griff in ihre Tasche, doch Philipp kam ihr zuvor.
„Bitte, lass mich bezahlen.“
„Also gut, wenn du unbedingt willst.“
„Ja, und ich will noch mehr. Sehen wir uns wieder?“
Amelie wurde verlegen und beugte sich noch tiefer über ihre Sporttasche. Trotzdem sah Philipp die leichte Röte, die ihr Gesicht überzog.
„Von mir aus. Wir könnten uns vielleicht nach der Schule treffen“, schlug Amelie leise vor.
„Das geht leider nicht. Ich muss doch Weihnachtsbäume verkaufen. Vor sechs Uhr abends kann ich nicht.“
Amelie hob den Kopf. „Dann komme ich morgen auf den Weihnachtsmarkt“, verkündete sie zu seinem Erstaunen. „Wir könnten anschließend noch ein wenig bummeln, ja?“
„Super! Ich freue mich sehr. Ab sechs Uhr habe ich frei. Dann bleiben uns noch drei Stunden. Außer meinem Stand habe ich noch nicht viel vom Weihnachtsmarkt mitbekommen.“
„Also abgemacht! Ich hole dich kurz vor sechs ab.“
Auf der Straße streckte sie ihm lächelnd die Hand entgegen.
„Bis morgen, Philipp! Und nochmals vielen Dank!“
Erst als sie um die Ecke verschwunden war, ging Philipp zu seinem alten Auto.
3
Amelie hatte ihre Vespa zu Hause gelassen. Tief in Gedanken versunken schlenderte sie in Richtung Marktplatz, wo die vielen kleinen Holzbuden für den Weihnachtsmarkt aufgebaut worden waren. Die engen Geschäftsstraßen waren hell erleuchtet.
Unzählige Glühbirnen, zu Sternen, Kerzen oder als Lichterkette angeordnet, verbreiteten ein warmes Licht. Auch die Schaufenster waren weihnachtlich dekoriert und zogen die Kunden wie magisch an. Immer wieder blieb Amelie stehen, um die verschiedenen Auslagen zu betrachten.
Sie liebte die Adventszeit, nur vor Weihnachten selbst fürchtete sie sich. Heiligabend und der erste Weihnachtstag führten ihr immer wieder vor Augen, wie einsam sie in Wirklichkeit war, denn außer ihrer Tante und ihrem Vater hatte sie keine Verwandten.
Ihre Mutter war schon vor Jahren gestorben, und ihren Vater, der bei der Bundeswehr beschäftigt war und meistens im Ausland aufhielt, bekam sie nur noch selten zu Gesicht.
In den letzten Jahren hatte sich der Verdacht erhärtet, dass er die Feiertage freiwillig bei einem Auslandseinsatz verbrachte. Bestimmt mochte er Weihnachten nicht! Sie selbst musste an den Feiertagen immer an ihre Mutter denken.
Das letzte Fest, das sie gemeinsam erlebt hatten, war traumhaft gewesen. Ihre Mutter hatte eine riesige Tanne geschmückt und im Wohnzimmer aufgestellt. Jedes Zimmer, auch die Diele war festlich dekoriert gewesen, und Amelie glaubte noch heute, den Duft der Plätzchen zu riechen, der durch das ganze Haus gezogen war.
Schon in der Adventszeit hatte sie mit ihrer Mutter, die immer lustige Geschichten erzählt hatte, stundenlang in der Küche gesessen und gebacken oder gebastelt. Das letzte Weihnachtsfest würde für immer in ihrem Gedächtnis haften bleiben, jede Kleinigkeit, jede winzige Begebenheit war ihr gegenwärtig. Schon am Heiligabend hatte sie das Wohnzimmer nicht mehr betreten dürfen.
„Das Christkind ist da“, hatte ihre Mutter ihr erklärt. „Wenn du neugierig bist, wird es böse und nimmt alle Geschenke wieder mit."
Amelie hatte mit klopfendem Herzen zugehört und ihre Ungeduld bezähmt. Nein, das Christkind durfte man nicht ärgern! Sie war in ihr Zimmer gegangen und hatte mühsam die Geschenke eingepackt, die sie für die Eltern gebastelt hatte.
Als sie später in die Küche gekommen war, hatte ihre Mutter sie in die Arme genommen und sich mit ihr in die gemütliche Essecke gesetzt.
Um die Wartezeit zu verkürzen, hatte sie aus ihrer eigenen Kindheit erzählt. Eigenartig konnte Amelie sich nicht daran erinnern, wo ihr Vater an diesem Nachmittag gewesen war. Er war erst gegen Abend in die Küche gekommen, um mit ihnen zu Abend zu essen.
Anschließend hatten sie gemeinsam einen langen Spaziergang gemacht. Damals hatte Luna, ihr Cockerspaniel, noch gelebt.
