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Empörung, Revolte, Emotion


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Nicolas Batteux orientiert sich an Rosenwein und führt eine Umkehrung gewöhnlicher emotionsgeschichtlicher Untersuchungen durch, indem er in der 68er Bewegung nicht die protestierenden Studenten, sondern Parlamentarier der SPD-Bundestagsfraktion unter die Lupe nimmt. Er zeigt im Besonderen, wie der Begriff „Emotionen“ von den Abgeordneten in Abgrenzung zum Begriff „Gefühle“ verwendet wurde, um das als negativ empfundene Verhalten der demonstrierenden Jugend als übermäßig affektbetont anzuprangern.

      Henning Fauser kehrt den Blick nach Frankreich und beleuchtet in seinem Beitrag ebenfalls das Verhalten einer Gruppe sowie die Signalfunktion, die bestimmte Handlungen beim Ausdruck von Emotionen haben können, und zwar am Beispiel des öffentlichen Tragens der gestreiften Häftlingskleidung durch französische KZ-Überlebende im Zeitraum 1945–1961. In diesem Fall sollte ein gestreiftes Stück Stoff, das auf Demonstrationen am Leib getragen wurde, auf vergangenes Leid verweisen, beim Betrachter Emotionen wecken und eine Stigma-Umkehr von negativer Ausgrenzung zu positiver Abhebung vollziehen. Gezeigt wird außerdem, dass nur kommunistisch gesinnte ehemalige Häftlinge ihre KZ-Kleidung auf diese Art und Weise als visuelles Mittel politischer Kommunikation einsetzen.

      Viel weiter zurück in der Zeit geht Niall Bond bei seiner Untersuchung der Rolle von Emotionen und Empörung in der formativen Phase der Rechts- und Sozialwissenschaften in Deutschland. In der Auseinandersetzung zwischen der romantischen Rechtsauffassung eines Savignys und dem von Rudolf von Jhering vertretenen Utilitarismus wurde dem Vorwurf der übertriebenen Rationalität (Gefühlsleere, Emotionslosigkeit, zweckorientiertes Kalkül) bzw. Irrationalität (Sentimentalität bis zur Gefühlsduselei) vorgeworfen. Bei Ferdinand Tönnies und in der frühen deutschen Soziologie finden sich Spuren beider Richtungen, die sich im Begriffspaar Gemeinschaft-Gesellschaft niederschlagen. Dahinter sieht Bond den strukturellen Gegensatz zwischen Normen der Bewusstheit und Normen der Unbewusstheit.

      Dem Beitrag von Matthias Rein über Zorn im geistlichen Sündendiskurs des Mittelalters kommt nicht nur in chronologischer Hinsicht ein besonderer Platz zu, handelt es sich doch um den einzigen Text zur vorneuzeitlichen Geschichte in diesem historischen Teil. Er steht auf Grund seines metasprachlichen Ansatzes auch an der Nahtstelle zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft und bemüht sich um eine differenzierte Thematisierung der Grundemotion Zorn. Über die narrative Ebene hinaus werden auch die psychischen, physischen und sozialen Auswirkungen von Zorn berücksichtigt und anhand von drei Beispieltexten eingehend untersucht.

      4 Literaturwissenschaft: Empörung, Revolte, Emotion

      Seit der antiken Rhetorik gehören Emotionen zu den Wesensmerkmalen der Literatur. Sie wurde als Kunst aufgefasst, die durch sprachliche Mittel eine gewisse Macht auf Zuhörer- bzw. Leserschaft ausüben kann und soll (cf. die von der aristotelischen Tragödie auszulösende Reaktion von eleos und phobos). Den Leser und den Zuhörer zu „erschüttern“ (movere) gehört bekanntlich neben den anderen Funktionen des Belehrens (docere) und Unterhaltens (delectare) zu den Hauptaufgaben der antiken Redekunst. Die Literatur des Barocks stand diesem rhetorischen Modell noch nahe. Zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert wurde Literatur u.a. als Instrument der Seelenerkundung begriffen. In dieser psychologischen Auffassung der Literatur spielen Emotionen, Gefühle und Empfindungen eine große Rolle. Literarische Bewegungen des 18. Jahrhunderts wie die „Empfindsamkeit“, der „Sturm und Drang“ oder auch der Pietismus lassen sich sogar als Reaktionen auf das Modell der antiken Rhetorik im Bereich der Emotionen interpretieren: als „Gegenmodell emotionaler Kommunikation“, das „das erlebnisästhetische“ gegen das rhetorische ausspiele, indem sie behaupteten, „Emotionen können nicht nur nachgeahmt, sondern faktisch erlebt werden“ (Anz 2006). Gerade gegen dieses rhetorische und psychologische, als traditionell wahrgenommene, Verständnis der Literatur lehnte sich die Literatur der Moderne auf. Die Revolte der modernen Kunst richtete sich gegen den Vorrang der Emotionen in der Literatur und befürwortete dagegen eine Kunst des sprachlichen Experiments, der Selbstreflexion und des Kalküls. Nun lässt sich seit den 2000er Jahren eine Art Rückkehr zu den noch vor kurzem verpönten Emotionen in der Literaturwissenschaft beobachten. Der Erfolg der amerikanischen Moralphilosophie (Nussbaum 1990, 2013, 2017), die der Literatur und ihrer Art, Emotionen darzustellen und einzusetzen, einen Erkenntniswert beimisst, da bestimmte Konzepte der Ethik dadurch neu gedacht werden können, mag dazu beigetragen haben. Die Frage nach der Macht der Literatur, die von der der Affekte nicht zu trennen ist (Bouju/Gefen 2012), steht im Mittelpunkt der aktuellen theoretischen Reflexionen der Literaturwissenschaft. Emotionen dienen der Neubeschreibung von Gattungen (Meyer-Sickendiek 2005) dank dem Begriff des „emotionstypischen Schlüsselszenarios“; sie werden in der Erzähltheorie eingesetzt, Empathie bzw. Sympathie etwa gehören zu den wichtigen Begriffen in der Analyse der Figuren in fiktiven Erzählungen. Die inter- bzw. transmediale Wende mag ein weiterer Grund sein für das neu erweckte Interesse an Emotionen, so stark emotionalisierend Bild und Sound im Film sein können (Grau/Keil 2005).

