nur durch eine sachliche Ehrenrettung, wie sie am Ende des Stückes erfolgt, aufgehoben werden kann. Minnas Überredungskunst muss daran scheitern. Doch die liebenswürdige Sächsin erkennt Tellheims Befangenheit in seiner Tugendgesinnung als Schwäche und wendet gegen diesen Mangel an innerer Freiheit eine lustspielhafte List. Da Tellheim nicht gegen seine Grundsätze zu bewegen ist, dreht Minna den Spieß herum. Sie selbst gibt den Verlobungsring mit der bitteren Bemerkung zurück, dass sie um Tellheims willen enterbt worden sei. War es erst Ehrensache für den unglücklichen Tellheim, die glückliche Minna zu meiden, so ist es nun gleichfalls Ehrensache, sich mit der vermeintlich unglücklichen zu verbinden: »[…] ihr Unglück hebt mich empor, ich sehe wieder frei um mich, und fühle mich willig und stark, alles für sie zu unternehmen –«
Freilich, die List wird entdeckt, und nichts wäre durch Minnas helle Vernunft und Heiterkeit gewonnen, käme am Ende nicht als deus ex machina17 das Handschreiben des Königs, das Tellheims Ehre wiederherstellt.
Problematischer ist die Tragödie der Emilia Galotti (1772). – Ursprünglich war es der tyrannische Dezemvir Appius Claudius, der sich (449 v. Chr.) in Virginia verliebte und seine Macht missbrauchte, die sittsame Plebejerin ihrem Verlobten Icilius zu entreißen. Um Virginias Freiheit und Tugend zu retten, tötete der Vater Virginius seine Tochter und löste damit den Sturz der Regierung aus.
Lessing, der das Geschehen auf einen absolutistischen Kleinstaat im Italien seiner Zeit überträgt, lässt den Umsturz beiseite und richtet den Blick auf den moralisch-seelischen Zwiespalt des bürgerlichen Vaters und seiner Tochter.
Emilia fürchtet die Nachstellungen des Prinzen von Guastalla, der ihren Bräutigam Graf Appiani ermorden ließ, nicht zuletzt aus der Sorge, verführbar zu sein. Ihr Wort »Ich stehe für nichts« hat man oft getadelt und oft zu rechtfertigen versucht. – Das Rührende der Tragödie liegt in des Vaters Odoardo Bereitschaft, seiner Tochter die Bewährungsprobe abzunehmen. Odoardo wagt nicht mehr, Emilias Schicksal gelassen dem Lauf der »besten aller möglichen Welten« anheimzugeben; er wagt noch nicht den Fürstenmord, der nach 1789 in seinem Fall verübt worden wäre; so bleibt ihm nur der übereilt beschlossene Mord an seiner Tochter, das heißt eine gegen ihn selbst gekehrte Ohnmachtstat, auf die, wie Kommerell sagt, das Zwielicht stoischen Übermenschentums fällt. Heute legt man Emilia Galotti gern als »eines der ersten politischen Dramen der neueren deutschen Literatur« aus und sieht in dem Stück Lessings eindeutige »Wendung gegen feudalistische Machtanmaßung und Willkür«.
Als Lessings eigentliches Vermächtnis gilt das in Blankversen18 geschriebene »dramatische Gedicht« Nathan der Weise (1779).
Lessing hatte als Bibliothekar in Wolfenbüttel unter dem Titel Fragmente eines Ungenannten (1774 ff.) religionskritische Schriften aus dem Nachlass des Deisten (vgl. Anm. 5) Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) veröffentlicht und sich damit die heftigste Kritik strenggläubiger Theologen, vorab des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze (1717–1786), zugezogen. Der öffentlich ausgetragene Streit mit Goeze, der für Lessing kein gleichrangiger Gegner war, hatte so viel Sprengkraft, dass Lessings Dienstherr, Herzog Karl von Braunschweig, unter dem Druck der Kirche seinem Bibliothekar in dieser Sache das Wort verbot. Lessing aber, dem es mehr um eine triftige Kritik der Orthodoxie ging als um den Spaß, Pastor Goeze zu foppen, brachte das Problem im Nathan auf die Bühne.
Im Jerusalem der Kreuzzüge stoßen Vertreter der drei großen Offenbarungsreligionen, Anhänger des jüdischen, des christlichen und des mohammedanischen Glaubens, zusammen. Den Kern des sich daraus entfaltenden Ideendramas bildet eine aus Boccaccios Decamerone (1349/53) stammende Beispielgeschichte im dritten Akt. Der in die Verteidigung seines Glaubens gedrängte Nathan überzeugt mit dieser klug abgewandelten Parabel19 seine Gegner, dass der Wert geoffenbarter Religionen sich einzig in der sittlichen Bewährung ihrer Anhänger beweisen könne. Die aufgeklärte Vernunft gebietet:
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Zum Zeichen, dass wahre Religion auch wahre Humanität bedeutet, stellt sich am Schluss heraus, dass die anfangs verfeindeten Anhänger der verschiedenen Glaubensrichtungen untereinander verwandt sind.
