hatte, bat sie uns freundlich herein. Sie führte uns durch den bescheidenen Neubau. Gerade habe sie einen Kaffee auf dem Ofen, ob wir vielleicht eine Tasse mit ihr trinken möchten. Wir sagten nicht Nein. Ihr Mann habe in Budapest eine Arbeit gefunden. aber dort könne man sich mit einem Facharbeiterlohn keine Wohnung kaufen. Das alte Haus unserer Großeltern hätte sie kaufen können, weil die Kinder der Vorbesitzer schon eine Stadtwohnung hatten. Es täte ihr leid, dass sie das Haus unserer Großeltern abgerissen hätten, aber eine Renovierung wäre teurer gekommen als ein Neubau.
Die hinteren Anbauten und der Hof seien allerdings noch unverändert. Wir könnten uns das gern ansehen. „Es ist noch alles so, wie wir es gekauft haben. Das Geld für die Renovierung des Hofs und der Ställe haben wir noch nicht.“ Wir bedankten uns und gingen mit ihr in den Hof. Hätte ich Ferenc/Franz, nicht dabeigehabt, wäre die Besichtigung sicherlich nicht so problemlos gewesen, denn die junge Frau sprach nicht Deutsch, und ich spreche leider auch nicht ausreichend Ungarisch.
Sie zierte sich doch ein wenig, diesen fremden Mann aus Deutschland auf ihren Hof zu führen, denn dort war ein ziemliches Durcheinander. Überall lagen oder standen alte Haus- und Ackergeräte in große Unordnung herum. Zwischendrin liefen Hühner und Gänse bunt durcheinander. Der zottige kleine Haushund sorgte durch sein aufgeregtes Gehabe dafür, dass das Geflatter und Geschnatter der verschreckten Tiere nicht aufhörte. Weil es Frühjahr war und der Lehmboden noch feucht und aufgeweicht, mussten wir stellenweise sehr vorsichtig auftreten. Dennoch war das für mich eine sehr beeindruckende halbe Stunde auf diesem Hof, an den ich keine Kindheitserinnerung mehr habe. Hier war noch ein Stück des ursprünglichen Lebens vorhanden. All die alten Geräte, die Schuppen, die Tiere, die zerfallende Gartenmauer aus Lehmziegeln, der schwere, aprilnasse Lehmboden – all das kam mir irgendwie vertraut vor, vermittelte ein Gefühl von „daheim“. Dass es sich um das Haus meiner Großeltern handelte, war nicht der Auslöser dieses Gefühls. Es war die ganze ungewollte Komposition, dieses „Galizische“, dem ich im Süden Polens, in der Ukraine, in Moldawien, in den Dörfern Sloweniens und der Woiwodina schon so oft begegnet war. Immer wieder zieht es mich dahin und stets entsteht in mir die Ahnung aufs Neue: „So war mal deine Heimat.“ Ich ließ mich gehen, in diese Stimmung hinein, schwelgte in diesem lehmigen Heimatgefühl und sah mir jedes Detail genau an, so als wäre es die letzte Gelegenheit, das alles noch einmal so wahrnehmen zu können, wie es in meiner Kindheit war.
Blick in den Hof. Schweine hatten sie nicht mehr.
In alle Winkel und Ecken schaute ich, öffnete die Türen und blickte in die Ställe hinein – und stand plötzlich vor einem halben Hakenkreuz im alten Kuhstall. Exakt, wie mit einer Schablone hatte es jemand genau der Tür gegenüber an die Wand gemalt. Mindestens einen Meter hoch war es einmal gewesen. Zu sehen war nur noch die untere rechte Hälfte, das obere Stück war frisch verputzt, vermutlich war der alte Lehmputz heruntergefallen, und das Loch ist ausgebessert worden. Meine Ernüchterung war groß. Nichts mehr war übrig von lehmiger Nostalgie und Heimatgefühl. Die Vergangenheit hatte mich unverhofft eingeholt.
Hakenkreuz im Kuhstall
Wer hatte das dahin gemalt? Und warum war es, 46 Jahre nach Kriegsende, noch nicht beseitigt worden, obwohl doch spätestens die Ausbesserungsarbeiten einen guten Anlass dazu gegeben hätten?
Die Vermutung liegt nahe, dass meine beiden Onkel, damals junge Burschen von einundzwanzig und neunzehn Jahren, das Zeichen des Österreichers in den Kuhstall gemalt haben. Beide waren im Juli 1941, gegen den Widerstand ihrer besorgten Eltern, zu einem „Schulungskurs“ oder „Sportlehrgang“ nach Brünn mitgefahren, den die Deutsche Jugend (DJ) organisiert hatte. Dort ließen sie sich aufgrund der Einflüsterungen und Versprechungen von Himmlers Agenten, die ihnen für den Beitritt zur Waffen SS die deutsche Staatsbürgerschaft versprachen, zu diesem Schritt verführen. Nach einer militärischen Kurzausbildung von sechs Wochen kamen sie direkt an die Karelische Front. Vom Februar 1942 an erfolgte die Rekrutierung der ungarndeutschen Wehrpflichtigen auch schon direkt zur Waffen-SS.10 Der ältere der beiden Brüder war schon nach drei Monaten tot, zerfetzt von einer sowjetischen Granate bei Borok nahe der finnisch-russischen Grenze. Der Jüngere ist seit November 1941 in Karelien vermisst. Er ist von einem Angriff auf einen Bahndamm in der Nähe Loukhi nicht mehr zurückgekommen. Einer seiner Kameraden aus Perbál berichtete später, er habe einen Bauchschuss erhalten, konnte aber wegen des anhaltenden Feuers der Russen nicht geborgen werden. Stundenlang schrie er um Hilfe und verblutete hilflos im tiefen Schnee. Er wurde nicht begraben. Die beiden jungen Männer haben ihren Einsatz für eine von ihnen vielleicht herbeigesehnte Zugehörigkeit zum Deutschen Reich mit ihrem jungen Leben bezahlt. Dort hofften sie, frei vom Magyarisierungsdruck ihres ungarischen Vaterlandes leben zu können. Tausende andere junge ungarndeutsche Männer erlitten das gleiche Schicksal. Sie starben, weil ihr Vaterland Ungarn sie ihrer deutschen Identität berauben wollte. Bekennt euch als Ungarn oder verschwindet!
