Wilfried Steiner

Schöne Ungeheuer


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auf den Lippen. Mein Eindruck war zwiespältig. In einer Sekunde vermeinte ich einen Anflug von warmherziger Klugheit in ihrem Blick zu entdecken, in der nächsten erschien sie mir abweisend und überheblich.

      Mit einem Mal kam mir meine Suche schäbig vor, unter meiner Würde. Ich schaltete den Computer aus und holte einen Ordner aus einem der Regale. Er trug die Aufschrift „Tscheko“, ich mochte ihn besonders gern.

      Wer die Antwort auf eine Frage sucht, die Generationen von Wissenschaftlern beschäftigt hat, kommt oft zu seltsamen Ergebnissen. Besonders dann, wenn man sicher sein kann, dass man selbst diese Antwort niemals finden wird. Dann fällt die Wahrheit als mögliches Forschungsergebnis weg und nur das Spiel bleibt zurück, das Jonglieren mit Hypothesen, die lediglich eines gemeinsam haben: Sie sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch. Für diese Arbeit, die wie in meinem Fall nur Geschichten an Geschichten reiht, wüste Hirngespinste ebenso dokumentiert wie die Analyse von Bodenproben, verwenden Außenstehende meist einen abwertenden Begriff, den ich aus Helgas Mund zum ersten Mal in dieser Despektierlichkeit gehört habe: Hobby. Dieses Wort bremst die wilde Jagd, der sich der richtungslose Forscher hingibt, erinnert ihn daran, dass er niemals im Palast des Wissens ankommen wird, verwandelt die Kutsche in einen Kürbis, reißt den Reiter aus dem Sattel und zeigt ihm, dass sein Pferd nur aus Holz ist.

      Immer wenn ich dieses Wort höre, muss ich vom Boden aufstehen, mir den Staub von der Hose klopfen, meine Nase in den Wind halten, um Luft zu bekommen, mich dann wieder niederknien und zärtlich den Stock mit dem Pferdekopf streicheln, der neben mir auf der Erde liegt. Dann suche ich Sätze, die ich den Spöttern entgegenschleudern kann.

      Manchmal ist die Lüge schöner als die Wahrheit. Oder nein, nicht die Lüge: der Irrtum. Manchmal ist der Irrtum schöner als die Wahrheit. Vielen Naturwissenschaftlern ist diese Einsicht gleichgültig; wenn sie sich für Schönheit erwärmen, dann meist nur für das Ebenmaß bestimmter Gleichungen, das Leuchten des Weltalls oder die Schlichtheit einer unwiderlegbaren Theorie. Manche, die dem Metaphysischen nicht abhold sind, mögen hinter den Formeln und Berechnungen das Walten einer höheren Macht vermuten. Doch statistisch gesehen, sind die Gottsucher unter den Physikern in der Minderheit.

      Der Tscheko-See ist eines der schönsten Gewässer Sibiriens. Im Sommer funkelt er inmitten von grünen Hängen wie ein flüssiger Saphir, während die Wolkenschatten über ihn hinwegziehen. Im langen Winter umgibt ihn trostlose, weißbraune Schuppenhaut und er gleicht der Pupille eines gewaltigen Reptils, das in leere Himmel blickt. Doch verlockender als seine ästhetischen Reize sind seine Geheimnisse. Sein tiefster Punkt liegt exakt acht Kilometer entfernt vom imaginären Einschlagkrater des Geistermeteoriten von Tunguska.

      Diese Tatsache brachte – fast hundert Jahre nach dem Ereignis – italienische Geologen auf eine Idee. Sie untersuchten den See mit Echolot und entdeckten, dass er eine trichterartige Form besitzt. Für die Region ist er außerdem ungewöhnlich tief. Und er findet sich auf keiner Karte vor 1908. Seismische Messungen kamen zu dem Ergebnis, dass sich unter dem Grund des Sees eine Schicht aus sehr dichtem Gestein verbirgt. Luca Gasperini und sein Team von der Universität Bologna schlossen daraus, dass es sich beim Tscheko-See nur um den bisher vergeblich gesuchten Impaktbeweis handeln konnte. Ihre These war einleuchtend: Nicht einer, sondern zwei Brocken waren hier niedergegangen. Der erste verglühte vor dem Aufschlag in der Luft, der zweite, kleinere, schlug auf und bildete den kraterförmigen See. Die Lösung des Rätsels war gefunden!

      Doch sie hielt weiteren Forschungen nicht lange stand. Ein paar Jahre später untersuchten russische Wissenschaftler erneut die Sedimente am Grund des Sees. Geochemische Analysen ergaben, dass die entnommenen Proben mindestens zweihundertachtzig Jahre alt waren. Mitarbeiter des Instituts für Geologie und Mineralogie konnten kurz darauf mittels Radioskopie das Ergebnis ihrer Kollegen bestätigen.

      Und warum war der See dann auf keiner Karte verzeichnet? Das sei nicht weiter verwunderlich, erklärten die Forscher aus Krasnojarsk. Wegen der riesigen Ausdehnung dieses Gebietes sei seine kartografische Erfassung immer mangelhaft gewesen, und an dem Umstand, dass ein kleiner See nicht auf alten Landkarten zu sehen war, sei nichts Ungewöhnliches.

