Wilfried Steiner

Schöne Ungeheuer


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in voller Breite. Und mit einem Mal sah es aus, als betreffe Kelloggs Unmut nicht die Maschine, sondern die Tatsache, dass sich daneben ungewaschene Tassen stapeln. (Das Chaos auf den Regalen stört ihn offensichtlich nicht.) War also meine kleine Geschichte falsch und der Professor ärgert sich nur darüber, dass niemand das Geschirr gespült hat? Wie immer konnte es entscheidend sein, das vollständige Bild zu betrachten. Jedenfalls bestellte ich sofort das Buch.

      Gegen Mittag rief Eva an. Ich konnte mich nicht erinnern, ihr meine Handynummer gegeben zu haben. Ihre Stimme klang aufgewühlt.

      „Herr Hollaus, wir haben es geschafft! Jelena Karpova hat dem Gespräch zugestimmt.“

      „Das kann ich fast nicht glauben.“

      Ich freute mich, und ich freute mich nicht. Ambivalenz, wie immer.

      „Doch, es ist wahr! Anfangs dachte ich, es gäbe keine Chance. Sie war abweisend, sehr in sich versunken. Ich habe ihr von Ihnen erzählt, aber sie hat nicht reagiert.“

      „Kein Wunder.“

      „Ich hab alles versucht. Ihr vorgeschwärmt, was für ein toller Wissenschaftsjournalist Sie sind.“

      „Das wird sie Ihnen nicht abgenommen haben. Sie ist sehr intelligent.“

      Ich hörte ein Lachen. „Sagen wir so: Sie war nicht sehr beeindruckt. Da hab ich es mit der kleinen Lüge probiert, dass Sie einen großen Artikel über das CERN in einer bedeutenden Zeitung planen. Und sehr an den neuesten Entdeckungen interessiert sind.“

      „Aha.“

      „Sie hat mich mit ihrem müden Blick angeschaut und gesagt: ‚Heutzutage interessiert sich jeder Idiot für das CERN. Und wer es nicht tut, ist erst recht einer.‘“

      „Nicht schlecht. Aber Sie haben nicht aufgegeben, vermute ich.“

      „Mir ist erst nichts mehr eingefallen. Dann hab ich gedacht, wenn die Notlüge nicht funktioniert, geben wir der Wahrheit eine Chance.“

      „Das ist gut. Dann weiß Frau Karpova jetzt, dass ich keine Ahnung habe, worüber ich mit ihr sprechen soll. Und erleichtert bin, wenn sie ablehnt.“

      In ernstem Tonfall sagte Eva: „Ich dachte, über diesen Punkt sind wir hinaus.“

      „Sie haben recht. Das war nur ein kleiner Panikanfall.“

      „Panik wovor? Ihnen kann doch nichts passieren.“

      Ich ging in die kleine Redaktionsküche und holte mir ein Dosenbier aus dem Kühlschrank.

      „Sind Sie noch da?“, fragte Eva.

      „Ja.“

      „Womit, glauben Sie, hab ich sie neugierig gemacht?“

      „Keine Ahnung.“

      „Ach, kommen Sie. Raten Sie doch einfach.“

      „Mit meiner aufregenden Biografie? Geboren in Wien, lebt in Wien, stirbt bald in Wien?“

      „Falsch“, sagte Eva übermütig. „Nächster Versuch!“

      Wir schwiegen. Ich wollte etwas Leichtfüßiges, Geistreiches sagen, doch mir fiel nichts ein.

      „Gut, dann verrate ich es Ihnen.“ Evas Stimme hörte sich an wie die eines Kindes, das einem fantasielosen Erwachsenen die Welt erklären muss.

      „Sind Sie bereit?“

      „Bin ich.“

      „Ich habe Jelena erzählt, dass Sie an einem Buch über Tunguska arbeiten.“

      „Haben Sie nicht.“

      „Hab ich doch.“ Jetzt saßen wir beide in der Sandkiste.

      Eva verließ sie zuerst.

