Robert Wagner

Die Grump-Affäre


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es keinen Sinn haben würde, hier auf den Italiener zu warten oder gar Fragen zu stellen. Ein Fremder würde den Vertrag abholen und das Dokument wieder einem anderen Fremden geben. Selbst der Barmann wusste nicht, dass er als stiller Briefkasten herhalten musste.

      Zurück bei Marco in der Küche passierte stundenlang nichts. Niemand meldete sich.

      Es gab Kaninchen auf ligurische Art, geschmort im Ofen mit Wurzelgemüse, schwarzen Oliven und Rosmarin in einer Sauce von Weißwein aus Apulien, den Marco augenzwinkernd auch als Aperitif sowie als Tischwein kredenzte.

      In John breitete sich Verzweiflung aus. Der Wein schmeckte schal, und das lag sicher nicht an dem preisgekrönten Tropfen. Er musste etwas unternehmen!

      „Marco, du kennst dich doch bei euch in der Community aus. Kannst du dich nicht mal umhören? Vielleicht kennt jemand diesen Gianluca?“

      Marco schaute vom Zwiebelschneiden auf. Er wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab und sagte schniefend: „Schon erledigt. Ich habe meinen Onkel darauf angesetzt und treffe mich in einer Stunde mit ein paar alten Freunden. Wenn die nicht wissen, für wen der Kerl arbeitet, dann weiß es in ganz New York niemand.“

      Es wurde dunkel. John saß allein in der Küche und dachte bei einem schönen Single Malt, den der gute Marco ihm zum Abschluss angeboten hatte, angestrengt nach. Er war noch nie in solch einer Situation gewesen. Gewalt, Entführung oder gar Mord kamen in seiner Welt nicht vor. Er zog die verbale Auseinandersetzung der körperlichen vor. Jetzt hatte er das Gefühl, zu versagen, er wurde in eine andere Welt hineingezogen. Eine dunkle, kalte Welt, von der er nichts verstand.

      Er musste etwas unternehmen. Dieses Warten, dass sein Handy klingelte und man ihm endlich den Ort verriet, an dem seine Familie gefangen gehalten wurde, konnte er nicht mehr länger ertragen. Er hatte alles getan, was von ihm verlangt wurde, er hatte nur noch einen Wunsch und Gedanken: Er wollte seine Frau und seinen Sohn endlich wieder in den Armen halten, wissen, dass es ihnen gut ging. Er musste sich bewegen und nachdenken. Er ging auf die Straße und lief einfach los, er hatte kein Ziel, er musste nachdenken und brauchte eine Lösung. Er lief die Baker Street hinunter an seinem alten Haus vorbei, blieb kurz stehen, um die Ruinen, die wie Stalagmiten aus dem Boden ragten, zu betrachten, und lief dann ziellos weiter.

      Nachdem er das Gefühl für die Zeit verloren hatte und schon den Hudson River sehen konnte, vibrierte das Handy in seiner Manteltasche. Sein Herz blieb kurz stehen.

      Weisses Haus, Washington, D.C., Januar 2017

      Steve Bacon betrat geschmeidig das Oval Office durch eine Seitentür.

      Wie immer war Steve leger gekleidet, trug ein einfaches Hemd mit rotem Schlips, darüber ein kariertes Sakko und Jeans. Er hatte sein Aussehen stets beibehalten; neuerdings rasierte er sich allerdings täglich. Das einzige Zugeständnis an seine neue Position. Er legte bei der Auswahl seiner Kleidung keinen gesteigerten Wert auf Äußerlichkeiten, das karierte Sakko trug er schon etliche Jahre. Es war zu einer Art Markenzeichen von ihm geworden.

      Er war der persönliche Assistent von Ronald Grump. So zumindest seine offizielle Bezeichnung, jeder wusste aber, welche Macht Steve innehatte. Er allein entschied, welche Dinge mit Ronald besprochen werden durften. Einen Termin bei Ronald ohne die Freigabe von Steve war undenkbar. Die beiden Männer verband keine Freundschaft, aber durch die zahlreichen Schlachten, die sie in den letzten Jahren gemeinsam gefochten und allesamt gewonnen hatten, war so etwas wie Vertrauen und Zuneigung, aber auch Abhängigkeit entstanden. Steve Bacon war der Kontaktmann zu der geheimnisvollen Organisation. Ronald hatte gehört, dass man sie „Medusa“ nannte. Er kannte sich mit griechischer Mythologie nicht aus, hatte aber nachgelesen und herausgefunden, dass es sich um ein weibliches Ungeheuer handelte, die ihre Gegner beim bloßen Anblick versteinern und töten konnte. Ziemlich treffsichere Namensgebung, wie er fand. Er wusste immer noch nicht, um wen und welche Personen es sich bei „Medusa“ handelte.