      Also wieder nichts. Der Tscheko-See verlor sein Mysterium, es blieb ihm nur seine Schönheit.

      Mein Lieblingsirrtum der letzten Jahrzehnte stammt ebenfalls von italienischen Wissenschaftlern. Ein Team mit dem Namen Opera verkündete 2011 Messergebnisse, die beweisen sollten, dass sich manche Neutrinos schneller als das Licht bewegten. Die Forscher hatten diese Teilchen über sechs Monate hinweg beobachtet und immer wieder sei es zur Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit gekommen. Die Partikel legten eine siebenhundert Kilometer lange Strecke zwischen dem CERN und dem italienischen Labor Gran Sasso in einem Tempo zurück, das 0,025 Promille über der Geschwindigkeitsgrenze des Universums lag. Gemäß der Relativitätstheorie war das jedoch unmöglich: Nichts kann in einem Vakuum schneller fliegen als das Licht. Die Sensation war perfekt! Das Jahrhundertgenie Einstein war widerlegt!

      Fünf Monate später wandten sich die Opera-Mitarbeiter wieder an die Öffentlichkeit. Dieses Mal jedoch mit leiseren Tönen. Es seien „zwei mögliche Effekte identifiziert worden, welche die Messungen beeinflusst haben könnten.“ Ein GPS-Gerät und ein defektes Glasfaserkabel hätten zu einer „Überschätzung der Geschwindigkeit“ geführt. Die Experimente müssten wiederholt werden.

      Diese Mitteilung führte in der Welt der Naturwissenschaften zu allerlei launigen Kommentaren. Das Wort Promille in der Veröffentlichung von 2011 wurde dabei nicht immer wohlmeinend interpretiert. Auf einer Karikatur sah man Männer in weißen Kitteln, mit Weingläsern in der Hand, ein wenig schwankend über ein Kabel gebeugt. Mein Gott, so schnell!, ruft einer von ihnen.

      Seit damals erwartet niemand mehr bahnbrechende Nachrichten aus Gran Sasso. Ich hingegen vertraue auf die Findigkeit des kühnen Opera-Teams und halte die Daumen für neue Enthüllungen, die das Gefüge der physikalischen Sicherheiten zu erschüttern vermögen, und sei es auch nur für ein paar Monate.

      SECHS

      Bei der Zugfahrt nach Linz am folgenden Tag blätterte ich das Dossier noch einmal durch. Doch ich war unkonzentriert, mein Blick rutschte ab und blieb auf meinen ungeputzten Schuhen hängen. Mit einem Papiertaschentuch beseitigte ich die gröbsten Schmutzreste.

      Vom Bahnhof zum Landesgericht nahm ich die Straßenbahn. Die Landstraße war von Menschenmassen verstopft, als stünde Weihnachten kurz bevor. Am Taubenmarkt stieg ich aus und spazierte den Graben entlang in die Museumstraße. Auf einem hässlichen dreigeschossigen Gebäude fand ich die Aufschrift Landesgericht Linz Staatsanwaltschaft Linz. Die Fenster der oberen Stockwerke wurden von dreieckigen Giebeln gekrönt, vom Dach bis zu den Torbögen verliefen abgeflachte Wandpfeiler. Es war genau die Art von Klassizismus, die mich stets einschüchterte und Fluchtreflexe in mir auslöste. Möglicherweise lag es aber auch nur daran, dass mir mein Auftrag, je näher ich dem Gebäude kam, desto idiotischer erschien. Warum um alles in der Welt hatte ich mich darauf eingelassen?

      Blick auf die Uhr: Ich war zu früh. Also machte ich kehrt, überquerte die Straße und ging in den Park des Landesmuseums, das dem Gericht gegenüberlag. Hier fühlte ich mich schon wohler, obwohl auch dieser Bau nicht gerade ein architektonisches Glanzstück war. Doch auf der ungemähten Wiese zwischen den Bänken blühte es wild blau und rot durcheinander, das Summen der Bienen erfüllte die Luft und es roch nach den Frühlingsausflügen meiner Kindheit.

      Ich wollte mich setzen, da sah ich das Schild auf der Rückenlehne. Nur für Artgerechte stand da. Einen Augenblick lang war ich entsetzt: Sollte die oberösterreichische Politik tatsächlich schon so – dann begriff ich und atmete auf. Ein Kunstprojekt, natürlich. Andere Banklehnen trugen die Aufschriften Nur für Alleinerzogene oder For German Speaking Only. Wo solche Schilder stehen, dachte ich, da lass dich ruhig nieder.

      Mitten im Park stand eine Bronzeplastik, ein Monolith mit kleinen runden Aussparungen, durch die man auf die üppig wuchernden Büsche dahinter blicken konnte. Ihr Titel gefiel mir – Große Weltlochwand. Ich verband ihn sofort mit dem Krater, den so viele Forscher vergeblich gesucht hatten: Das große Weltloch in der sibirischen Einöde.

      Weshalb