauen. „Na, habe ich dir zu viel versprochen? Das ist doch eine echte Luftveränderung! Wir werden 135 m über der Stadt kreisen! Da ist die Luft viel besser!", triumphierte Patrick. „Wenn du meinst“, erwiderte Björn kleinlaut. Als sie ganz oben angelangt waren, konnte sich Patrick nicht mehr halten und zog Björn am Arm von der Mitte an die Glaswand. Björn schrie nur: „Nein! Nein! Ich habe extreme Höhenangst!“ Er wurde ganz panisch und Patrick schlang seine Arme wie zum Schutz um ihn. Dabei kam seine Hand an Björns Schlüsselbein, das ziemlich heraus stand. Björn stürmte zurück auf die Holzbank, schloss die Augen und setzte sich. „Das ist es: 'Schlüsselbein'! Das ist die Lösung! Ich bin sicher, der kleine Knochen ist ein Teil eines Hunde-schlüsselbeins.“ Björn verstand gar nichts mehr und wollte in seiner Panik nur raus. Patrick hatte alle Mühe, ihn davon abzuhalten, den 'Not-Aus-Knopf' zu drücken. „Sorry, Patrick, aber ich muss mich jetzt etwas erholen. Das war zu viel für mich! Außerdem geht mein Rückflug in vier Stunden. Ich sollte mich auf die Socken machen.“ Er ließ Patrick wie einen begossenen Pudel mit einem Hundeschlüsselbein stehen.
Am nächsten Tag hatte Thor großspurig ein Gruppenseminar mit dem Titel ‚Björn berichtet über die Recherche-Ergebnisse im British Museum‘ angekündigt. Auch Andromeda wurde eingeladen. Björn schwante schon zu Anfang, dass dies sein Waterloo bedeuten würde. Alle saßen gebannt im Seminarraum und der Beamer summte. Björn kam mit hochrotem Kopf herein und stellte sich an das Rednerpult. "Ja, Herrschaften…“ stotterte er. „Ergebnisse wollt ihr hören …“, er räusperte sich erneut. Dann deklamierte Björn mit einem vielsagenden Lächeln: „Patrick hat mir im London Eye ganz oben an mein Schlüsselbein gefasst und meinte, das Knöchelchen sei ein Teil eines Hundeschlüsselbeins. Keine Ahnung, wie er dazu kommt! Das war's!“ „Was? Das war's?“, empörte sich Thor. „Ja“, Björn schaltete den Beamer aus und fragte: „Sonst noch Fragen?“ Da meldete sich Andromeda: „In dem Bericht von Carters Diener ist die Rede von einer ganzen Reihe von Knochen, die zusammen gefunden wurden. Wie viele sind das denn und sind die alle erfasst und katalogisiert?“ „Gute Frage, Andromeda!“, heuchelte Björn. Er wollte dieses Thema eigentlich vermeiden. „Ja, es sind etwa 250 Knochen, aber auch viele eindeutig humanen Ursprungs, Oberschenkel, Ellen, Speichen, Rippen.“ „Na, das ist doch etwas! Ran an den Speck! Fitzgerald soll Proben nehmen, wir sequenzieren alle, zumindest einige wichtigen Gene von jeder Probe zur Eingruppierung!“ Björn wurde bleich. Das war Arbeit für ein Jahr! „Wenn sie meinen Chef“, sagte er kleinlaut.
Björn war nur noch am Sequenzieren. Er hatte mit den kleinen Knochen begonnen, weil er dachte, dass er bei denen eher eine Chance hätte, ein Canoidea-Gen zu finden. Aber sie waren alle von humanem Ursprung. Als letztes nahm er sich die Probe Patricks von dem großen Oberschenkelknochen vor. Er war völlig demotiviert und wollte schon kündigen. Da geschah es: er fand eine Übereinstimmung von 99,8%. Das Hundeschlüsselbein und der Menschenoberschenkelknochen waren eindeutig von ein und demselben Individuum! Wie konnte das sein?
Thor erzählte Andromeda von den Ergebnissen und die sagte nur kurz: „Ich hatte gleich an 'Anubis' gedacht, als ihr dieses 'Hucanoidea-Genom' beschrieben hattet.“ „Können wir es wagen, eine solche These ernsthaft in einem seriösen wissenschaftlichen Journal zu publizieren?“ Thor war das erste Mal in seinem Leben ratlos.
Leipzig, 2054 n.Chr.: Andromeda erleidet einem literarischen Interruptus
Sie sehnte sich im Stillen einen Orgasmus herbei und scrollte in dem bei eBay gekauften Dokument, um wieder eine ‚scharfe‘ Stelle zu finden. Der Zusammenhang an sich interessierte sie zunächst weniger. Der erschien ihr in dem gefundenen ‚Werk‘ eh sehr wirr. Ihre Augen stolperten über einen Begriff als Überschrift, der sie neugierig machte:
‚Schwefelgasig‘