Greil Marcus

Lipstick Traces


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Händen, warf Mauerbrocken über die Schulter, schrie sein Unvermögen hinaus, mehr als seine Zuhörer von der Story zu verstehen, und verfluchte seine Unfähigkeit, das zu begreifen, was Bascom Lamar Lunsford 1924 als ihm unbegreiflich akzeptiert hatte.

      Was ist bloß los? Es hört sich an, als wären Hitlers Legionen von den Toten auferstanden und an die Stelle netter Touristen, netter ostdeutscher Bürokraten, netter westdeutscher Geschäftsleute getreten … oder als wären Nazis aus den Häuten der ihre Stelle einnehmenden Kapitalisten und Kommunisten getreten. Johnny Rotten gibt sich einem Sog hin wie Eisenspäne einem Magneten, doch er hält ein, bremst ab, versucht nachzudenken. Während Buñuel diejenigen verdammte, die seinen Film schön oder poetisch fanden, obwohl der doch im Grunde ein Aufruf zum Mord war, hatte man den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Versuch zugebracht, zu beweisen, das Schöne, das Poetische und der Aufruf zum Mord seien ein und dasselbe – und in den letzten Sekunden von »Holidays in the Sun« schien Johnny Rotten dies zu begreifen. Vielleicht wollte er das mit seinem ständigen Schrei »I DON’T UNDERSTAND THIS BIT AT ALL!« gegen Ende des Songs sagen, er schien zu sagen, dass er es nicht verstehen wollte; er schien sagen zu wollen, wenn er in die Leere des Jahrhunderts blickte, sähe er die Leere zurückstarren. Johnny Rotten ging durch die Mauer. »Please don’t be waiting for me«, wartet nicht auf mich, sagte er. Damit endete der Song.

      Sein Ziel war vermutlich, all die Wut, Intelligenz und Kraft seines Seins zu nehmen und der Welt entgegenzuschleudern: damit die Welt Notiz nahm, damit die Welt ihre am meisten gehätschelten und am wenigsten bezweifelten Ansichten in Frage stellte, damit die Welt mit der Münze des Alptraums für ihre Verbrechen zahlte. Und damit die Welt unterging – symbolisch, wenn nicht anders möglich. Und einen Moment lang schaffte er das auch.

      So ließen die Sex Pistols die Welt untergehen, jedenfalls ihre eigene. Als Nächstes hörte man von Auflösung, Mord, Selbstmord … und auch wenn die Fakten in jedem Fall in den zuständigen Zivil- und Strafprozessen festgehalten wurden, wer weiß schon, ob die Ereignisse dort stattfanden, wo die Menschen wirklich leben, oder im symbolischen Reich des Popmilieus? Den Nihilisten macht man für die Verfehlungen seines Doubles, des Negationisten, verantwortlich; meistens mieten sie dieselben Zimmer, manchmal zahlen sie dieselben Rechnungen. Der Leichenbeschauer – ob er nun Fan, Epigone, Kritiker oder bester Freund ist – kann den Unterschied gewöhnlich nicht durch einen Blick auf die Leiche feststellen. Die Sex Pistols waren eine Masche, der Versuch, mit Skandalen Erfolg zu schinden, »Cash aus Chaos«, wie einer von Malcolm McLarens Slogans lautete. Außerdem waren sie ein sorgfältig konstruierter Beweis dafür, dass sämtliche überlieferten hegemonistischen Thesen darüber, wie die Welt angeblich funktionierte, eine so komplette und korrupte Fälschung waren, dass sie unbedingt so komplett zerstört werden mussten, bis jede Erinnerung an sie ausgelöscht war. In dieser Asche wäre alles möglich und erlaubt: die intensivste Liebe, das beiläufigste Verbrechen.

       ES IST EINE

      Alchemie am Werk. Ein uneingestandenes Erbe von Verlangen, Abneigung und Abscheu wurde so lange gekocht und eingeschmolzen, bis es einen einzigen Akt öffentlicher Rede ergab, der bei einigen Menschen überkommene Gewissheiten, eingebildete Wünsche und eingegangene Kompromisse platzen ließ. Es war, wie sich herausstellte, eine verdrehte Geschichte.

      Dieses Buch behandelt eine einzige beziehungsreiche Tatsache: Ende 1976 kam in London eine »Anarchy in the U.K.« betitelte Schallplatte auf den Markt, ein Ereignis, das weltweit die Popmusik veränderte. Der von einer vierköpfigen Band namens Sex Pistols aufgenommene und von deren Sänger Johnny Rotten geschriebene Song destillierte, in kruder poetischer Form, eine Kritik der modernen Gesellschaft, wie sie einmal von einer kleinen in Paris beheimateten Gruppe von Intellektuellen aufgestellt worden war. 1952 als Lettristische Internationale gegründet, wurde die Gruppe 1957 auf einer Konferenz der europäischen Avantgarde als Situationistische Internationale neugegründet und erregte während der französischen Revolte im Mai 1968 am meisten Aufmerksamkeit, als die Prämissen ihrer Kritik, zu groben poetischen Slogans verarbeitet, auf die Mauern von Paris gesprayt wurden; anschließend wurde die Kritik der Geschichte überlassen, und die Gruppe verschwand. Besagte Gruppe berief sich auf die Surrealisten der zwanziger Jahre, auf die Dadaisten, die sich während des Ersten Weltkriegs und kurz danach einen Namen machten, auf den jungen Karl Marx, Saint-Just, diverse mittelalterliche Ketzer sowie die Ritter der Tafelrunde.

