Sebastian Müller

Die Schatten von Paradell


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purpurne Licht und ergriff ihn. Er sah dünne langfingrige Hände, die seinen Kopf hielten. Sie schoben ihn zur Seite und drehten ihn nach vorn. Durch die Frontscheibe erkannte er einen weiteren LKW schräg rechts vor ihm. Er erinnerte sich nicht, dass dort einer war. Langsam schob sich sein Auto unter der hinteren Ecke des LKW-Hecks hindurch, bewegt durch die ungeheure Kraft des zweiten, der sich kontinuierlich tiefer in den Kofferraum grub. Das Dach schälte sich ab und drückte sich zwischen den beiden Kolossen wie eine Ziehharmonika zusammen.

      Die ganze Zeit hielt ihn der lebendige Schatten fest und bewegte seine lebenswichtigen Körperteile hin und her, damit nichts zerquetscht oder durchbohrt werden würde. Die schemenhafte Gestalt griff nach dem Bein, erreichte es aber nicht rechtzeitig. Ein grausiges Knacken war das Resultat. „Das ist gebrochen“, hatte der Mann gedacht, ohne jeglichen Schmerz zu empfinden.

      Seine Gedanken kehrten zurück in die Gegenwart. Das Blut strömte ihm über den Kopf und aus Unmengen winzigen Schnittwunden. Er hatte jedoch Glück. Außer seinem Bein schien nichts ernsthafter verletzt worden zu sein.

      Er schaute in das Gesicht des Sanitäters. Das Licht war genauso verschwunden wie das Schattenwesen.

      „Ein Schutzengel“, stammelte der Mann vor sich hin. „Ich habe einen Schutzengel gesehen. Es war ein Schatten. Er hat mein Leben gerettet.“

      Kapitel 1 – Schatten im Sommer

      – 1 –

      Dieser traumhafte Tag im Sommer schien ewig anzudauern. Alles war unbeschwert und jedwede Probleme waren weit weg. Die Welt stand scheinbar still und es herrschte eine wunderbare Ruhe.

      Ein paar winzige Meisen saßen auf einem Baum, zwitscherten ihr Lied, dessen Bedeutung ausschließlich ihnen bekannt war. Sie hatten erst das Nest verlassen und erkundeten die Welt mit Neugier und Erstaunen. In der Sonne genossen sie die Ruhe der Natur.

      Hals über Kopf durchbrach ein Junge die Stille. Er kam aus dem Dickicht des Waldes gestürmt und vertrieb die Meisen von ihrem Ast. Er lachte beim Rennen und rief: „Oh Mann Ben, du kriegst mich doch nie. Lass es lieber sein, sonst bekommst du einen Herzinfarkt von der Anstrengung.“

      Und tatsächlich kam mit gehörigem Abstand ein zweiter Junge aus demselben Gebüsch gerannt. Ben war sichtlich minder vergnügt und atmete schwer. Schweiß stand ihm auf der Stirn und er keuchte: „Hey Simon, das ist unfair. Wir wissen beide, dass du fitter bist. Gib sie mir wieder. Bitte, ist das dauernd nötig?“

      „Ach ich helfe dir damit. Das verschafft dir bisweilen Bewegung und bringt Leben in deine ‚schweren Knochen‘“, antwortete Simon und stoppte, um sich vor weiterem Lachen den Bauch zu halten.

      Da schimpfte eine hohe Mädchenstimme aus dem Wald hinter Ben: „Komm schon Simon, du weißt, dass das Basecap seinem Bruder gehörte und es das Einzige ist, was er zur Erinnerung behielt.“

      Kurz darauf erschien die Inhaberin der Stimme aus dem Dickicht. Sie reichte Simon nur bis zur Brust und sah zu ihm auf. Sie war aber sehr aufgebracht und hatte damit eine bestimmende, eindringliche Ausstrahlung. Simon wusste, dass das bei der sonst zurückhaltenden Marie eine Ausnahme darstellte und in diesen Momenten nicht mit ihr zu spaßen war. Er dachte, dass es klüger wäre mit dem dämlichen Lachen aufzuhören.

      Simon setzte demonstrativ ein reuiges Gesicht auf und warf Ben das Basecap zu. Trotz allem verkniff er es sich nicht zu sagen: „Ist es denn notwendig, dass ihn alle überall mit der Mickey Maus auf dem Kopf sehen? Ich meins nur gut. Wir sind in der 8. Klasse, da schauen die coolen Kids komisch.“

      Ben sammelte seine Mütze vom Boden auf und schaute sich die fröhlich tanzende, mittlerweile ausgeblichene Maus an. „Seit wann scherst du dich um die coolen Kids? Und mir ist das klar. Dennoch, Stevie hat das Cappi auch nie abgesetzt“, murmelte Ben und stützte sich außer Atem auf den Knien ab. Er versuchte, seinen Kreislauf zu beruhigen. „Es gibt praktisch kein Bild von ihm in meiner Erinnerung, wo er sie nicht trägt.“ Umso mehr er von seinem, viel zu früh verstorbenen Bruder Steve sprach, umso mehr schlich sich die Traurigkeit in seine momentan atemlose Stimme.

