Klaus Henning

Die Kunst der kleinen Lösung


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Aushalten ist hier nicht einfach Geduld gemeint. Es geht darum, die Wahrnehmung über die Komplexität auszuhalten. Immer wieder. Und es sind die kleinen Dinge, die beachtet werden müssen. Und in den vielen kleinen Dingen und der oft mühsamen Wahrnehmung der Komplexität der Dinge findet sich oft das Entscheidende: die kleine Lösung.

      Die kleine Lösung ist aber nicht die einfache Lösung. Die »Man muss doch nur …«-Haltung ist gefährlich. Vielmehr muss ich in komplexen Systemen diagnostizieren und aushalten lernen – die ganze Komplexität an mich heranlassen –, zunächst ohne einzugreifen. Und dann gilt es, alle möglichen Ansatzpunkte zu prüfen. Und dann die kleinste Lösung mit dem größten Effekt zu wählen. Manchmal aber ereignet sich die »kleine Lösung« sogar wie von selbst.

      Immer geht es um den »großen Wurf« – warum eigentlich?

      Das Chaos lauert überall. Wie bahne ich mir einen Weg durch das Chaos? – das ist zu meinem Leitmotiv geworden. Zu verstehen, wie sich eine statische Situation in eine dynamische Phase und dann in eine turbulente und schließlich in eine chaotische Phase wandelt, habe ich mir zur Aufgabe gemacht. Und diesem Prozess etwas entgegenzusetzen. Die vier genannten Phasen sind Merkmale einer anwachsenden Dynaxity.

      Die vier Phasen von Dynaxity – statisch, dynamisch, turbulent, chaotisch.

      Dynaxity ist ein Kunstwort, zusammengesetzt aus Dynamik und Komplexität (»complexity«). Das können Sie bei Wikipedia nachlesen. Oder bei Heijo Rieckmann, der das Wort erfunden hat. Und die Dynaxity sollte man in allen Systemen, allen Organisationen, allen Unternehmungen im Blick haben. Wird der Entwicklung der Dynaxity keine besondere Beachtung geschenkt, steht eine Menge auf dem Spiel, bis zur Gefahr des Scheiterns.

      Wir haben uns daran gewöhnt, immer den »großen Wurf« zu fordern. Vor allem natürlich in der Politik. Fast jeden Tag taucht bei großen Fragen wie Klimawandel, demografischer Wandel oder Bildung der Wunsch nach dem »großen Wurf« auf. Viele scheinen sich mit diesem Wunsch nach vermeintlicher Größe besonders hervortun zu wollen. Ständig werden »neue Strukturen« gefordert, auch der Ruf nach »neuen Besen« erklingt erstaunlich schnell. Als ob damit alles gut würde. Dabei gibt es genügend Beispiele, dass gerade darin nicht die richtige Lösung liegt. Wir hoffen oft auf den weißen Ritter, auf den Mann mit dem Geldkoffer, auf denjenigen, der mit einem Schwert den Weg bahnt. Die Hoffnung, dass mit einem Mal sämtliche Probleme gelöst sind, ist verständlich. Sie ist allerdings trügerisch. Die Lösung ist oft viel kleiner. Sie löst nie alles, aber oft vieles. Sie ist oft nicht einfach zu finden, und sie ist oft unscheinbar. Zum Beispiel ein Stück Draht. Ein Paar Handschuhe. Die Pause zur richtigen Zeit. Eben die kleine Lösung.

      Die Trümmer wieder wohnlich machen

      Die Welt lag in Trümmern, als ich geboren wurde.

      Es waren die letzten Kriegswochen. Die Industriestadt Göppingen, wenige Kilometer vor Stuttgart, war das Ziel zahlreicher Fliegerangriffe. Wie in vielen deutschen Städten lebten die Menschen in ständiger Angst und verbrachten die Nächte in Bunkern. Meine Mutter erzählte mir immer wieder folgende Geschichte: Es war Fliegeralarm. Sie packte mich, ging mit mir auf dem Arm in den Luftschutzkeller. Wir blieben, bis die Bomber abgezogen waren. Und als wir wieder hochkamen, an diesem Morgen, war alles zerstört. Nur unser Haus stand noch.

      Chaos war von Anfang an da.

      Das äußere Chaos eines zerstörten Landes. Kaputt geschossen, kaputt gebombt. Vom großen Deutschland waren nur Trümmer geblieben.

      Und bei den meisten Deutschen gab es ein großes inneres Chaos und eine große Verunsicherung. Und nach der Befreiung der Konzentrationslager wurde erst das Ausmaß der deutschen Verbrechen bewusst. Ein Land und seine Menschen hatten sich in ein komplettes Chaos hineinmanövriert. Was zunächst blieb, war ein Leben in Ruinen. So startete meine Generation mit einer Hypothek im Gepäck ins Leben.

      Es ist ein Wort aus der Bibel, das mich – halb als Auftrag, halb als Erklärung – durch das Leben begleitet: »Und die von dir kommen, werden die uralten Trümmerstätten aufbauen; die Grundmauern vergangener Generationen wirst du wieder aufrichten.« (Jesaja 58, 12).

