Klaus Henning

Die Kunst der kleinen Lösung


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      »Der Starfighter war der spektakulärste Kampfjet der Sechziger: Kein anderes Flugzeug war so schnell und stieg so hoch wie die F-104«, schrieb der Spiegel im Jahr 2009 zum 50. Jubiläum des Starfighters. Es gibt Zahlen, die sind recht imponierend: Er flog damals jedem anderen Kampfflugzeug davon, und zwar mit 2,2-facher Schallgeschwindigkeit.

      Es gibt aber auch andere Zahlen. Denn der Starfighter war nicht nur eine Erfolgsgeschichte. Ganz und gar nicht. Die Starfighter-Story war sogar eine jener betrüblichen Episoden der Bundesrepublik.

      Als die neu gegründete Bundeswehr in den späten 1950er Jahren auf der Suche nach einem Abfangjäger und Allwetter-Jagdbomber war, entschied man sich für die amerikanische Lockheed F-104, den sogenannten »Starfighter«. Warum man ihn wählte, warum nicht ein anderes Flugzeug, das sollen die Geschichtsbücher klären. Ich will gar nicht in die Diskussion einsteigen. Es gab Probleme, man bekam sie nie richtig in den Griff.

      Die Probleme mit dem Starfighter bekam man nie richtig in den Griff.

      Schlagen Sie ein Geschichtsbuch auf, lesen Sie im Internet, googeln Sie »Starfighter«, Sie finden wirklich erschreckende Zahlen: 292 Maschinen stürzten ab, 116 Piloten verloren ihr Leben. Über diesen Abfangjäger, den die Bundeswehr ab Ende der 1950er einsetzte, lesen Sie in der Tat nicht nur Gutes. Vor allem aber war die Debatte um den Starfighter eine der großen Krisen der jungen Republik. Bis 2004 war er in der NATO im Einsatz.

      Auch wenn es nur eine Mutter ist

      Für mich persönlich hat das Kampfflugzeug trotz allem eine wichtige Bedeutung. Oder besser gesagt: Mich hat die Arbeit innerhalb der Bundeswehr für den Starfighter einen wichtigen Punkt gelehrt: Es kommt auf die Logistik an – und zwar immer.

      Das war eine – wenn nicht die prägende – Erkenntnis, als ich in einem Jagdbombergeschwader stationiert war und mich als angehender Offizier um den Nachschub bei den Kampfflugzeugen kümmern musste beziehungsweise um die Flugzeuge, die wegen fehlender Ersatzteile nicht starten konnten. Das Detail muss stimmen, wenn es für das Ganze wichtig ist.

      Und das stimmt nur, wenn auch die Logistik stimmt. Und wenn es dabei nur um eine Mutter geht, die zum Beispiel 3000 Grad aushalten muss. Denn wenn die fehlt, steht ein kompletter Starfighter im Wert von zwölf Millionen Euro nach heutiger Kaufkraft am Boden, kann nicht abheben – bloß weil ein winziges Detail fehlt.

      Das relevante Detail findet man oft in der Logistik.

      Wie gesagt: Viel beim Militär hat mit Logistik zu tun. Das zieht sich durch die gesamte Militärhistorie. Wenn es nicht mehr gelingt, den Nachschub zu organisieren, Material, Werkzeuge, Treibstoff, sieht es schlecht für die Truppe aus. Wenn Nachschub nicht garantiert ist, dann sind die Schlachten verloren. Meist sind es gar nicht die militärstrategischen Entscheidungen, die über Sieg oder Niederlage entscheiden, oft sind logistische Überlegungen entscheidend.

      Das ist etwas, was mich schon immer fasziniert hat und was mich von da an immer faszinieren sollte. Ich war hochinteressiert, als ich lernte, welche logistischen Pläne es für den Fall eines (atomaren) Angriffs auf die Bundesrepublik gab. Dass man Brücken sprengen würde und welche und dass es im ganzen Land verteilt geheime Nachschublager gab. Außerdem gab es konkrete Pläne, wie man die deutschen Autobahnen nutzen wollte, wie man zivile Lkw und Supermärkte im Kriegsfall einsetzt und so weiter. Alles war nur eine Frage des Nachschubs.

      Zwölf verschiedene Muttern von zwölf Zulieferern

      Ich war also angehender Offizier bei den Starfightern und für kritische Fälle des Nachschubs verantwortlich. Und da hatten wir ein Problem: Es gab Muttern im Nachbrenner der Turbinen, die einer Betriebstemperatur von 3000 Grad nicht standhielten und mit dem Gewinde verschmolzen. Natürlich Zollgewinde und nicht metrisches Gewinde. Ein Problem, das nicht unbedingt zu Abstürzen geführt hatte. Aber wenn man beim Check vor dem Abflug verschmolzenes Material findet, kann die Maschine nicht starten, gibt es keine Startfreigabe. Ohne eine Mutter, die 3000 Grad aushält, kein Start.

      Die Mutter musste 3000 Grad aushalten und ein Zollgewinde haben.

