Hannah Rose

Russell - Rollentausch


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gesehen hatte, hatte er sich spontan entschieden, hinzugehen und mitzumachen. Doch jetzt spürte er eine nervöse Erregung – nicht des Vorsprechens wegen, sondern beim Gedanken daran, Anouschka vielleicht endlich ein bisschen besser kennenlernen zu können. Und er war schon sehr gespannt, ob er nun mehr über sie erfahren würde, als dass ihre Eltern noch vor ihrer Geburt aus Russland eingewandert waren.

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      Als Russell an diesem Nachmittag seine letzte Unterrichtsstunde beendet hatte, ging er direkt zum Raum der Theatergruppe, stieß die Doppeltüren auf und trat ein. Er sah sofort, dass sich bereits eine kleine Gruppe an Schülern versammelt hatte, überflog die Gesichter und fühlte eine plötzliche Enttäuschung, als er Anouschka nicht unter ihnen ausmachen konnte.

      »Ah, wie schön, noch ein Bewerber«, zeigte sich die Schauspiellehrerin erfreut und schaut von ihrem kleinen Auditorium zu ihm hinüber. »Verrätst du uns deinen Namen?«

      »Russell«, murmelte er und spürte, wie er direkt errötete, was immer geschah, wenn er vor einer Menschenmenge sprechen musste – denn das war anders, als oben auf der Bühne zu stehen. Jetzt musste er, er selbst sein – und er hasste nichts mehr als Aufmerksamkeit jeglicher Art, die sich auf sein wahres Ich bezog.

      »Nun, Russell«, fuhr die Lehrerin mit einem seltsamen Lächeln fort, »warum setzt du dich nicht dort hin? … Aber ich würde mir wünschen, dass du ein bisschen mehr aus dir herauskommst, wenn es gleich ans Vorsprechen geht.«

      Russell hatte Miss Stafford schon einmal gesehen und wusste, dass ihr den Ruf vorausging, etwas verrückt zu sein. Doch heute war es das erste Mal, dass er ein Wort mit ihr wechselte. Sie hatte etwas Komisches an sich, dass er nicht gut einsortieren konnte. Sie war hübsch für eine Frau ihres Alters, aber nicht gerade eine, auf die jüngere Männer noch anspringen würden. Sie hatte mehr von einem französischen Filmstar der 1930er oder 40er – groß und dunkelhaarig, mit leiser, ein wenig heiser klingender Stimme und war immer in mehrschichtige schwarzen Sachen gekleidet.

      Er kam ihrer Aufforderung nach und fühlte, wie ihm ums Herz schwer wurde, als sie verkündete: »So, wie ich das sehe, sind nun alle da, und ich finde, wir sollten mit dem Vorsprechen beginnen.«

      Weit und breit kein Anzeichen von Anouschka. … Vermutlich hat Crystal sie vom Kommen abgehalten, dachte er und empfand einen Anflug von Frustration, als seine große Chance, ein wenig mit ihr abzuhängen und sie kennenzulernen, in einem Schwarzen Loch zu verschwinden drohte – und als Miss Stafford weiter zu ihnen sprach, einen Stapel ausgedruckter Monologe zur Lektüre verteilte, hörte er kaum noch zu, was sie sagte, und versank immer mehr in seinem Unglücklichsein.

      »Warum machst du nicht den Anfang, Russell?«, fragte Miss Stafford und riss ihn aus seinen Gedanken, als sich alle Augen auf ihn richteten. »Komm‘ schon, steh‘ auf … Stell dich dort drüben hin und trage uns deinen Monolog vor.«

      Mit einem Seufzer stemmte er sich von seinem Sitz hoch und schritt im Raum nach vorne, während Miss Stafford zu ihren anderen Schülern trat, die ihn alle anstarrten, derweil er sich vorbereitete.

      Doch ehe er überhaupt anfangen konnte, etwas von seinem Blatt abzulesen und es vorzutragen, schwangen die Doppeltüren wieder auf – und Anouschka und Crystal kamen herein. Sofort fühlte er ein Flattern in seiner Magengrube und wie ihm kalter Schweiß ausbrach, als er zu ihr hinübersah.

      »Es tut uns leid, dass wir zu spät kommen, Miss Stafford«, entschuldigte sich Anouschka auch im Namen ihrer Freundin. »Wir haben irgendwie den zeitlichen Überblick verloren.«

      »Das ist nicht schlimm, Mädchen«, reagierte die Lehrerin mit einem verständnisvollen Lächeln. »Wir fangen gerade erst an. Setzt euch bitte. Russell beginnt gleich mit dem Vorsprechen.«

      Russell fühlte sein trommelndes Herz, als Anouschka und Crystal in der vordersten Reihe Platz nahmen und ihre Augen jetzt auf ihn richteten. Unweigerlich musste er tief durchatmen, um seine Nerven zu beruhigen. Er starrte auf das Blatt in seinen Händen und überflog die Seite, während er auszublenden versuchte, dass das Mädchen seiner Träume ihn tatsächlich einmal wahrnahm, anschaute und ihm zuhören würde. Jetzt habe ich die Gelegenheit, ihr zu zeigen, wie gut ich schauspielern kann, dachte er still. Das ist meine einmalige Chance, und ich werde sie nutzen!