      Die Trümmer wieder wohnlich machen. Die »Grundmauern« wieder aufrichten.

      Mitten im Chaos eine Lösung zu finden. Aus vielen kleinen Lösungen entsteht dann manchmal etwas Großes.

      Trümmer wieder wohnlich machen

      Ich bin und war sicher nicht der Einzige, der die Trümmer wieder »wohnlich« machen wollte. Das war ein unausgesprochener Auftrag an die Generation unserer Eltern – und auch an unsere Generation, die Generation der Kriegskinder. Und es ist sicher auch eine Erklärung, warum viele von uns so viel wagten, so viel ihrer Kraft investierten, so viel auf die Beine stellten. Man denke nur an die vielen Unternehmensgründer der Nachkriegszeit.

      Ich bin Ingenieur geworden. Das liegt nahe, eignet sich der Beruf doch vortrefflich, um Dinge »wohnlich« zu machen. Gerade dieser Beruf beschäftigt sich mit dem Aufbau von Systemen. Einerseits soll etwas noch besser, noch schneller, noch effektiver funktionieren. Andererseits denkt ein guter Ingenieur nicht nur an das Funktionieren eines Systems. Sondern auch daran wie ich etwas gestalten muss, damit im Falle der Störung und Krise nichts ungeordnet zusammenbricht. Das drohende Chaos meistern ist ein Aspekt, der mich schon immer fasziniert hat.

      Ready for Breakdown

      Ein Ingenieur denkt schon beim Aufbau eines Systems an dessen Zusammenbruch. Ein Beispiel sind Brücken oder Hochhäuser. Viele kennen vielleicht den Film aus den 1950er Jahren, der eine im Sturm hin und her schwingende Hängebrücke in den USA zeigt, die nach einiger Zeit schließlich zerbirst. Auch ein Wolkenkratzer wird so konstruiert, dass er im Falle einer Zerstörung »geordnet« zusammenbricht. Und auch ein Kraftwerk sollte »geordnet« zusammenbrechen und nicht völlig unkontrolliert, wenn es von einem Erdbeben oder einer Wasserwelle erfasst wird.

      Den geordneten Zusammenbruch von Anfang an mitdenken.

      Der Grund dafür ist einfach: Schadensbegrenzung. Um wie viel gravierender wäre die Zerstörung, wenn das Haus nicht ineinanderfällt, sondern seitlich umkippt – und viele andere Häuser zerstören würde? Deshalb ist der Zusammenbruch quasi beim Entwurf schon mitgedacht. Das hat nichts mit Pessimismus zu tun oder mit einem unterentwickelten Glauben an die eigene Konstruktion. Winograd und Flores haben diesen Gedanken in ihrem Buch Understanding Computer and Cognition dargelegt. Das hat mich in meinem Denken stark beeinflusst. Wenn etwas zusammenkracht, soll es möglichst wenig Schaden anrichten.

      Wie gesagt: Es geht nie darum, das Chaos zu beherrschen, es geht darum, es zu meistern. Oft genug werden die Mängel der Systeme erst offenkundig, wenn das System zusammenbricht.

      Deshalb muss schon bei der Entwicklung von komplexen Systemen gelten: Ready for Breakdown. Denn »unkaputtbar« gibt es nicht. Unser Glaube an die Technik bietet eine trügerische Sicherheit. Doch vor allem wir Ingenieure, Informatiker und Naturwissenschaftler sind leider viel zu oft zu technikverliebt, als dass wir unserer geliebten Technik Böses zutrauen.

      »Unkaputtbar« gibt es nicht.

      Die computergestützte Technik gibt einem noch mehr das Gefühl, schnelle und genaue Lösungen auch für die kompliziertesten Probleme zu erhalten.

      Nicht wenige Studenten und vor allem auch Professoren sind der festen Meinung, wir seien heute in einem Stadium angelangt, in dem alle Probleme technisch lösbar sind. Das ist ein Irrtum. Technische Machbarkeit muss immer auch die jeweiligen Fähigkeiten der beteiligten Menschen berücksichtigen.

      Aber zurück zu meinen Grunderfahrungen. Mein Vater arbeitete nach dem Krieg als Ingenieur bei Siemens. Das Land berappelte sich wieder. Man konstruierte, man baute, man ermöglichte eine Zukunft. Mein Weg schien vorgezeichnet, und doch war er es nicht. Ich habe Elektrotechnik studiert, im Wesentlichen in München. Parallel begann ich dann, auch politische Wissenschaft zu studieren. Das war eine Entscheidung, die mein weiteres Leben stark beeinflusste. Wenn ich nach dem Grund gefragt wurde, habe ich immer gesagt: »Auf zwei Beinen steht es sich besser.«

      Ich war und bin der Überzeugung, dass die Welt nie nur aus einem Blickwinkel betrachtet werden kann. Sie