George Monbiot

Verwildert


Скачать книгу

ist er!«

      Bei der Entfernung hätte es sich für mein untrainiertes Auge um einen Bussard oder eine Mantelmöwe handeln können. Als der Vogel aber den Flussarm hinaufflatterte, mit einem seltsam linkischen Flügelschlag, bemerkte ich zwei Dinge. Erstens, dass etwas unter ihm baumelte und schwebte. Zweitens, dass er für eine Möwe zu dunkel und für einen Bussard zu weiß war. Ich brauchte eine Weile.

      »Jesus Maria auf dem Fahrrad!«

      »Habe ich doch gesagt, oder.«

      »Ich kann gar nicht glauben, was ich da sehe.«

      »Er ist seit drei Tagen hier. Wenn er sich ansiedelt, dann ist das das erste Mal seit dem siebzehnten Jahrhundert.«

      Der Vogel flog auf uns zu. Etwa zwanzig Meter, bevor er den Pfad erreichte, wendete er, zeigte sein Profil und flog langsam vorbei. Er trug einen großen Plattfisch. Nach etwa hundert Metern landete er auf einem Zaunpfahl und begann an dem Fisch zu rupfen.

      Indirekt war dafür Ritchie verantwortlich. Er hatte überlegt, dass die Fischadler, die seit 1954 wieder in Schottland brüteten, auf ihrem Weg nach und von Afrika die Küste entlangwandern würden und in den Mündungsgebieten und Seen pausieren und fressen würden – und war zu dem Schluss gekommen, dass die Jungvögel nach Revieren suchen würden. Er hatte die höchste Fichte auf seiner Seite des Tals ausfindig gemacht, sich aufgeseilt, die Spitze abgeschnitten und 15 Meter über dem Boden eine hölzerne Plattform gebaut. Er hatte sie mit Zweigen bedeckt und mit weißer Farbe bespritzt, damit es wie Vogelkot aussah: offenkundig die beste Methode, Fischadler zum Bleiben zu bewegen.

      Auf der anderen Seite des Tals hatte ein eifriger Naturschützer diese Maßnahmen beobachtet. Es dauerte nicht lange, und er hatte den örtlichen Naturschutzbund davon überzeugt, eine eigene Plattform zu bauen. Also wurde ein Telegrafenmast neben das Eisenbahngleis gepflanzt und eine Sperrholzplatte auf ihre Spitze genagelt.

      »Eigentlich ein Selbstläufer«, meinte Ritchie. »Der Vogel konnte zwischen einem kleinen, tief im Wald gelegenen hübschen Anwesen oben auf einem Baum mit Blick über den gesamten Flussarm wählen und einem exponierten Pfosten direkt an der Eisenbahnlinie. Und was tut der Blödmann? Er hat sich natürlich für das Angebot des Naturschutzbunds entschieden. Nicht, dass mich das ärgern würde oder so was.«

      Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Es fiel mir noch immer schwer zu glauben, was ich gerade gesehen hatte. Mein Herz pochte. Ein wildes Verlangen überkam mich von der Art, die mich jedes Mal anfiel, wenn ich aus dem immer wiederkehrenden vorpubertären Traum aufwachte, in dem ich, meine Füße ein paar Zentimeter über dem Teppich, die Treppen hinabschwebte. In den letzten Jahren hatte ich ihn nur noch einmal geträumt; tatsächlich nur ein paar Monate, bevor ich den Fischadler zu Gesicht bekommen hatte.

      Wie etwa alle vierzehn Tage hatte sich bei mir wieder einmal eine alarmierende Abwesenheit jenes Überlebensinstinkts gezeigt, mit dem andere Leute gesegnet sind, als ich am Strand der Ortschaft Pwlldiwaelod mein Kajak bei drei Meter hohem Wellengang ins Wasser stieß. Das Boot, das auf seiner Bahn durch die Wellen zurückgeschleudert wurde, überschlug sich über mir und ich knallte mit dem Kopf auf den Kies. Ein Glück, dass ich nicht ohnmächtig geworden war. Es erübrigt sich zu sagen, dass ich die Sache wiederholte. Aber beim zweiten Mal schaffte ich es durch die Wellen und paddelte auf das Meer hinaus. Nachdem ich ein paar Fische gefangen hatte, wollte ich wieder an Land zurückkehren. Die Flut stand höher und hässliche, chaotische Sturzseen donnerten gegen die Ufermauer. Etwa zweihundert Meter vor der Küste kam ich ins Grübeln. Selbst von meiner Position aus konnte ich sehen, dass die Wellen braun waren von dem groben Kies, den sie aufwirbelten. Ich hörte ihn gegen die Mauer krachen und prasseln. Ein kalter Angstschauder kroch über meine Haut. Ich suchte das Ufer nach einer besseren Landestelle ab, konnte aber nichts entdecken.

      Hinter mir hörte ich ein monströses Zischen: eine Riesenwelle, die über meinen Kopf rollen würde. Ich duckte mich und presste das Paddel auf das Wasser. Nichts. Ich drehte mich um. Die Wogen rollten gleichmäßig heran: hoch, mit weißen Kämmen, aber in dieser Entfernung zum Ufer noch nicht bedrohlich. Verdutzt wendete ich das Boot in alle Richtungen und suchte nach einer Erklärung. Sie tauchte neben dem Boot aus dem Wasser auf: eine graue hakenförmige Flosse, narbig und verschrammt, deren Spitze direkt unter dem Paddelschaft vorbeistrich. Ich wusste, was es war, aber der Schock darüber verstärkte meine aufkeimende Angst und ich geriet fast in Panik. Ich sah nach links und nach rechts und glaubte schon, angegriffen zu werden.