Das Schauspiel bleibt mit seiner märchenhaften Fabel und mit dem idealisierten Helden hinter Lessings eigenen Forderungen nach glaubwürdiger Handlung und wirklichkeitsnahen gemischten Charakteren zurück. Lessing wusste das und verteidigte das Wunderbare seines im Nathan gestalteten Lebensideals mit der Bemerkung: »[…] die Welt, wie ich sie mir denke, ist eine ebenso natürliche Welt, und es mag an der Vorsehung wohl nicht allein liegen, daß sie nicht ebenso wirklich ist.« –Solange Humanität und Toleranz pädagogische Ideale sind, wird Lessings Nathan in den Leselisten der Schulen ganz oben stehen. Im Dritten Reich war das Stück verboten.
d) Roman und Verserzählung
Der aus dem höfischen Versepos entstandene Roman, der sich über Volksbuch und Ritterroman im Barock zum heroisch-galanten, zum Schäfer- und zum Schelmenroman entwickelt hatte (vgl. Kap. 3d), wurde im 18. Jahrhundert aufklärerisch, empfindsam und moralisch. Diese neuen Züge konnten sich zunächst durchaus mit bewährten alten Motiven verbinden.
Der schiffbrüchige Schelmuffsky, der hinter dem Garten des Bürgermeisters von Amsterdam »anländete«, nahm nur einen Topf Sauerkraut in Besitz; aber schon Simplicissimus war auf einer unbewohnten Südseeinsel gestrandet, die so schön war, dass er beschloss, für immer dort zu bleiben. Jetzt hatte Daniel Defoe (1660?–1731) im Robinson Crusoe (1719, deutsch 1720) das abenteuerliche Scheitern zu einer höchst lehrreichen Erfahrung gestaltet und damit unzählige Nachahmer angeregt. Beispielhaft für den religiös-aufklärerischen Geist der Zeit gelang JOHANN GOTTFRIED SCHNABELS (1692–1752) Robinsonade Wunderliche Fata einiger See-Fahrer, absonderlich Alberti Julii, eines geborenen Sachsens, auf der Insel Felsenburg (1731–43):
Albert Julius strandet mit Kapitän Lemelie, van Leuven und dessen Braut Concordia auf einer Südseeinsel. Lemelie hat es auf Concordia abgesehen. Er ermordet van Leuven, läuft dann aber in Alberts Messer. Als Albert über seine heimliche Liebe zu Concordia zu sterben droht, bricht Concordia dem toten van Leuven die Treue und heiratet Albert. Mit seinen Kindern, anderen Schiffbrüchigen und wenigen geladenen Einwanderern gründet Albert einen idyllischen patriarchalischen Inselstaat, der, ohne Geld und Standesunterschiede, das tugendfromme Gegenbild zum absolutistischen Staat wird. Durch die Verbindung des Robinson-Motivs mit einer pietistischen Staatsutopie20 rückt die einsame Insel vom Verbannungsort Gescheiterter zur Zuflucht Rechtschaffener aus einer verdorbenen Welt auf. So kündigt sich hier bereits Rousseaus Kulturpessimismus an.
Die meisten Leser der Romane kamen aus der Leserschaft der pietistischen Erbauungsliteratur und der nach englischen Vorbildern entstandenen »Moralischen Wochenschriften«21. Diese Leser, die wie der englische Philosoph Shaftesbury (1671–1713) das Schöne und das Gute mit ein und demselben Organ erfassten, durchlitten mit schwärmerischer Lust die von den schönen Seelen in der Dichtung geübte tugendvolle Entsagung erotischer Erfüllung. Darum verflochten die Erzähler ihre groben Motive aus den barocken Abenteuerromanen immer enger mit aufklärerischer Tugendgesinnung und empfindsamer Innerlichkeit. GELLERT, der auch in seinen Versfabeln kunstfertig für Moral eintrat (vgl. Kap. 4b), lieferte mit dem Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1747–48) einen »Musterfall moralischer Planwirtschaft« (Martin Greiner):
Die wohlerzogene Heldin, die als sechzehnjährige Waise den schwedischen Oberst Graf G. heiratet, wird wegen ihrer Schönheit vom Prinzen S. verfolgt. Der Prinz schickt den Grafen im Nordischen Krieg (1700–1721) an die Front und verurteilt ihn nach verlorener Schlacht zum Tode. In einem Abschiedsbrief mahnt der Graf seine junge Frau zur Flucht nach Holland mit Freund R. Die Gräfin, die voll mütterlicher Fürsorge ihres Gatten frühere Geliebte mitnimmt, heiratet dort nach einigen Jahren Freund R. – Da kommt der totgeglaubte Graf aus sibirischer Gefangenschaft zurück, und die Gräfin wird wieder Gattin ihres ersten Gemahls. Nach dessen Tod schlägt sie die Hand des inzwischen geläuterten Prinzen S. aus und kehrt zu Freund R. zurück, der vormals so edelmütig verzichtet hatte. – Intrigen, Geschwisterehe und Giftmord in der Nebenhandlung begleiten das tugend- und vernunftgesteuerte Leben der schwedischen