      Marie legte einen Arm um ihn und, wie immer, blieb ihr jegliche Sprache im Halse stecken, wenn Ben von Steve redete. Sie war gewillt, ihn zu trösten. Leider hatte sie sich mittlerweile beruhigt und ihr Adrenalin-getriebenes Selbstbewusstsein war wieder verflogen.

      In dem Moment erschienen zwei weitere Jugendliche, sichtlich entspannter, aus dem Wald. Tamara und Lukas schienen sich nicht an der stürmischen Verfolgungsjagd beteiligt zu haben. Relaxt, Hand in Hand, stießen sie zu den anderen. „Müsst ihr euch immer so kindisch aufführen?“, fragte Tamara und rollte überdeutlich mit den Augen.

      „Komm schon Ben, keuch nicht so übertrieben. Du bist ganz verschwitzt und dein Bauch hängt aus dem T-Shirt. Steh auf“, sagte sie, aber schaute ihn dabei nicht an. Lukas hingegen bewegte sich auf Ben zu, ergriff die Mütze aus seiner Hand und setzte sie ihm auf den Kopf. „Alles wieder in Ordnung?“, fragte er und half ihm, zusammen mit Marie, sich wiederaufzurichten.

      „Ja, passt schon“, brachte Ben ohne Schnaufen heraus. Und zeigte wieder ein bescheidenes Lächeln im Gesicht. Er rückte sich seine runde Brille auf der Nase zurecht und sagte: „Wir lassen uns doch nicht diesen perfekten Sommerferientag verderben.“

      Lukas’ lange dunkelblonde Haare fielen ihm ins Gesicht. Mit dem ihm typischen Schwung des Kopfes warf er sie wieder zur Seite. Er war ständig darauf bedacht, dass seine Haarpracht ordentlich saß. Dann streifte er sein Poloshirt glatt und lächelte Tamara an. Sie schien genauso darauf bedacht, nicht in die allgemein kindisch oberflächliche Art der anderen zu passen. Untypisch für einen Sommerferientag geschminkt und ein hübsches, teuer wirkendes gestreiftes Kleid am Körper, wirkte sie eher für eine städtische Shoppingtour als für den Wald vorbereitet.

      Sie lächelte Lukas an und sagte zu den Anderen: „Habt ihr euch wieder eingekriegt? Können wir uns dann wieder zivilisiert weiterbewegen?“

      Lukas, Marie und Ben wanderten nebeneinander los, die Arme auf den Schultern der Nachbarn und alles war wie vorher. Sie kicherten und hüpften beim Gehen wie ein klitzekleiner, unausgesprochener Seitenhieb für Tamara. „Sieh her, wie sich Kinder in deinem Alter verhalten.“

      Simon hatte wieder zu seiner gewohnten Lässigkeit zurückgefunden, schlenderte neben Ben und auch er legte seinen Arm um dessen Schulter. Das Wunder der langjährigen Freundschaft von Kindern. Sie zankten ständig, aber nichts war ernst genug, dass es länger für schlechte Stimmung sorgte. Erst recht nicht bei 30 Grad im strahlenden Sonnenschein der Sommerferien.

      Wie immer, wenn er mit den anderen glücklich war, stimmte Simon sein Lieblingslied an, beste Freunde von den Crimson Kings.

      „… Zweifel sind für uns kein Hindernis. Wir stehen füreinander ein. Selbst Gott kann das bezeugen. Wir halten unser Wort …“

      Tamara schaute zwar kurz abwertend auf diese wundersame Gruppe mit dem schief singenden Kerl. Aber, nein. Sie schaffte es nicht, sich diesem bezaubernden Freundschaftsmoment zu entziehen.

      Vor allem, sie liebte Lukas mehr, als sie sich eingestand. Das, was sie beide in ihren jeweiligen Elternhäusern durchmachten, all der Hass und die Gewalt waren wie vergessen, wenn sie zusammen waren. Mit ihm hatte sie die Möglichkeit, aufrichtig darüber zu sprechen, weil er nachvollziehen konnte, was sie belastete.

      Sie war erst seit kurzem Teil dieser eingeschworenen Gruppe, aber sie wusste, dass nichts diese vier Freunde zu trennen vermochte. Fünf Freunde, berichtigte sie sich in Gedanken und beeilte sich, um die anderen einzuholen, schloss zu Lukas auf und legte den Arm um seine Schulter.

      „… Es war nicht immer leicht, doch wir sind der starke Fels. In der Brandung stehen wir und halten allem stand. Die Zukunft können wir deutlich sehen und sind uns sicher sie zu meistern …“

      Und da stimmten alle lauthals mit ein.

      „… Beste Freunde, das sind wir. Durch dick und dünn da gehen wir. Allein sind wir ein Blatt im Wind. Doch zusammen stehen wir, so fest wie Bäume in der Erde …“

      Alle lachten