Sebastian Müller

Die Schatten von Paradell


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      „Ich kann selbst nach Paradell, wenn ich es möchte?“, fragte Ben und schaute Angrowin mit aufgerissenen Augen an.

      „Das ist einer der wichtigsten Gründe dafür, dass ich dich heute hergebracht habe. Ich will dir zeigen wie“, sagte sie.

      „Ben, ich habe keine Zeit, dir alles zu erklären, aber es wuchert etwas im Herzen von Paradell und das birgt eine grauenhafte Gefahr für uns. Aber vor allem für eure Welt und die Menschheit. Die anderen Elohim sind nicht im Stande es zu sehen. Obwohl es unter ihrer Nase geschieht. Ich habe es gesehen und will es stoppen. Aber ich allein, nur aus Paradell heraus, kann es nicht. Ihr, du und deine vier Freunde, müsst mir helfen. Dann werdet ihr es schon bald verstehen.“

      „Aber warum wir? Wir sind doch nur Jugendliche. Fast noch Kinder. Was können wir erreichen?“, stellte Ben die offensichtliche Frage, die schwer über allem im Raum schwebte.

      „Die Jugend macht euch ja erst so empfänglich für unsere Welt. Umso älter die Menschen werden, umso mehr verfallen sie in die gleichgültige Trance, die so undurchlässig für die vielen Wunder der Welt ist. Aber warum ihr genau? … Manch einer mag es Zufall nennen. Aber den gibt es meines Wissens nach nicht. Ich sehe den genauen Grund auch noch nicht. Aber ich war mir an dem Tag, als ich euch sah, absolut sicher. Ihr seid die Richtigen.“

      Angrowin sah ihn gedankenverloren an, als würde sie diese Erkenntnis innerlich hinterfragen. Aber dann wurde ihr Blick wieder fest und sie fuhr fort.

      „Also. Ihr habt durch das Ereignis vor einigen Tagen, an dem ich nicht ganz unschuldig war, den Blick für unsere Schatten erhalten. Ihr seht sie nun, wenn ihr euch darauf konzentriert. Aber eure Kraft reicht allein nicht aus, um die Schatten zu tauschen und durch die Wand zu uns zu kommen. Ihr braucht einen Spiegel, der eure Wahrnehmung erweitert. Konzentriert euch. Findet die Schatten und schaut in den Spiegel. Denn im Spiegel werden die Schatten real und für euch greifbar. Wenn sie physisch genug sind, lasst euch in den Spiegel fallen. Dieser bewusste Schritt in eure erweiterte Wahrnehmung wird ausreichen, um den Weg nach Paradell zu finden.“

      „Okay. Schatten finden. In den Spiegel schauen. Die Schatten real werden lassen und reinfallen. Klingt doch einfach“, wiederholte Ben die Anweisungen.

      „Nimm es nicht auf die leichte Schulter. Ihr müsst euch richtig konzentrieren, wenn ihr nicht wollt, dass ihr zwischen den Dimensionen verloren geht“, ermahnte ihn Angrowin. „Außerdem passt auf. Die Ausrichtung der Welten ist nicht immer gleich, sondern wabert hin und her wie Nebel. Im Gegensatz zu uns habt ihr keinen Einfluss darauf. Ich konnte dich von deinem Zimmer in unser Heiligtum holen, in das ihr beim letzten Mal aus dem Wald gekommen seid. Wenn ihr herkommt, ist es unsicher, wo ihr genau ankommen werdet. Also seid aufmerksam. Es wird leichter, wenn ihr es ein paar Mal gemacht habt.“

      Plötzlich und ruckartig, aber trotzdem in einer grazilen fließenden Bewegung stand Angrowin auf und drehte sich zur Tür. Als sie Ben wieder ansah, sagte sie. „Unsere Zeit ist fast um. Ich spüre Gangelons Präsenz sich nähern. Ligara und Enlito sind bei ihm. Schnell, du musst jetzt gehen. Erinnere dich an alles, was ich dir erzählt habe. Du bist meine Hoffnung Ben. Ihr alle fünf seid es. Rasch zum Spiegel.“

      Ben stand auf und war überrumpelt von der plötzlichen Eile. Er wollte nicht gehen und war noch zu sehr in Angrowins Geschichte verloren, um sich flink zu bewegen. Doch er ging zum Spiegel und konzentrierte sich intensiv auf sein Zimmer. Da lichtete sich der Schleier über dem Spiegel und er erkannte schemenhafte Umrisse, die wie sein Bett aussahen. Er zwang sich immer mehr, das Bett real zu sehen. Da drehte er sich noch einmal um, um Angrowin anzuschauen. Er hob wortlos die Hand. Doch sie verschwamm schon vor seinen Augen und ihre Konturen zerfielen nebelartig. Er schaute wieder in den Spiegel und ließ sich nach vorn fallen. Da hörte er noch ein letztes Mal ihre melodischen, mehrstimmigen Worte: „Denk dran, im Spiegel werden die Schatten real Ben. Bis bald. Ihr seid meine Hoffnung.“

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