      Meiner Überzeugung nach sind solche Verbindungen in erster Linie seltsam. Dass die gnomische, gnostische Kritik, von einer Handvoll Kaffeehaus-Propheten am linken Seineufer erdacht, ein Vierteljahrhundert später erneut auftaucht, um die Charts zu erobern, und anschließend als ganz neuer Forderungskatalog an die Kultur zu Leben erwacht – das ist schon beinahe auf transzendente Weise seltsam.

       VERBINDUNGEN

      zwischen den Sex Pistols, Dada und dem so hochtrabend Situationistische Internationale genannten Gebilde bis hin zu vergessenen Ketzereien wurden nicht von mir entdeckt. In den frühen Tagen des Londoner Punk fand sich kaum ein Artikel zum Thema, in dem das Wort »Dada« fehlte: Punk sei »wie Dada«, sagten alle, doch keiner erklärte, warum, ganz zu schweigen davon, was das heißen sollte. Anspielungen auf Malcolm McLarens angebliche Kontakte zu der geheimnisvollen »S.I.« wurden in der britischen Pop-Presse als Insiderwissen gehandelt, aber dieses Wissen brachte einen anscheinend nicht weiter.

      Dennoch hörte sich das alles interessant an, auch wenn »Dada« für mich allenfalls ein Wort war, das nur vage an eine verflossene Kunstrichtung erinnerte (Paris in den Goldenen Zwanzigern? etwas in der Art); auch wenn ich von der Situationistischen Internationale noch nie gehört hatte. Ich stöberte also herum, und je mehr ich herausfand, desto weniger wusste ich. Alle möglichen Leute hatten diese Verbindungen hergestellt, aber keiner hatte etwas daraus gemacht … und ziemlich bald führte mich mein Versuch, etwas daraus zu machen, vom Katalog der Universitätsbibliothek in Berkeley zum Dada-Gründungsort in Zürich, von Gil J. Wolmans Bohèmewohnung in Paris zu Michèle Bernsteins Pfarrhaus in Südengland, von Alexander Trocchis Junkieabsteige in London zurück zu Büchern, die dreißig Jahre lang in Bibliotheksregalen verstaubt waren, bevor ich sie auslieh. Er führte mich zu Mikrofilmgeräten, auf denen sich die unzweideutigen öffentlichen Äußerungen aus der Zeit meiner Kindheit abspulten; es ist eigenartig, alte Zeitungen zu durchforsten, auf der Suche nach dem bestätigenden Datum für das Fragment einer privaten fixen Idee, die man in eine öffentliche Äußerung zu verwandeln hofft, sich von Anzeigen ablenken zu lassen, die nach all der Zeit so plump und durchsichtig wirken, zu fühlen, ja, die Vergangenheit ist ein anderes Land, eine nette Gegend für einen Besuch, aber man möchte dort nicht leben, um auf die ersten Meldungen über den Sturz der guatemaltekischen Regierung Arbenz zu stoßen, die toten Nachrichten zu lesen, als wären sie eine miese Parodie von CIA-Desinformationen, und anschließend in der aktuellen Tageszeitung die Konsequenzen zu verfolgen: Gesichter, schreibt der Reporter 1984, drei Jahrzehnte nachdem Arbenz in die Mikrofilmarchive einging, die heute von dubiosen Bürgern mittels Bajonetten entfernt und dann an Bäume gehängt werden, bis sie zu Masken getrocknet sind. Die Zeit schreitet fort.

      Es war keine heroische Suche; einige der Bücher verdienten es, auch die nächsten dreißig Jahre übersehen zu werden. In erster Linie war es ein Spiel, oder auch ein Jucken, das gekratzt werden wollte: das Aufspüren einer echten Story oder das Verfolgen einer falschen Fährte um des Vergnügens willen, das nur eine falsche Fährte bereitet. Die Recherche bewirkt, dass die Zeit voranschreitet, rückwärts läuft oder stehenbleibt. Zwei Jahre und fünfzehntausend Kilometer später lagen die ersten Nummern von Potlatch vor mir, einem Mitteilungsblatt der Lettristischen Internationale, das Mitte der fünfziger Jahre in Paris verteilt wurde; auf seinen hektographierten Seiten firmierte »Kritik der Architektur« als Schlüssel zur Kritik des Lebens. Hier wurde der große Architekt Le Corbusier als »M. Sing-Sing« und »Erbauer von Slums« verdammt. Seine Strahlende Stadt wurde als autoritäres Experiment sozialen Maschinenbaus verworfen, als Ansammlung »vertikaler Gettos« und turmhoher »Leichenschauhäuser«; die wahre Funktion von Le Corbusiers gefeierten »Wohnmaschinen«, so las man in Potlatch, sei es, Maschinen zu produzieren, die in ihnen wohnten. »Das Dekor bestimmt die Gesten«, schrieb die L.I.; »wir werden leidenschaftliche