      Die Herausforderung lag in folgender Tatsache: Es gab zwölf verschiedene Muttern von zwölf verschiedenen Zulieferern, darunter auch vier amerikanische. Und keiner wusste, welches die anfälligen Muttern sind, welche Muttern die Hitze aushalten und welche nicht. Es ging nur um eine kleine Mutter, ein kleines Detail. Daraus ergab sich ein großes Problem für den Flieger.

      Als Verantwortlicher für Logistik machte ich mich also auf die Suche nach den richtigen Muttern. Rund 10 000 Ersatzteile waren für den Starfighter gelistet, allerdings nicht im Computer, so etwas wie ein IT-System gab es nicht.

      Damals in den frühen 1960er Jahren waren alle Daten auf Karteikarten geschrieben. Jedes einzelne Ersatzteil hatte eine Karte. Ich sehe den Raum noch vor mir, ein großer Raum, etwa 300 Quadratmeter groß, vollgestellt mit Kisten und Karteikarten, auf denen sämtliche uns verfügbaren Ersatzteile des Starfighters abgeheftet waren. Heute würde dafür vermutlich ein USB-Stick reichen. Und dann habe ich gesucht. Unter Druck. Nach einer einzigen Mutter.

      Sie musste nur die Temperatur aushalten

      Ich besuchte geheime Nachschublager, verglich aus den Schadensberichten, welche Mutter bei welchem Einsatz verschmolz und welche nicht. Ich prüfte, wo und warum welche Mutter verschraubt war. Ich meldete mich bei den Herstellern, fragte nach Eigenschaften und Herstellungsverfahren. So unbedeutend das Ding an sich war, nach dem ich suchte, so fasziniert war ich von dem Gedanken, eine Lösung für das »Mutter-Problem« zu finden. Nach einigen Tagen war ich so weit: Vier Muttern hielten der Temperatur stand, acht Muttern nicht. Also wurde gesucht, wo die acht Mutter-Typen eingesetzt wurden – und man tauschte sie aus.

      Es ging nicht darum, aus welchem Material die Muttern beschaffen sind, auch nicht um deren Form, auch nicht um das Herkunftsland. Der Preis spielte auch keine Rolle. Nein, die Muttern mussten einzig und allein die Schrauben fest- und die Temperatur von 3000 Grad aushalten. Das war ihr Zweck. Es ist zweitrangig, wie sie gestaltet sind, welches Material für sie verwendet wird. Es ist wichtig, dass sie das Ganze möglich machen.

      Die Wirkung des Details auf das Gesamtsystem – darauf kommt es an.

      Damals begann ich ein Gespür für das Detail zu entwickeln. Und für den Zusammenhang zwischen einem relevanten Detail und dem Ganzen. Ich weiß, es ist verführerisch, das Detail optimieren zu wollen. Das habe ich auch später oft genug erlebt. Techniker können da eine ganz besondere Leidenschaft entwickeln. Was ich aber meine, ist das Gespür für das Detail im Zusammenspiel mit dem Ganzen. Bei der Suche nach der richtigen Mutter habe ich genau das verstanden.

      Doch nicht nur auf der sachlichen Ebene hat mich die Zeit bei der Bundeswehr geprägt – sondern auch auf der emotionalen. Denn auch im Umgang mit Menschen darf man das Detail nicht aus den Augen verlieren. Auch da kommt es auf die Wirkung des Details auf den Gesamtzusammenhang an. Man läuft schnell Gefahr, das Ganze aufs Spiel zu setzen.

      Ist schimmeliges Brot ein Problem?

      Als angehender Offizier unterstanden mir Gefreite. Ich achtete auf Sauberkeit. Regelmäßig inspizierte ich ihre Stuben und die Spinde. Ja, ich war da sehr ungemütlich. Ich war noch jung, mir fehlte es an Reife, angemessen mit Fehlverhalten von Menschen umzugehen. Im Spind eines Soldaten machte ich eine wenig angenehme Entdeckung: Er hatte völlig verschimmeltes Brot in seinem Spind. Es lag dort und schimmelte vor sich hin im Kreise anderer Essensreste. Dem Soldaten war es offenbar nicht aufgefallen, es hatte ihn wohl nicht weiter gekümmert, obwohl am Freitag genug Zeit fürs Stubenputzen eingeplant war. Es gab aber einen, den das sehr kümmerte: mich.

      Bei der Zimmerkontrolle. Ich sah den Schimmel sofort.

      Ich tobte, machte den Soldaten zur Schnecke. Was er sich erlaube, was das mit Sauberkeit zu tun habe – und strich ihm die Heimfahrt am Wochenende. Statt in seine Heimatstadt zu fahren, seine Frau und Kinder zu sehen, sollte er die Stube noch mal reinigen und vor allem seinen Spind. Er war deutlich älter als ich, und ich hielt mein Verhalten für eine Demonstration der Stärke in meiner Stellung als angehender Offizier. Vielleicht fühlte ich mich tatsächlich stark. In Wahrheit gefährdete ich unseren Auftrag.

      Heute weiß ich,