      Doch als er den Text verinnerlichte, den er bekommen hatte, verwirrte ihn, dass es kein Monolog Romeos, sondern einer der Julia war. Nur ein kurzes Stück, aber definitiv aus ihrer Sicht.

      Es war ihm ja schon zu Ohren gekommen, dass Miss Stafford oft mit ausgesprochen verrückten Ideen daherkam. Naja, was soll’s. Wenn sie will, dass wir alle diesen Julia-Teil lesen, dann ist das eben so, beruhigte er sich und begann mit leiser, sanfter Stimme, ihr einen weiblichen Touch gebend, seinen Vortrag: »Soll ich von meinem Gatten Übles reden?« Er ließ ein theatralisches Seufzen folgen. »Ach, armer Gatte! … Welche Zunge wird deinem Namen Liebes tun, wenn ich, … dein Weib von wenig Stunden, ihn zerrissen?!« Seine Stimme wurde lauter, dramatischer und anklagender. »Doch, Arger, was erschlugst du meinen Vetter?! Der Arge wollte den Gemahl erschlagen … Zurück zu eurem Quell, verkehrte Tränen! Dem Schmerz gebühret eurer Tropfen Zoll! Ihr bringt aus Irrtum ihn der Freude dar.«

      Als er weiterlas und sich ganz dem Text hingab, ging ein kleines Gelächter durch die Sitzreihen, das Miss Stafford schnell mit einem »Schhh!« zu Ruhe brachte, ehe sie sich wieder nach vorne neigte, um ihn aufmerksam zu beobachten.

      »Mein Gatte lebt, den Tybalt fast getötet«, fuhr er fort, »und tot ist Tybalt, der ihn töten wollte. Dies alles ist ja Trost: Was wein' ich denn?! … Ich hört' ein schlimm‘res Wort als Tybalts Tod, das mich erwürgte; ich vergäß' es gern …«

      Zumindest registrierte er mit kurzen Blicken zur Lehrerin, dass er sie beeindruckte, wenngleich der Rest der Klasse sich belustigt zeigte, dass er die Mädchenrolle vortrug. Aber schließlich ist es doch nur ein Vorsprechen, ging es ihm durch den Kopf. Also, was soll`s?! Ist mir egal. Es reicht, wenn ich Anouschka etwas von meiner sensiblen Seite zeigen kann … Ihr beweisen kann, dass ich keine Angst habe Emotionen zu zeigen. Auch wenn ich wetten würde, dass die Jungs, mit denen sie sich abgibt, sich schwul vorkommen würden, wenn sie so mit der Rolle des anderen Geschlechts flirten, wie ich es gerade tue.

      Angespornt durch diese Gedanken steckte er noch mehr Gefühl in den Text, bis seine Stimme am Ende tatsächlich vor Emotionen zitterte. »Doch ach! Es drückt auf mein Gedächtnis schwer, wie Freveltaten auf des Sünders Seele … Tybalt ist tot, und Romeo verbannt!«

      Als er an dieser Stelle endete, wurde es für einen Moment so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören können, bevor Miss Stafford aufsprang und heftig zu Klatschen anfing.

      »Sehr gut, Russell«, keuchte sie mit ihrer leisen, heiseren Stimme. »Wirklich ausgezeichnet! Ich dachte ja, ich hätte dir einen Romeo-Monolog gegeben, aber du hast mich damit auf eine sehr interessante Idee gebracht.« Sie wandte sich der Klasse zu. »Ja, ich denke, ihr alle werdet die Monologe tauschen. Alle Mädchen werden Romeo vortragen und die anderen Jungs übernehmen wie Russell, die Julia.«

      Bei ihren Worten überkam ihn eine eisige Angst. Was zum Teufel habe ich getan?, fragte er sich. Sie hat die Blätter ausgeteilt und ich habe nur vorgetragen, was sie mir gegeben hat … Und jetzt habe ich diesen verrückten Rollentausch ausgelöst?

      Am aufkommenden Murren und den Blicken, die ihm von allen anderen zugeworfen wurden, konnte er deutlich entnehmen, dass Miss Stafford die einzige im Raum war, die sich an dieser Idee erfreute.

      »Ja, … Ja, was für eine wundervolle Idee«, plapperte sie vor sich hin. » Ihr wisst das vielleicht nicht, aber zu Shakespeares Zeiten wurden alle Rollen von Männern besetzt. Frauen durften damals nicht auf die Bühnen … Aber das jetzt? Das wird etwas ganz Anderes!«

      Inzwischen hatte Russells Gesicht eine tiefrote Farbe angenommen. Er schlich sich auf einen Platz ganz weit hinten im Raum und wagte es nicht auch nur einen Blick in Anouschkas Richtung zu werfen. Sie wird mich dafür hassen, dass ich alles durcheinandergebracht habe, so wie alle hier. Er seufzte