wenn mir das alles verzehrende Lächeln einfällt, das er beim Singen aufsetzte, kriege ich eine Gänsehaut; ich schrecke zurück, während auf meiner Kopfhaut der Schweiß ausbricht. »Wenn du dir die Sex Pistols anhörst, ›Anarchy in the U.K.‹ und ›Bodies‹«, sagte einmal Pete Townshend von den Who, »merkst du sofort, dass das wirklich passiert. Da steht einer, einer mit ’nem Hirn zwischen den Ohren, und erzählt etwas, von dem er ehrlich glaubt, dass es in der Welt passiert, und das sagt er richtig giftig, richtig leidenschaftlich. Das lässt dich nicht unberührt, und es macht dir Angst … dir wird ganz mulmig: Als würde jemand sagen: ›Die Deutschen kommen! Und wir können sie unmöglich aufhalten!‹«
Es ist bloß ein Popsong, ein Möchtegernhit, ein ehemaliger Hit, eine billige Ware, und Johnny Rotten ist niemand, ein anonymer Vorbestrafter, dessen größte Leistung bis zu jenem Tag, als er im Jahre 1975 vor Malcolm McLarens Sex-Boutique in der Londoner King’s Road entdeckt wurde, darin bestand, ab und zu Passanten zu ärgern. Es ist ein Witz … und doch stellt die Stimme, die den Witz erzählt, etwas Neues im Rock ’n’ Roll dar, und damit in der populären Nachkriegskultur: eine Stimme, die sämtliche gesellschaftlichen Fakten leugnete und dadurch beteuerte, dass alles möglich war.
Und sie bleibt neu, weil der Rock ’n’ Roll sie immer noch nicht eingeholt hat. Etwas Ähnliches hat man weder vorher noch nachher im Rock ’n’ Roll gehört … obwohl diese Stimme, als sie erklungen war, eine Zeit lang für jeden verfügbar zu sein schien, der sich traute, sie zu benutzen. Eine Zeit lang und wie durch Zauberkraft – die Popzauberkraft, bei der die Koppelung bestimmter gesellschaftlicher Fakten an bestimmte Sounds unwiderstehliche Symbole der Veränderung gesellschaftlicher Realität schafft – funktionierte diese Stimme wie eine neue Redefreiheit. In zahllosen neuen Kehlen sagte sie zahllose neue Dinge. Man konnte kaum das Radio einschalten, ohne überrascht zu werden; man konnte ihr kaum entkommen.
Heute klingen diese alten Stimmen noch genauso bewegend und beängstigend … teils, weil ihre Ansprüche unvermindert dieselben, teils, weil sie in der Zeit eingefroren sind. Die Sex Pistols waren ein kommerzielles Unternehmen und eine kulturelle Verschwörung mit dem Ziel, das Musikgeschäft zu verändern und an dieser Veränderung Geld zu verdienen – aber Johnny Rotten sang, um die Welt zu verändern. Das taten auch andere, die eine Zeit lang ihre Stimmen in seiner wiederfanden. In dem von ihnen hinterlassenen schmalen Œuvre hört man, wie es passiert. Beim Zuhören merkt man, wie man reagiert: »Das passiert wirklich.« Doch die Stimmen verharren in der Zeit, weil man sich nicht umdrehen und rückblickend sagen kann: »Das ist wirklich passiert.« Nimmt man Kriege und Revolutionen als Maßstäbe, hat sich nichts verändert; wir halten Rückschau aus einer Zeit, in der, wie es Dwight D. Eisenhower einmal formulierte, »die Dinge mehr so wie jetzt sind, als sie es je waren«. Gemessen an den absoluten Ansprüchen, die von den Sex Pistols für so kurze Zeit erzeugt wurden, hat sich nichts verändert. Der von den Ansprüchen der Musik ausgehende Schock wird zu dem Schock, dass etwas scheinbar so Absolutes im Lauf der Ereignisse letztlich fast unbemerkt vergehen konnte: »Das ist eigentlich doch nicht geschehen.« Die Musik strebt danach, das Leben zu verändern; das Leben geht weiter, die Musik bleibt zurück; nur darüber lässt sich noch reden.
Die Sex Pistols schlugen eine Bresche in das Popmilieu, in die Mauer überkommener kultureller Voraussetzungen, die Hörerwartungen und zu erwartende Reaktionen bestimmten. Weil überkommene kulturelle Voraussetzungen hegemonische Annahmen darüber sind, wie die Welt angeblich funktioniert – als Naturgesetze aufgefasste und erfahrene ideologische Konstrukte –, schlug die Bresche im Popmilieu auf den Bereich des Alltagslebens durch: auf das Milieu, in dem man als Pendler zur Arbeit fuhr, in der Fabrik, dem Büro oder dem Einkaufszentrum seinem Job nachging, ins Kino ging, Lebensmittel einkaufte, Schallplatten erwarb, fernsah, miteinander schlief, Gespräche führte, keine Gespräche führte oder auflistete, was man als Nächstes tun wollte, also auf die allgemeinen Lebensumstände der Menschen.