      Dann geschah etwas Bemerkenswertes. Ich hörte vom Heck kommend ein anderes Geräusch: ein Klatschen und Aufspritzen von Wasser. Ich wendete den Kopf und ein riesiges Delfinmännchen sprang in die Luft und fast über meinen Kopf. Beim Vorbeifliegen fixierte er mein Auge. Unsere Blicke kreuzten sich, bis er ins Wasser schlug. Ich starrte auf die Stelle und hoffte, er würde wieder auftauchen, aber er ließ sich nicht mehr blicken. Stattdessen spürte ich ein herzergreifendes Hochgefühl, das mich, einen Augenblick lang, klarer sehen ließ. Ich musterte den Uferwall und bemerkte etwas, das ich zuvor nicht gesehen hatte. Etwas entfernt nahm eine Schiffsrampe den Wellen die Kraft. An ihrer Leeseite gab es zwei, drei Meter ruhigeres Wasser.

      Ich stach durch die Wellen, bis ich mich etwa 40 Meter vor dem Ufer ihrer Laufrichtung überließ und die Bootspitze auf den Fleck ruhigeren Wassers ausrichtete. Er tauchte alle paar Sekunden auf, wenn ein Brecher zurückrollte, dann, bei der nächsten Attacke auf den Uferwall, wurde er wieder weggefegt. Durch das Tosen der Wellen hörte ich die Kiesel gegen die Befestigungsanlagen prasseln wie Kartätschenkugeln, während die See am Mauerwerk saugte und schmatzte. Ich tauchte das Paddel ein und hielt aufs Ufer zu. Einen Moment zögerte ich noch, bis eine Welle vorbeigerollt war, und flog dann in die Lücke. Als das Boot in die Leeseite der Schiffsrampe glitt, sprang ich hinaus und erklomm, kurz bevor das Kajak gegen den Uferwall geschmettert wurde, den Betonkeil. Beim Aufprall zersplitterte meine Angelrute in tausend Stücke. Die Behauptung, der Delfin habe mir das Leben gerettet, mag etwas hergeholt erscheinen, aber ohne die Verlagerung des Blickwinkels würde ich jetzt wohl einen Teil des Strandguts ausmachen.

      Zweimal in einem Jahr vernahm ich diesen Ruf, diesen hohen, wilden Ton der Begeisterung – nach einer Empfindungsdürre, die sich seit der frühen Erwachsenenzeit bemerkbar gemacht hatte; eine Dürre, die ich als dem Alter geschuldet akzeptiert hatte wie den Verlust der hohen Frequenzen beim Hören.

      An diesem Abend, nach einem Bier mit Ritchie und einem langen Verweilen im Garten – ich hatte dabei zugeschaut, wie das Licht aus dem Himmel wich und über den Bergen die ersten Sterne aufblitzten –, traf mich ein Gedanke, der mir bislang nie gekommen war. Plattfische leben auf dem Meeresboden. Fischadler fangen ihre Beute kurz unter der Wasseroberfläche. Das passte nicht wirklich zusammen.

      Sobald ich in der folgenden Woche wegkam, fuhr ich mit dem Boot in das Mündungsgebiet. Ich hoffte, den Vogel noch einmal zu sehen, aber auch herauszufinden, was es mit den Fischen auf sich hat. Den Fischadler habe ich nicht mehr angetroffen. Nachdem ich aber ein oder zwei Stunden an den Säumen der Sandbänke herumgestochert hatte, war meine Frage beantwortet. Ich war auf eine Stelle gestoßen, an der die Flundern sich so zahlreich versammelt hatten, dass sie nicht auf dem Sand, sondern übereinander lagen. Sie befanden sich in einer Wassertiefe von weniger als 30 Zentimetern und schwammen über meine nackten Füße. Wenn ich mich rührte, schraken sie in Sandwolken gehüllt davon.

      Jenen Abend brachte ich in der Garage damit zu, in Kisten herumzuwühlen und Farbdosen, Blumentöpfe, Flintsteine, Fossilien und Samentütchen beiseitezuschieben. Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt, aber dann fand ich es unter Flaschen, die ich als Kind in einer ehemaligen Müllkippe ausgegraben hatte. Es war ein kleines, schmales Paket, eingeschlagen in vergilbtes, mit Rost- und Ölflecken übersätes Zeitungspapier. Ich las:

      A reunião aconteceu na Secretar-

      – plicou o comandante de Polícia Fe-

      – ará, no próximo dia II de Junho, d-

      Beim Auswickeln zerfiel das Papier unter meinen Händen und ich hatte den kostbaren Gegenstand in meiner Handfläche. Das erste Mal, dass ich ihn wieder vor Augen hatte, nachdem ich ihn vor achtzehn Jahren auf einem Markt am Rio Solimões erworben hatte. Handgeschmiedet und schön aufbereitet hatte er mich weniger als ein Pfund gekostet.