Wieder unterbrach die Dame ihre Nichte.
„Das geht nicht, Amelie. Wie sollen wir den riesigen Baum nach Hause bringen? Ein kleiner tut es doch auch. Und außerdem finde ich es schrecklich, dass so viele Bäume einfach abgeschlagen werden. Dauernd liest man, wie wichtig die Bäume sind, und dann holzt man sie einfach ab. Ein Baum mit Ballen ist wesentlich sinnvoller."
Philipp, der die Enttäuschung im Gesicht des Mädchens, das die Frau Amelie nannte, sehr wohl sah, nahm all seinen Mut zusammen.
„Leider muss ich Ihnen widersprechen, gnädige Frau. Diese Bäume werden extra für Weihnachten angepflanzt. Sie fügen der Natur bestimmt keinen Schaden zu, wenn Sie die große Tanne kaufen. Und was den Transport betrifft, so helfe ich Ihnen gern. Natürlich bekommen Sie den Baum von uns frei Haus geliefert.“
Amelie warf Philipp einen dankbaren Blick zu und drückte den Arm ihrer Tante.
„Bitte, Tante Charlotte, sag doch ja! Ich werde ihn selbst schmücken. Du hast bestimmt keine Arbeit damit. Er soll der schönste Baum werden, den wir je gehabt haben.“
Die Dame seufzte. „Also gut, junger Mann. Wenn das stimmt, was Sie sagen, dann kaufe ich den großen Baum.“
„Wann darf ich ihn bringen?“
„Am besten noch heute. Ab sechs Uhr sind wir zu Hause.“
„In Ordnung.“
Philipp holte sein Notizbuch hervor und notierte die Adresse. Nachdem die Dame den Baum bezahlt hatte, zwinkerte Amelie Philipp verschwörerisch zu.
„Danke“, flüsterte sie und beeilte sich, ihrer Tante zu folgen.
„Machst du immer auf vornehm?", fragte Alexander Freybier und schmunzelte. „Deine gnädige Frau war bühnenreif.“
Philipp zuckte die Schultern. „Ich konnte ja schlecht Tante Charlotte zu ihr sagen. Ein bisschen Höflichkeit wirkt manchmal Wunder. Außerdem tat mir die Kleine leid. Haben Sie mitbekommen, wie sie ihre Tante angebettelt hat? Ich wette mit Ihnen, sonst denkt diese Frau keine Sekunde über die Natur nach.“
Alexander Freybier drohte scherzhaft mit dem Finger.
„Ach, so ist das — du hast an das Mädchen gedacht!“
Philipp lachte ihn an. „Haben Sie gesehen, wie glücklich die Kleine war, als ihre Tante den Baum kaufte?“
„Hab' ich nicht, Junge, denn schließlich haben wir auch noch andere Kundschaft.“
In der nächsten halben Stunde war Philipp so beschäftigt, dass er nicht mehr an das junge Mädchen dachte. Kurz vor sechs Uhr kam Alexander Freybier zu ihm.
„Wir machen dicht, Junge. Wenn du willst, nehme ich dir die Fuhre ab.“
„Nein, nein, Chef! Die Jägerstraße liegt doch auf meinem Weg. Ich nehme den Anhänger.“
Sekundenlang sah Alexander Freybier seinen Verkäufer erstaunt an, dann brach er in schallendes Gelächter aus.
„Die Kleine hat es dir wohl angetan, was?“
Philipp, der schon im zweiten Jahr für Alexander Freybier arbeitete, kannte seinen Chef genau. Deswegen nahm er ihm auch den Spott nicht übel.
„Klar, Chef. Die Kleine ist echt niedlich.“
„Dann stiefele los, du verliebter Kater! Aber pass auf, dass die Tante nicht den Kopf abreißt.“
„Werde ich, Chef! Soll ich morgen wieder hierherkommen, oder haben Sie einen anderen Platz für mich vorgesehen?“
„Eigentlich nicht. Der Weihnachtsmarkt ist ideal für dich. Pietro macht seine Sache draußen am S-Bahnhof recht gut. Und der Sepp ist auch ein alter Hase. Ich komme nachmittags wieder vorbei und schau' mal nach, ob du Nachschub brauchst.“
„Okay, Chef, dann bis morgen.“
Philipp fror erbärmlich, als er durch die überfüllten Straßen der Innenstadt fuhr. Trotz seines dicken Mantels schien die Kälte in ihm hochzukriechen. Jetzt hilft nur noch eine heiße Dusche, dachte er, aber zuerst würde er den Baum abliefern.
