Hans Max Freiherr von Aufseß

Tagebuch aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln


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besitzen eine Schalkhaftigkeit, die für eine ganze Mädchenoberklasse ausreichen würde, ihre Nase hat die feine Witterung eines Rehs, ihr Mund ist sensibel halb geöffnet, wie der eines klassizistischen Mädchenepitaphs21, ihr schlanker Körper hat die Bewegungslust und feinen Fesseln der Vollblüterrasse. Die durch so hohe [Dotationen] entstehenden Spannungen in ihrem Wesen werden zusammenge- [11] halten von einer ganzen Genealogie von preußischem Pflichtbewußtsein22 und überstrahlt von einem großen mädchenhaften Scharm. Sie ist wahrhaftig nicht leicht zu nehmen, hängt von Umgebung und Kleinigkeiten sehr stark ab und flieht mit ihren Worten rasend dahin, wie mit ihrem ganzen Wesen, weil alles überlebendig und geladen ist. Ich benenne sie für mich mit dem Beinamen »la Fugitive«23 die Enteilende, Dahinfliehende. Es muß sie erst einmal das Feuer einer großen Liebe ausbrennen und ausbacken, damit alles ruhiger und gesetzter wird, damit ihre prärafaelitisch steifen und abrupten Bewegungen der langen Glieder Weichheit und Harmonie bekommen. In einem guten Sportkostüm müßte sie hervorragend aussehen, so viel läßt die Schwesterntracht ahnen, [12] ja sie verrät sogar süße weibliche Formen und die Geniertheit wäre wohl gar nicht so groß, wenn nicht eine starke natürliche Sinnlichkeit dahinter verborgen läge, die sich in ihrer Unberührtheit als Fliehkraft äußert, das Fliehende zieht ja besonders an und nichts ist lockender für den Jäger als das Verfolgen des fliehenden Wildes. (Zeus u. Daphne24)

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       Im Dienstsitz White Lodge. »Plauderecke am englischen Kamin«, so lautet von Aufseß’ Bildunterschrift. (Foto: H. M. von Aufseß)

      13. 11. [Verschreibung für 10.] [1943]

      Ein neuer Hausgenosse, ein Kriegsgerichtsrat aus Sachsen25, ist vertretungsweise gekommen. Es ist ein gemütlicher kleiner Sachse, findet sich sehr schnell hinein und ist in kleinen praktischen Dingen zu Haus. Im Badezimmer hat er neue Nägel u. Haken angebracht, überall auf Serviettenring, Zuckerdose u. s. w. klebt fein säuberlich schon ein Schildchen mit seinem Namen. Er hat eine neue [13] Antenne gelegt und Birnen im Haus verschraubt, alles zum Besten von uns und sich. Auch in seinem Leben scheinen überall kleine Schildchen mit Lebensweisheiten angebracht, fein säuberlich und ganz lange Sprüchchen oft, so wie er am Abend auf eine eigene ersonnene Weise seine Stiefel vor die Türe hängt und jedem Tag- und Nachthemd im Badezimmer seinen mitgebrachten besonderen Bügel gibt. Ich muss mich über seine überraschend auftretenden kleinen Zweckmäßigkeiten an allen Orten innerlich schief verlachen. Heute Mittag stellte er sich den Aschenbecher wie einen Dessertteller vor sich hin, weil nach Befragung das Deckblatt seiner Zigarren schlecht sei und [14] immer etwas Asche herunterfalle, die nun gleich in den Becher abtropfe. Gegen Verspottung als Sachse u. s. w. hat er bereits auch etwas in seinem Geistesschatz angebracht, es ist aber zu kompliziert und ich habe mir die sinnvolle etwas lange Wendung nicht gemerkt.

      14. 11. [Verschreibung für 10.] [1943]

      Der Bailiff26 besuchte mich. In meiner Abwesenheit ist wieder einmal etwas ohne die Überlegung befohlen worden, ob wir bei Weigerung der Landesstaaten es erzwingen können und wollen.27 Der Erfolg ist, daß wir einen gegebenen Befehl zurückziehen und ihn nicht oder schlecht u. recht selbst durchführen müssen. Der [mit Elan gestrichenes Wort, vermutlich aber Bailiff, darüber nur ein ›H‹] mit seinem kalten, jüdischen Gesicht28 hat einen billigen Triumph davongetragen. Er ist [15] unser wahrer Feind, nicht weil er uns haßt, sondern weil er sich maßlos liebt. Er wird uns später einmal maßlos herein- und ohne alle Anständigkeit heruntersetzen. Wenn wir ihn nicht von der Insel herunterschmeißen, wir würden uns an den Kopf schlagen können, welche Schriften und jüdisch advokatischen29 Ankläger wir uns da [drei energisch durchgestrichene, nicht mehr lesbare Wörter] hochgezogen haben. Ich fasse den Oberst bei seinem nicht großen Mut, d. h. bei seiner Angst und ich werde es noch durchsetzen und einen echt englisch kalten Weg zu finden wissen, um diesen Mann zu entfernen.

