Hunde schließlich vor ihr „Sitz“ machten und bellten, damit ihr Führer sie fand und ihnen ein neues Kommando geben würde. Jetzt bellten sie nicht. Sie knurrten nicht einmal. Sie verfolgten ihrer Beute lediglich in einem sicheren Abstand von zirka zwanzig Metern, um im geeigneten Moment zur Stelle zu sein. Doch als könnte er sie riechen, fühlte er sie im Nacken. Das war nicht ungewöhnlich, immerhin hauste er mehrere Wochen ziemlich Tür an Tür – oder besser gesagt Zelle an Zelle – mit diesen Bestien.
Unten in den Gängen.
Ihr Geruch hatte sich auf ewig in seine Geruchsnerven eingebrannt. Doch auch jetzt drehte er sich nicht um.
Gerade hatte er das Ende der Halle erreicht, als er erneut auf einen großen Platz gelangte, wo ihn endlich das Orangelicht erfasste. Wie eine zweite Sonne strahlte es auf ihn nieder, blendete ihn, doch stoppte keineswegs seine Flucht.
Jetzt interessierte ihn das Licht nicht mehr.
Der Erdwall war keine zehn Meter entfernt und dahinter sah er die Mauer, aber er sah noch etwas: An einer bestimmten Stelle, zwischen zwei Betonpfeilern, fehlte ein Teil der Stacheldrahtbespannung. Und genau dieser Teil wurde von dem Orangelicht besonders erfasst. Das beschleunigte seine Schritte.
Er stolperte den Erdwall hinauf.
Er stürzte, stöhnte rau, rappelte sich auf, versuchte, auf die knochigen Beine zu kommen, als in diesem Augenblick die Hunde bei ihm waren. Gleichzeitig sprangen sie ihn an, rissen ihn zu Boden und wie abgesprochen verbissen sie sich in seine Beine. Wild rissen ihre Köpfe hin und her.
Von Panik, Angst und Verzweiflung getrieben, stieß er stoßartige Schreie aus. Er verspürte keine Schmerzen, da sein Adrenalinausstoß immens war. Seine Schreie kamen kurz und gewehrschussgleich.
In diesen grässlich, panischen Sekunden galt seine Aufmerksamkeit groteskerweise wieder dem gebündelten Orangelicht, das ihn blendete. Er spürte das Glühen von dem Licht und ihm war, als gehörte sein Körper nicht mehr zu ihm. Er war schmerzfrei. Er war frei!!! Noch bevor ihm das wirklich bewusst wurde, ließen die Bestien von ihm ab, nahmen Abstand, setzten sich und fingen zu bellen an, während sie ihn starr fixierten. Deutlich konnte er an ihren Schnauzen sein eigenes Blut erkennen, aber er war schmerzfrei.
Nur bleierne Wut überkam ihn.
Wut über sich selbst, da er jetzt, gerade jetzt, kurz vor seinem Ziel aufzugeben schien. Willenlos in diesem Dreck zu verrecken? Nein, das konnte nicht das Ende sein.
Ich soll frei sein!
Ungeachtet der Folgen, rappelte er sich noch einmal auf, während er aus dem Augenwinkel den ersten Verfolger wahrnahm und auch merkte, dass dieser humpelte.
Ein lang gezogenes: „Hiiiiiieeeeeer!“ zerschnitt diesen Moment.
Und noch ehe der Schrei verhallte, sprangen die Hunde auf und hetzten jaulend davon.
Diesen Augenblick nutzte er.
Seine Beine waren taub, doch noch gehorchten sie seinen Befehlen, trugen ihn hinauf auf den Erdwall, wo er für eine Sekunde verharrte und sich den bevorstehenden Sprung verinnerlichte. Immerhin waren es ein, zwei Meter bis zur Mauer.
Dann stolperte er los.
Zeitgleich krachten in kurzer Folge Schüsse hinter ihm.
Er setzte zum Sprung an. Plötzlich verspürte er einen stechenden Druck im Rücken, der ihm nicht nur einen zusätzlichen Schub versetzte, sondern ihn jetzt doch vor Schmerzen aufschreien ließ.
Er prallte gegen die Mauer.