      „Diese Frau“, sagte sie ruhig, „die mir nie etwas anderes als ein tieftrauriges Gesicht gezeigt hatte, bekam plötzlich funkelnde Augen.“

      „Aber warum?“

      „Das weiß ich nicht. Sie hat nicht mehr viel gesagt. Nur, dass sie einem Treffen mit Ihnen zustimmt.“

      Zu meiner eigenen Überraschung dachte ich darüber nach, was ich anziehen sollte. Diese Frage hatte ich, bevor ich Helga kennenlernte, für belanglos, ja für frevelhaft oberflächlich gehalten. Man greift in den Kleiderkasten und nimmt sich blind heraus, was sauber ist. Mehr Aufwand ist Zeitverschwendung. Als Helga in mein Leben trat und mein schlampiges Äußeres kritisierte, löste ich das Problem auf meine Weise. Ich zog an, was ihr gefiel; sie suchte die Sachen für mich aus, hängte sie in den Schrank an die Stelle, an die ich morgens immer hingriff, für mich änderte sich wenig und sie war zufrieden. Ich könnte heute nicht mehr mit Gewissheit sagen, was genau sie beanstandet hatte und warum die Anzüge, die sie mir für wichtige Anlässe verordnet hatte, mich nicht störten, doch an etwas erinnere ich mich: Meine Lederjacke, die mich durch mein Leben begleitet hatte und die sie abgefuckt nannte, zog ich so lange weiterhin an, bis Helga eines Tages ein Verdikt aussprach. Männer über fünfzig in schwarzen Lederjacken sind lächerlich. Das klang unwiderlegbar wie Newtons Gravitationsgesetz und verbannte die Jacke in den Nebenschrank (ich konnte gerade noch verhindern, dass sie sie in den Kleidercontainer der Volkshilfe warf). Das Seltsame war: Auch nach der Trennung habe ich sie nie wieder angezogen.

      Und nun hob ich sie behutsam vom Haken, wischte den Staub vom Kragen und schlüpfte hinein. Weshalb? Für wen? Für eine Anwältin, die über meinen Anzug gelacht hatte? Für eine verdächtige Physikerin, deren Augen Tunguska zum Leuchten gebracht hatte? Nein, ich glaube nicht. Etwas hatte aufgehört und etwas anderes begonnen.

      Am Bahnhof Linz holte mich Eva mit dem Auto ab. Sie hatte ihren kleinen roten Flitzer (keine Ahnung, welche Marke) direkt vor dem Haupteingang geparkt und winkte mir zu. Diesmal trug sie einen eleganten Hosenanzug und hochhackige Schuhe. Es war wohl für sie ein wichtiger Anlass. Sie musterte mich kurz, schmunzelte und legte ihre Hand auf meinen Oberarm. Die Jacke knisterte, wie es sein musste.

      „Das mit dem goldenen Mittelweg ist nicht so Ihr Spezialgebiet, stimmt’s?“

      „Aber Sie haben doch beim letzten Mal –“

      „Vergessen Sie’s. War nur ein Witz. Steht Ihnen gut, die Jacke. Sie sollten sie bei Gelegenheit reinigen lassen.“

      Ich roch am Innenfutter. Angenehm herber Duft, fand ich.

      Auf dem Weg zum Landesgericht spürte ich ihre Nervosität. Sie fuhr unkonzentriert, rammte einmal beinahe einen Radfahrer, der uns Flüche nachschickte. Sie schien nichts davon mitzubekommen.

      Vor dem Haupteingang blieb sie stehen und schaute mich von der Seite an.

      „Herr Hollaus, ich wünsche Ihnen und Jelena viel Glück.“

      „Danke.“

      „Sie kennen die Regeln?“

      „Ich denke schon. Kein Wort über die Tat. Keine Erwähnung des Opfers.“

      Eva nickte. „Wenn sie nur vage spürt, dass Sie etwas über diese Nacht herausbekommen wollen, bricht sie auf der Stelle ab.“

      Wir stiegen aus und betraten das Gebäude. Eva ging voraus und lotste mich durch die Gänge. Wir stiegen die Treppe in den ersten Stock hinauf bis zu einem Schild mit der Aufschrift „Besucher“.

      „Hier beginnt die Justizanstalt“, erklärte Eva. „Nur Insassen in U-Haft und Verurteilte mit Reststrafen bis zu achtzehn Monaten.“

      Sie öffnete die Tür und begrüßte die beiden Justizwachebeamten, die in einem hölzernen Verschlag saßen. Gab es im Gefängnis eine Rezeption?

      „Das ist Georg Hollaus. Wir haben uns angekündigt.“

      Einer der Beamten winkte uns durch, der andere stand auf und kam auf mich zu. Er nahm mir meine Umhängetasche ab und zeigte auf meine Jacke.

      „Die auch, bitte.“

      Er betrat einen