Amelie seufzte und ging weiter. Warum musste sie ausgerechnet heute an das letzte gemeinsame Weihnachtsfest denken? Während sie in Richtung Weihnachtsmarkt schlenderte, wanderten ihre Gedanken wieder zurück in die Vergangenheit.
Drei Monate später war ihre Mutter gestorben. Es war schrecklich gewesen, und Amelie hatte tagelang geweint. Ihr Vater hatte das Haus verkauft und war schon zwei Wochen später wieder zu einem Auslandseinsatz aufgebrochen. Amelie hatte er bei Tante Charlotte, seiner Schwester, zurückgelassen.
Eines Tages war auch Luna verschwunden gewesen. Bis heute hatte sie keine Ahnung, was aus dem Hund geworden war. Entschlossen schob Amelie die trüben Gedanken beiseite.
Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Ihre Mutter war tot, und ihren Vater sah sie zweimal im Jahr. Sie konnte froh sein, dass Tante Charlotte sie aufgenommen hatte, denn sonst wäre sie unweigerlich in einem Kinderheim gelandet.
Amelie war auf dem Weihnachtsmarkt angelangt und bahnte sich einen Weg durch die dichte Menschenmenge.
»I'm dreaming of a white Christmas«, tönte aus einem Lautsprecher und Amelie lief ein Schauer über den Rücken.
Weiße Weihnacht — wie sehr wünschte sie sich das. Schön seit Jahren lag zu Weihnachten kein Schnee mehr. In diesem Jahr sah es allerdings ganz so aus, als ob es eine weiße Weihnacht geben würde. Schon seit Tagen war der Himmel mit dunklen Wolken verhangen, und es war eisig kalt.
„Ich rieche Schnee", pflegte Lisa, ihre Freundin, in jeder Pause zu sagen. Amelie war nicht sicher, ob sie wirklich Schnee roch oder es nur behauptete, denn Lisa wollte in den Weihnachtsferien Skiurlaub machen. Vor einem Karussell blieb Amelie stehen.
Eine Weile sah sie den Kindern zu, die mit strahlenden Gesichtern und glänzenden Augen Kreise drehten. Etwas wie Eifersucht schlich sich ein, als sie die Eltern der Kinder sah, die am Rand des Karussells warteten. Schnell wandte Amelie sich ab. Jetzt bereute sie es, dass sie so früh losgegangen war, Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit, bis sie Philipp abholen konnte. Philipp?
Der Gedanken an ihn erhellte Amelies Gesicht. Er war sehr nett. Ganz anders als die Jungs, die sie bisher kennengelernt hatte. Sie hatte vor einigen Monaten ihre Beziehung mit Hannes beendet. Der Junge dachte nur an Fußball und Sex. Das empfand Amelie nicht als Grundlage einer Beziehung. Er war ein arroganter Angeber, der nach der Trennung allen erzählte, sie wäre eine geile Fotze im Bett. Sie war froh, mit diesem Typen Schluss gemacht zu haben.
Und Simon? Er war auf Hannes gefolgt. Sie kannten sich schon von der Grundschule her und waren zusammen aufs Gymnasium gegangen. Simon war immer eine Art Bruderersatz für sie gewesen. Leider war er vor einem Jahr nach Österreich gezogen. Sie hatten eine kurze, sehr leidenschaftliche Beziehung geführt, deren Grundlage die sexuelle Befriedigung war. Amelie liebte den Sex, wenn sie den Jungen mochte. Mit Simon war sie noch immer in Kontakt. Sie schrieben sich per eMail oder über WhatsApp regelmäßig Neuigkeiten aus ihrem Leben.
Amelie seufzte wieder. Was war bloß mit ihr los? Warum musste sie nur immer an früher denken? Angewidert beobachtete Amelie einen alten Mann, der reichlich betrunken war.
Gierig verschlang er eine Bratwurst, während er gefährlich von einer Seite zur anderen schwankte. Als er ihren Blick bemerkte, verzog er den Mund zu einem Lächeln, das seinen zahnlosen Mund entblößte.
Hastig wandte Amelie sich ab und lief weiter. Vor einem Stand mit Weihnachtskugeln machte sie halt. In Gedanken ging sie den eigenen Bestand an Baumbehang durch. Nein, sie brauchte nichts mehr. Und doch reizte es sie, wenigstens ein neues Stück zu kaufen. Bisher hatte sie nur den Schmuck der Mutter verwendet.
Da ihre Tante in all den Jahren nur einen kleinen Baum gekauft hatte, war immer viel zu viel dagewesen. In diesem Jahr konnte sie endlich einmal allen Baumschmuck verwenden. Und doch wollte sie ein neues Teil haben eins,