      15. 10. [1943]

      Casper ist in Sonderurlaub gefahren. Es fällt wieder doppelte Arbeit an. Mit Oberst im Auto weit auf den Strand hinausgefahren. Wir durften den Wagen nicht stehen lassen, da er sonst versunken wäre. Außer- [16] gewöhnlich tiefe Ebbe. Besuch des Rocco-Towers, eines weit im Meer draußen liegenden imposant gebauten Forts aus dem Jahr 180030. Architektonisch sehr schön. Ich bin tief verletzt, daß er von der Artillerie willkürlich als Zielscheibe verwendet wurde und erhebliche Schäden an den Zinnen entstanden sind. Gegenüber den heutigen betonierten Festungsbauten ist es noch ganz aus riesigen Granitquadern gebaut. Es gibt ein Rätsel auf, wie sie auf dieses unzugängliche Rock hinausgebracht wurden.

      16. 10. [1943]

      Ich lese Jakob Burkhardt Griechische Kulturgeschichte das Kapitel über Untergang u. Zerstörung Griechenlands. Es ist interessant, wie die Geschichte schon gleiche Scherbengerichte abgehalten hat, wie in [17] unserer Zeit. Die Worte eines Komikers gelten für alle Städte des damaligen Griechenland: »Eine große Einsamkeit ist die große Stadt«31. Einige bei Homer genannte Orte zu finden, wäre schwer und für den Findenden wegen ihrer Verödung nutzlos.32

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       St. Brelade's Bay auf Jersey (Aus: von Aufseß, Ein Bilderbogen von den Kanalinseln)

      17. [10. 1943]

      Wer ist nun die Anziehendere der beiden Schwestern Wedel? Ich weiß es nicht, ich liebe sie beide gleich und es könnte mir wie in heißen Jugendtagen gehen, wo ich mich in die beiden Schwestern [unleserlich] verliebte und die eine immer auf die andere wartete, bis ich sie beide wieder verküßte. Damals liebte ich sie sogar nur alle beide zusammen, eine allein war mir sofort langweilig.

      Ich fuhr mit dem Rad in das entferntere Soldatenheim in der Brelades bay33 hinaus und wir plauderten 2 Stunden, die sich Schwe- [18] ster Heidi34 freigemacht hatte. Sie hat die gleiche gute Rasse und famose Erziehung, aber sieht bis auf die große schlanke Figur doch ganz anders aus. Ihre Augen sind kleiner, bestimmter und realer. Sie ist klüger, ruhiger, reifer, hat nicht das Fliehende in sich, sondern stellt einen klaren faßbaren Mittelpunkt dar. Während die andere einen prachtvollen Tänzer und Reiteroffizier heiraten könnte, ist diese für einen Juristen, Gelehrten oder Professor bestimmt. Marie reißt mit, Heidi zieht an. Marie macht zu viele Seitensprünge Heidi zu wenig. So ist die eine dynamisch, die andere statisch. Bei aller Ähnlichkeit ist daher doch ein großer Unterschied und da beide äußerlich gleich hübsch und rassig ist die Entscheidung schwer. Meiner Natur [19] läge im Ende doch mehr Heidi. Ich bin nicht passionierter Jäger genug, um mein Leben lang Wild zu jagen. Im übrigen bin ich viel zu gut verheiratet35, um dieses Problem mich beschäftigen zu lassen. Aber es geht doch ein starker Ausstrom gegenseitig aus. Alle Ehelichkeit in Ehren, die Strahlungen sind da und sie sind ungeheuer stark, aber unsre gute Erziehung und unsre Selbstdisziplin sind ja immer noch größer. Es werden schon alte Gedanken einer Annäherung weit abgewiesen, so weit jedenfalls, daß sie nicht schaden und nur die angenehme Wärme eines Flirts davon ausgeht.

      Der General36 rief mich an und wollte mit mir den Abend verbringen. Leider bin ich schon beim Oberst eingeladen.

      18. 10. [1943]

      Dr. Auerbach war beim Oberst miteingeladen. [20] Dadurch war schon der Abend gerettet. Wir ziehen den kleinen sächsischen Kriegsgerichtsrat37 mit seinem praktischen Sinn für die kleinen Umweltsdinge auf. Die Wirkung aber ist überraschend. Er zieht vor und aus allen Hosentaschen besonders darin aufgehängte Dinge wie Messer, Schlüssel, Feuerzeug heraus, und erklärt ganz hochgenommen u. begeistert, wie er die Sachen weder verlieren noch sie ihm die Taschen kaputt machen können. Heut beim Frühstück begann er mit einer langen Geschichte, wie er den Abfluß seines Dunges auf den Garten konstruiert habe. Im Eifer beginnt er neben dem Sächsisch noch zu stottern, daß sich die am Morgen noch nicht angestimmten Sinne aesthetisch geradezu empören über dieses botokudische38 Gestammle eines deutschen Zwergstammes.

      [21]

      31. 10. [1943]

      Das Buch lag fast 14 Tage in der Schublade. Die