Seine Hände krallten sich am Mauersims fest, wo er ebenfalls sofort Schmerzen verspürte, doch er zog sich mit aller Kraft hinauf, während er weitere Schüsse hörte, links und rechts die Einschläge verspürte, wie sich die Kugeln vergebens in das Mauerwerk fressen wollten. Und wieder verspürte er stechende Schmerzen, die jetzt seinen linken Arm und seinen Steiß betrafen, ihn hart gegen die Mauer drückten, sodass er normalerweise reflexartig losgelassen hätte, doch auch das tat er jetzt nicht. Er zog sich weiter hinauf zum Mauersims und erreichte den Betonpfeiler. Er umfasste diesen, als wollte er ihn in den Schwitzkasten nehmen, während sein linkes Bein den Mauersims erklomm, er sich fast seitlich weiter hinaufhangelte. Er stöhnte, schnaufte und schrie. Es waren keine Hilfeschreie und auch keine Schmerzensschreie. Diese Schreie feuerten ihn an, pressten die letzte Kraft aus seinem bereits erschossenen Körper. Sein Bewusstsein nahm die Schüsse längst nicht mehr wahr. Auch nicht die nächsten Treffer in seinen Körper. Weiter zog er sich hinauf, als würde er ein viel zu großes Pferd besteigen, das keinen Sattel trug, und der Betonpfeiler war der Hals des Tieres.
Dann saß er auf dem Sims.
Er schrie seinen Sieg heraus und er riss die Arme der orangegeschwängerten Luft entgegen, während ihn noch mehr Kugeln trafen.
Dann sackte er still in sich zusammen und ließ sich einfach auf die andere Seite fallen.
Er war verschwunden.
Er hatte es geschafft.
Er war frei.
23. Mai 1944
Ein anderes Zeitfenster
So einfach ließ sich das Fenster nicht öffnen.
Wahrscheinlich weil es nach außen aufging und die Fensterläden zugezogen waren. Außerdem befand es sich im Tiefparterre.
Nur in schmalen, langen Strichen drängte graues Tageslicht in den schlauchigen Raum.
Ein geradezu gespenstisches Licht umgab sie. Nur die winzige Belüftungsklappe oben hätte sie durch einen seitlichen Hebel kippen können, doch das tat sie nicht. Es hätte sie in ihrem Vorhaben keineswegs weitergebracht. Außerdem wollte sie das Verwaltungsgebäude nicht auf diesem Weg verlassen.
Jedenfalls jetzt noch nicht.
Aber sie wusste schon, als sie sich durch den engen Schacht hinaufzwängte, an welchen Ort sie zurückgekehrt war. Nämlich genau dorthin, wo der ganze Alptraum losgebrochen war. Dort, wo sich dieses widerlich stinkende Schwein mit runtergelassener Hose auf ihr herumgewälzt hatte, schmatzend schnaufte, grunzte und stöhnte, bis sie ihm die schwere Waschschüssel über den Schädel ziehen konnte.
Sofort drang ein grober Würgereiz hoch. Und dieser Würgereiz trieb sie an, diesen Ort schnellstens zu verlassen. Wieder stand sie vor dieser gähnenden Lukenöffnung. Nur flutete ihr jetzt nicht das bläulich, rötliche Licht entgegen, sondern ein gelblicher Schimmer, fade und schwach. Es war das Licht aus dem Hauptgang. Und es verlieh dem vorherrschenden Lichterspiel ein noch viel dämonischeres Antlitz. Hätte das Licht jetzt einen rötlichen Farbton erhalten, dieser Schacht hätte auch das Tor zur Hölle bedeuten können, was es im übertragenen Sinne ja tatsächlich war. Im Grunde genommen war sie soeben der Hölle entstiegen.
Entgegen der vorangegangenen Absprache mit Georgie hatte sie sich an der Gabelung von der Gruppe getrennt, die sie eigentlich hätte in Sicherheit bringen sollen … nämlich erst hinüber zum Kinderhort und dann im Morgengrauen zur Fritz-Schumacher-Siedlung.
So lautete der Plan.
Verließe sie diesen Ort gerade jetzt, würde sie verlieren … und schon gar nicht durch dieses Fenster.
Wo sie doch ihrem Ziel so nahe war.
Endlich konnte sie die Chance ergreifen, ihren Peiniger zur Strecke zu bringen. Sie durfte sich nicht darauf verlassen, dass Georgie es schaffen würde. Auch wenn er die bedingungslose Deckung seiner Freunde im Rücken wähnte.
In ihr keimte das unbestimmte Gefühl, dass nur sie gemeinsam, sie und Georgie, imstande waren, dieses Ziel zu erreichen … Stand doch wohl einzig und allein nur für sie beide so unermesslich viel auf dem Spiel.
Was hätte sie in diesem Moment nicht alles darum gegeben, wäre sie nicht die erwachsene, viel zu übergewichtige Tante Irmtraut, wie sie jeder nannte, sondern die etwas dickliche, sechzehnjährige Irmi, die gerade an diesem scheußlichen Ort ihre einzige Liebe getroffen hatte. Der gutaussehende Junge, der plötzlich zur richtigen Zeit zur Stelle war, ihr half, sie rettete, sie vor diesem stinkenden