Den Ansprüchen nach zu urteilen, die eine Schallplatte der Sex Pistols an die Welt stellte, musste sie die Art verändern, wie sich jemand allmorgendlich zur Arbeit begab … mit anderen Worten, die Platte musste diese Handlung mit jeder anderen verknüpfen und dann das große Ganze in Frage stellen. So würde die Platte die Welt verändern.
Elvis Costello erinnert sich, wie es damals gelaufen war, als er noch Declan McManus hieß, Computerspezialist war und auf seinen Zug in die Londoner Innenstadt wartete. Man schrieb den 2. Dezember 1976, den Tag nach dem Werbeauftritt der Sex Pistols in einer Fernseh-Talkshow für ihre Platte, die die Welt verändern sollte: »›Mann, hast du gestern Abend die Sex Pistols gesehen?‹ Auf dem Weg zur Arbeit, ich stand morgens auf dem Bahnsteig, und alle Pendler lasen die Zeitung, als die Pistols in den Schlagzeilen auftauchten … weil sie in der Glotze FUCK gesagt hatten. Etwas so Schreckliches war offenbar noch nie dagewesen. Man sollte das nicht mit einem bedeutenden historischen Ereignis verwechseln, aber es war ein großartiger Morgen – allein mitzukriegen, wie der Blutdruck der Leute deswegen rauf und runter schnellte.« Ein alter Traum hatte sich erfüllt: Als hätten die Sex Pistols, oder einer ihrer neuen Fans, oder ein Pendler neben ihm oder das Fernsehen selbst glücklicherweise eine 1919 in Berlin von einem gewissen Walter Mehring erdachte Formel wiederentdeckt und diese Formel anschließend buchstabengetreu, wortwörtlich umgesetzt, wenn auch unter anderem Namen:
???Was istDADAyama???
DADAyama ist
vom Bahnhof nur durch ein’n Doppelsalto erreichbar
Hic salto mortale!
DADAyama bringt
das Blut in Wallung
sowie die Volksseele zum Kochen
im Melting pot
– teils Stierkampf-Arena – teils
Nationalversammlung – teils
Rot-Front-Meeting
½ Blech ½ Eisen
versilbert
gleich Mehrwert dividiert durch:
∞ + Null komma Nichts
Durch ein halbes Jahrhundert voneinander getrennt, stellen Costello und Mehring die Frage, die sich durch dieses Buch zieht: Ist es ein Fehler, das Auftreten der Sex Pistols mit einem bedeutenden geschichtlichen Ereignis zu verwechseln … und was ist überhaupt Geschichte? Bedeutet Geschichte nichts weiter als Ereignisse, die wäg- und messbare Dinge zurücklassen – neue Institutionen, neue Landkarten, neue Herrscher, neue Sieger und Verlierer –, oder ist sie auch das Resultat von Momenten, die scheinbar nichts zurücklassen, nichts als das Rätsel von mysteriösen Verbindungen zwischen räumlich und zeitlich weit voneinander getrennten Menschen, die dennoch die gleiche Sprache sprechen? Wie kommt es, dass sowohl Mehring als auch Costello, wenn sie einen markanten Bruch beschreiben, von Bahnsteigen und Blutdruck reden? Dass sie übereinstimmende Worte verwenden, ist ein Zufall, könnte aber auf eine echte Geistesverwandtschaft hindeuten. Die beiden Männer sprechen über das gleiche, suchen nach Wörtern, um einen Bruch zu markieren; das ist womöglich kein Zufall mehr. Wenn die Sprache, die sie sprechen, der Impuls, dem sie Ausdruck verleihen, eine eigene Geschichte haben, könnte uns das nicht eine andere Story erzählen als die, die wir unser Leben lang gehört haben?
DIE FRAGE
ist zu groß, um sofort in Angriff genommen zu werden … man muss sie beiseitelegen, sich selbst überlassen, damit sie zu ihrer eigenen Form findet. Was bleibt, ist Musik; hört man sich heute die Platten der Sex Pistols an, kommt es einem nicht wie ein Fehler vor, ihren Moment mit einem bedeutenden historischen Ereignis zu verwechseln. Hört man sich heute »Anarchy in the U.K.« und »Bodies« an, Elvis Costellos This Year’s Model, »Complete Control« von den Clash, »Boredom« von den Buzzcocks, »Oh Bondage Up Yours!« und Germfree Adolescents der X-Ray Spex, »Wake Up« von Essential Logic und »Fairytale in the Supermarket« der Raincoats, Chairs Missing von Wire und »Never Been in a Riot« von den Mekons, »An Ideal for Living« und Unknown Pleasures der Joy Division, »Once Upon a Time in a Living Room« von den Slits, »At Home He’s a Tourist« und »Return the Gift« der Gang of Four,