Der Gedanke an das Mädchen ließ ihn schmunzeln. Sie hatte wirklich niedlich ausgesehen. Eigentlich war er nicht sonderlich neugierig, aber es interessierte ihn, weshalb sie bei der Tante lebte. Ein lautes, aggressives Hupen riss ihn aus seinen Gedanken. Philipp gab Gas und konzentrierte sich auf den Verkehr, der noch zuzunehmen schien.
Nach einer Viertelstunde hatte er die Jägerstraße erreicht. Langsam fuhr er weiter und suchte das Haus, in dem die Dame wohnen sollte.
Das letzte vor der Kreuzung musste es sein. Philipp hielt an und band den Baum los. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als er auf den Klingelknopf drückte. Charlotte Schachten, diesen Namen hatte sie ihm genannt, wohnte im Erdgeschoss.
„Ach, Sie sind es!“, rief sie, als sie ihn erkannte.
„Wo darf ich den Baum abstellen?“
„Im Keller vielleicht? Nein, im Garten. Entscheiden Sie, was besser ist.“
„Wenn es im Garten eine geschützte Stelle gibt, würde ich den Baum da abstellen. Haben Sie einen großen Eimer?“
„Warten Sie einen Moment. Ich bin gleich wieder da.“
Während er wartete, sah sich Philipp unauffällig in der Diele um. Sie war recht klein, aber behaglich eingerichtet. Ein bunter Teppich lag auf den hellen Fliesen, und einige Haken in der Wand dienten als Garderobe. Und dort entdeckte er den feuerroten Anorak, den das blonde Mädchen getragen hatte.
„Hier ist der Eimer. Kommen Sie, junger Mann. Ich zeige Ihnen, wo Sie den Baum abstellen können.“
Charlotte Schachten nahm die Schlüssel und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Philipp folgte ihr durch den Flur hinaus in den Garten.
„Hier an der Hauswand vielleicht? Ist es hier geschützt genug?“
Nachdem Philipp den Baum ins Wasser gestellt und gesichert hatte, ging er mit der Frau zurück in den Hausflur.
„Zu dumm“, meinte Frau Schachten kopfschüttelnd. „Jetzt habe ich meine Geldbörse vergessen. Haben Sie noch einen Moment Zeit? Sie müssen doch ein Trinkgeld bekommen.“
Philipp wollte schon verlegen ablehnen, doch dann besann er sich. Vielleicht konnte er Amelie doch noch sehen? Frau Schachten öffnete die Wohnungstür und bat ihn in die Wohnung. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, ging sie in die Küche.
„Wo habe ich denn nur das Geld?“, murmelte sie vor sich hin.
„Nein, Lisa“, hörte Philipp plötzlich die Stimme des Mädchens aus dem Nebenzimmer. „Tante Charlotte will einfach keinen Hund. Sie sagt, er macht Dreck und kostet Geld.“
Unwillkürlich hielt Philipp den Atem an, um besser zu verstehen, was sie sagte.
„Ich weiß, Lisa. Aber was soll ich machen? Der Cocker ist viel zu teuer. Von meinem Taschengeld kann ich ihn nie bezahlen. Du kennst doch meine Tante.“
Die Stimme wurde immer leiser, sodass Philipp Mühe hatte, dem Telefonat, um das es sich zweifellos handelte, zu folgen.
„... kostet Futter und Tierarzt... für die Schule...“
So sehr Philipp sich auch anstrengte, er verstand kein Wort. Sekunden später stand Amelie vor ihm.
„Hallo!“, begrüßte sie ihn unbefangen. „Wo ist der Baum?“
Philipp, erschrocken und verlegen zugleich, sah sie stumm an.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?“
Philipp räusperte sich. „Der Baum steht im Garten. Deine Tante wollte...“
„Hier, junger Mann! Es hat etwas länger gedauert, aber meine Geldbörse war spurlos verschwunden. Vielen Dank auch.“