Ein „Sportlehrgang“ in Brünn
Hier sahen die Agenten Himmlers eine Chance für ihre zunächst noch illegale Werbung. „Es wurden zum Beispiel junge gesunde und politisch zuverlässige Volksdeutsche…zu Schulungskursen, HJ-Lagern oder Sportlehrgängen nach Deutschland eingeladen und dort zum freiwilligen Eintritt in die Waffen-SS überredet. Nur die wenigsten von ihnen hatten damals eine Vorstellung von der gefährlichen Bedeutung dieses Schrittes. … vor allem aber das Bewußtsein, in der Waffen-SS anders als in der Honvéd (ungarischen Armee d.V.) als gleichwertig zu gelten, … erleichterte den jungen Volksdeutschen den Übertritt.“11
Konnten diese ungebildeten Bauernburschen ahnen, dass die Waffen-SS nicht nur Hilfstruppe der Wehrmacht bei ihren mörderischen Eroberungskriegen war, sondern zentraler Bestandteil der Judenvernichtung wurde? Vermutlich nicht. Hatte man ihnen nicht vorgegaukelt, dass sie in der Waffen-SS im Überlebenskampf der germanischen Rasse gegen den jüdischen Weltbolschewismus auf der richtigen Seite kämpfen würden? Unterlagen sie schließlich dem Mythos und der Glorie von schnellen, beinahe kampf- und opferlosen Siegen im Blitzkrieg? Meine beiden Onkel hatten ihren Verführern Glauben geschenkt. Bevor sie ihren unbedachten Schritt hätten bereuen können, waren sie tot.
Mit diesen Ausführungen will ich nichts beschönigen oder rechtfertigen. Ihren Schritt haben sie selbst zu verantworten und teuer bezahlt. Viele junge Männer, viel zu viele, sind der Nazipropaganda aus Überzeugung gefolgt. Fotos von den Aufmärschen der „Deutschen Jugend“ (DJ) belegen das. Ihre ausgestreckten rechten Arme unterscheiden sich nicht von denen der Hitlerjugend (HJ).
Andere haben sich einer Bewegung angeschlossen, die die Treue zum ungarischen Staat propagierte (Treuebewegung). Deren Mitgliedschaft blieb jedoch relativ gering. Wieder andere meldeten sich zur Ableistung ihrer Wehrpflicht zur ungarischen Armee. Nach dem Abkommen vom 1. Februar 1942 wurde die Musterung von einer deutsch-ungarischen Kommission durchgeführt. Dem Wehrpflichtigen blieb formal noch die Wahl zwischen Honvéd (Ungarische Armee), deutscher Wehrmacht und Waffen-SS. Ein Abkommen vom 1. Juni 1943 erweiterte den Kreis der Gemusterten auf „Freiwillige bis zu 35 Jahren“. Der Druck auf die „Freiwilligen“ zum Eintritt in die Waffen-SS wuchs dabei ständig. Letztlich unerheblich wurden diese Differenzierungen nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn (14. März 1944).
Einen Monat später kam es zu einem deutsch-ungarischen Abkommen, „danach wurden alle ungarischen Staatsbürger, die Deutsch als Muttersprache bei der Volkszählung 1941 angaben oder ‚durch ihre Lebensweise und ihr Volkstum Merkmale als solcher zeigten‘ der SS überstellt … In manchen Fällen veranstalteten die SS-Werbekommandos regelrechte Treibjagden: Auch die ungarische Polizei half bei der Zwangsrekutierung: Entziehen konnte sich kaum jemand.“
Der Verfasser, Krisztian Ungváry, weist darauf hin, dass zur Verteidigung Budapests zwei SS-Divisionen und drei SS-Polizeiregimenter aus Ungarndeutschen sowie zwei weitere Divisionen mit hohem Anteil von Ungarndeutschen aufgestellt wurden. „Außer der zuletzt genannten wurden all diese Einheiten in und um Budapest eingesetzt und vernichtet.“12 Er verweist auch darauf, dass die Zivilbevölkerung der deutschen Dörfer bei diesen Kämpfen hohe Verluste erlitt. Diese Angaben sprechen für sich: Als Kanonenfutter zur Verteidigung ihrer Hauptstadt, die Hitler zur Festung erklärte