      Steve schien in der Organisation weit oben zu stehen, da er direkten Kontakt zur Führungsriege hatte und weitgehend selbst entscheiden konnte. Jedes Gespräch, in dem Ronald mehr über „Medusa“ herausfinden wollte, endete immer auf die gleiche Art und Weise: Steve setzte ein Lächeln auf, neigte den Kopf zur Seite und antwortete:

      „Es ist besser, wenn Sie das nicht wissen. Besser für ein glaubwürdiges Dementi, Ronald.“

      Steve war der Steuermann der Kampagne, der Kopf dahinter. „Medusa“ selber blieb im Dunkeln. Die Männer vom Burke Lake hatte Ronald nie wiedergesehen und nichts mehr von ihnen gehört. Der einzige Kontakt war Steve.

      „Mr. President, Sir, ich störe Sie nur sehr ungern, aber es gibt einige wichtige Entscheidungen, die jetzt getroffen werden müssen.“

      Steve überreichte dem Präsidenten einen Umschlag, der nicht beschriftet war; dies war insofern sehr außergewöhnlich, da sämtliche Korrespondenz des Präsidenten erst im Security Office geprüft werden musste und dann vom Postal Service geöffnet wurde. Dies geschah aus rein praktischen Überlegungen: Es gab kaum Post, die an den Präsidenten gerichtet war und von ihm persönlich beantwortet wurde. Für jedes Thema gab es Spezialisten. Jede dieser Stellen versah das Dokument gewöhnlich mit einem Stempel und einem Bearbeitungsvermerk. Alles wurde elektronisch dokumentiert, somit war jederzeit nachvollziehbar, wo sich welches Dokument in der Bearbeitung befand.

      Dieser Umschlag war nicht gestempelt.

      Der Präsident öffnete den nicht beschrifteten Umschlag, holte mehrere Blätter Papier hervor und begann zu lesen.

      Es handelte sich um eine Liste, die im Großen und Ganzen die gesamte Besetzung der neuen Administration betraf. Für jeden Ministerposten und jede wichtige Funktion stand darauf ein Kandidat beziehungsweise ein Name: Namen, die Ronald noch nie gehört hatte und Namen, mit denen er weniger als ein Gesicht verband. Er kannte diese Leute nicht. Er verstand allerdings, dass die erste Gegenleistung von ihm eingefordert wurde. Man hatte ihn erwartungsgemäß kontaktiert, und nun sollte er wichtige Posten seines Kabinetts und des Executive Office des Präsidenten der Vereinigten Staaten mit Leuten besetzen, die er nicht kannte. Das war Teil des Deals, dem er vor Jahren am Burke Lake zugestimmt hatte. Bis heute hatte er keine Aufforderung bekommen, irgendetwas anders zu machen, als er es ohnehin getan hätte. Doch nun hatte „Medusa“ zum ersten Mal ihr Haupt erhoben.

      Die Liste schien lang: Mike Price, mit dem er die meiste Zeit den Wahlkampf bestritten hatte, stand ganz oben weiterhin als sein Vize auf der Liste. Er mochte Mike nicht, man hatte ihn ausgesucht, weil er neben Steve der Verbindungsmann zur Organisation war, aber hauptsächlich fühlte er sich von Mike beobachtet und wusste, dass, wenn er nicht auf Linie blieb, Mike übernehmen würde. Allein schon deswegen mochte Ronald ihn nicht. Mike war ein Speichellecker, wie er schon viel zu viele getroffen hatte: Menschen, die sich gern im Schatten großer Persönlichkeiten tummelten und sich von den Brotkrumen ernährten, die Titanen wie er vom Esstisch fallen ließen. Ganz bewusst fallen ließen.

      Außenminister Rik Tillman war der Nächste auf der Liste. Er kannte ihn nicht gut, nur auf einigen Veranstaltungen und Spendengalas hatte er ihm beiläufig die Hand geschüttelt. Welche Qualifikationen er hatte, wusste Ronald nicht, aber er sollte Außenminister werden. Jetzt hatte er ein Problem. Tomas Scharon sollte eigentlich den Posten übernehmen – Ronald hatte viel Geld aus dessen Heimatbezirk erhalten, und er fand den Jungen gut. Vor allem machte er alles genau so, wie man es ihm sagte. Dieser Charakterzug gefiel Ronald an Menschen: Wenn sie wussten, wann und wem sie zu folgen hatten. Nun, er würde mit ihm sprechen müssen und sicher einen anderen Posten für ihn finden. Was zählte schon das Wort von gestern, gerade bei Politikern.

      Finanzminister: Steve Munic. Er hatte noch nie etwas von dem Mann gehört, fand aber, dass man mit so einem Nachnamen nicht in die Politik gehen sollte. Wieder das gleiche Problem, eigentlich wollte er Adam Scott auf diesem Posten, einen ausgewiesenen Experten. Adam hatte ihm schon unzählige Male schwierige Finanzkonstrukte mit einfachen Worten erklärt, das gefiel ihm. Gut, auch dafür würde er wohl oder übel eine Lösung finden müssen. Die Liste setzte sich endlos fort, Verteidigung, Justiz, Innenministerium, er überflog all die Namen und schaute ratlos zu Steve auf, der nach wie vor lässig dastand und auf eine Reaktion wartete.