      Unter den neu berücksichtigten Affekten kommt Empörung, in der Doppelbedeutung des Wortes als „Entrüstung bzw. Indignation“ und „Aufstand“, an der Schnittstelle also zwischen „Emotion“ und „Handlung“, eine Schlüsselrolle zu. Sie lässt sich dem Zorn zuordnen, wobei zwischen „thumos“ und „nemesis“ unterschieden werden soll. Während „thumos“ Zorn als einen individuellen Affekt bezeichnet, verweist „nemesis“ auf eine „legitime Indignation“ (Boyer-Weinmann 2015), die dem Anderen zugewandt ist und auf das Zusammenspiel von Individuum und Kollektivum hinweist. Zorn kann verschiedene literarische Formen und Textsorten in Anspruch nehmen, wie die Satire (Kraus, Tucholsky, Jelinek), der Sarkasmus (Bernhard), das Pamphlet, das Flugblatt (Büchner) oder das Manifest, die Brand- und Streitschrift, das Kampflied oder die Hymne (Heine, Brecht, Biermann). Empörung rückt also das Verhältnis von Literatur und Politik, die Fähigkeit der Literatur, „die Welt zu verändern“ (Marx), in den Vordergrund, wobei die Parallelisierung von politischer und literarischer Avantgarde immer wieder in Frage gestellt wird (Enzensberger 1962). Dass Protest mit formalästhetischen Mitteln durchaus wirksam – und vielleicht mit größerer Schlagkraft als mit einer pathetischen, gefühlsbeladenen Sprache – ausgedrückt werden kann, gehört zu den brisantesten Erkenntnissen der modernen Literatur, zudem der Widerspruch bzw. die Diskrepanz zwischen empfundenen, nachgeahmten Emotionen und kontrolliertem Schreibakt der Literatur innewohnt. Die Lyrik der angry young men Thomas Brasch oder Rolf Dieter Brinkmann, das Theater des jungen Handke lassen sich nicht unbedingt mit dem Stichwort „Emotion“ beschreiben, aber sie provozieren und skandalisieren, rufen Empörung bei der Leserschaft hervor und werden als eine Form von Gewalt wahrgenommen (s. den Film Brinkmanns Zorn von Harald Bergmann). Auf welcher Seite des Schreibakts steht also Zorn? Fungiert Zorn bzw. Empörung bei manchen Schriftstellern als Triebkraft des Schreibens? Wenn Zorn ein historischer Affekt ist, wie Michelet im Hinblick auf die Französische Revolution behauptete, was ist der Affekt der Literatur nach der geschichtlichen Katastrophe der Judenvernichtung? Kann Empörung neben der Melancholie mit den Texten Sebalds oder Celans in Verbindung gebracht werden, wie über Primo Levi oder Chalamov geschrieben wurde (Boyer-Weinmann 2015)? Ist literarische Empörung männlich codiert, wobei Jelineks Schriften als prominente Ausnahmen firmieren würden?

      Der Beitrag von Emmanuelle Terrones im vorliegenden Sammelband lotet am Beispiel des Romans einer Schriftstellerin, Olga Grjasnowa, Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012), und der Erfahrungen seiner Ich-Erzählerin die Paradoxen und Widersprüche der Wut aus, die sie im Lichte der Reflexionen von Hannah Arendt untersucht. In diesem Beispiel für weibliche Empörung wird die Frage nach dem Geschlecht der Wut allerdings nicht thematisiert. In Farah El Abeds Aufsatz hingegen steht das Geschlechtsstereotypische im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der Figur der Enite aus dem Roman Erec von Hartmann von Aue aus dem Ende des 12. Jahrhunderts. Der Artikel beleuchtet einerseits die Rolle der Emotionen und Wahrnehmungen in der Konstruktion der Geschlechterverhältnisse im Mittelalter, wo die Frau als „Sensorium“ des Mannes fungiert und somit ihre Funktion als Vermittlerin erfüllt und ihren Status als frowe erreicht. Andererseits wird die Ambiguität der Position des Autors ans Licht gebracht, der die tradierten Rollen und Codes zwar inszeniere, sich aber möglicherweise davon kritisch distanziere.

      In ihrer