Migration|Integration|Exklusion - Eine andere deutsch-französische Geschichte des Fußballs
Aktive aus Migrationskontexten spielen darin weder im Spitzensport noch im Breitensport eine Rolle.52 Und selbst der lesenswerten FIFA-Festschrift, publiziert zum 100-jährigen Bestehen der Organisation und verfasst von vier ausgewiesenen Fachhistorikern, für die der Weltfußballverband erstmals die sonst verschlossenen Tore seiner Archive geöffnet hatte, fehlt ein eigenes Kapitel zum Thema Fußball und Migration: Es wird lediglich gestreift in den Passagen zu internationalen Spielertransfers und fußballerischer Entwicklungspolitik der FIFA;53 auf einen systematischen Zugriff, um Verbindungen und Kausalitäten aufzuzeigen, wird freilich verzichtet. Andererseits liegen durchaus Synthesen vor, die einen solchen Zugriff für wichtig genug halten, um daraus innerhalb einer fußballhistorischen Gesamtdarstellung einen roten Faden neben anderen zu spinnen.54 Allemal befindet sich aktuell mehr Migration in der zeithistorischen Sportforschung als Sport in der Migrationsforschung. Dies allerdings – wie ein abschließender Blick auf Publikationen offenbart, die von vornherein die Dialektik von Fußball und Migration fokussieren – mit gewissen deutsch-französischen Asymmetrien und Ungleichzeitigkeiten.
Zwar wird seit Jahren auch in der deutschen Zeitgeschichte dazu geforscht,55 deutlich länger allerdings werden in Frankreich die Wechselwirkungen von Sport und Migration breiter thematisiert,56 angeregt nicht zuletzt durch die zeitlich wesentlich früher einsetzende und quantitativ deutlich höhere Präsenz von Fußballspielern mit Migrationshintergrund auf allen Ebenen des dortigen Spielbetriebs wie auch im früher etablierten Profibereich.57 Der Hype um den WM-Sieg 1998 und seine – auch in Deutschland58 – dominante Interpretation als Erfolg einer „France au pluriel“ taten ein Übriges, um die Dynamik zu verstärken.59 „Frankreich im Plural“: Das meinte die kreativ-konstruktive Zusammenarbeit von Nationalspielern, deren Namen und Geburtsorte sich fast ausnahmslos wie Familienbücher regionaler oder ethnischer Minderheiten aus Migrationskontexten lasen. Selbst die krachenden fußballerischen Bruchlandungen bei der Folge-WM 2002 in Südkorea und Japan bzw. der WM 2010 in Südafrika, die in manchen öffentlichen Debatten die multikulturellen Heroen der Vorjahre zu „Verrätern an der nationalen Sache“60 degradierte, vermochte es nicht, den Trend zeithistorischer Debatten über Profisport als „reflet des vagues migratoires“61 wieder zu bremsen. Auch für den Amateurfußball lässt sich neuerdings auf einige fallstudienartige, häufig regionalhistorisch dimensionierte Beiträge in Sammelbänden zurückgreifen, die zumeist die Selbstsicht italienischer, spanischer, portugiesischer, algerischer, marokkanischer oder anderer nationaler Migrantengruppen in der französischen Aufnahmegesellschaft und Breitensportwelt widerspiegeln;62 vielfach beruhen solche Artikel auf voluminösen, häufig geschichts- oder sportwissenschaftlichen Dissertationen, die teils veröffentlicht,63 teils wegen fehlender Publikationspflicht in Frankreich nur schwer zugänglich sind.64
Zudem schlägt sich dort der Nexus von Fußball und Migration dank seiner zentralstaatlich-musealen Verankerung durch die Cité nationale de l'histoire de l'immigration, seit 2012 Musée de l'histoire de l'immigration, in entsprechenden Ausstellungen wie „Allez la France! – Football et immigration“ nieder.65 Auf deutscher Seite dagegen fanden bislang migrationsbezogene Aspekte selbst bei publikumsträchtigen Museumsevents zur Geschichte des Fußballsports oder der Fußballweltmeisterschaften kaum einmal Berücksichtigung.66 Ausnahmen bildeten die Landesausstellung in Stuttgart vom Sommer 2010, in der zumindest ein Exponat die fußballerischen Aktivitäten der „Gastarbeiter“ dokumentiert hat, sowie zuletzt die Ausstellung zur Geschichte von Fußball und Migration im Ruhrgebiet am Standort der Bochumer Zeche Hannover des LWL-Industriemuseums. Dort ließ sich 2015 auch der 1966 von der Landesregierung gestiftete „NRW-Pokal für Gastarbeitermannschaften“ bewundern, den 1970 die Spieler des griechischen FC Fortuna Dortmund im Schwelgernstadion im Duisburger Stadtteil Marxloh errungen hatten.67 Unterschiede zeigen sich nicht allein in Katalogen zur Fußball-, sondern auch zur Migrationsgeschichte: Während in Begleitbänden zu „Gastarbeitern“ Fußballmaterien selbst in den Passagen ausgespart bleiben, in denen es um Lebensalltag und Freizeitverhalten geht,68 gehören Rubriken zu Sport und Migration – ebenso wie zu diversen populären Künsten aus Migrationskontexten – auf französischer Seite schon länger zum Standardrepertoire entsprechender Publikationen.69
Zeithistorisches Zwischenfazit
Bilanzierend lässt sich nicht nur für die internationale, sondern auch für die deutsch-französische Forschungslandschaft zu Sport bzw. Fußball und Migration festhalten, dass zum einen seit etlichen Jahren „promising signs of a rise of interest in the topic“ aufscheinen und dass zum anderen – in der Summe – „historians have contributed relatively little to the considerable scholarship that now exists on the migration of footballers“.70 Tatsächlich nimmt sich der historiographische Output verglichen mit Publikationen aktualitätsorientierter Disziplinen eher bescheiden aus. Beispielsweise setzen sich nunmehr diverse Beiträge mit den jüngeren Entwicklungen im Bereich ethnischer Sport- und Fußballvereine auseinander, und dies in Deutschland wie in Frankreich.71 Insgesamt sind in den vergangenen Jahren unter nationalen Vorzeichen zahlreiche sozialwissenschaftliche Untersuchungen und Sammelbände zu Fußball und Migration erschienen, ebenso Beiträge unter europäischen und deutsch-französischen Prämissen, die zuletzt verstärkt nach den Konsequenzen grenzüberschreitender fußballerischer Wanderungsprozesse für die Europäische Integration und eine „Europäisierung Europas“ gefragt haben.72
Was die positiven Trends vermehrten zeithistorischen Interesses für Fußball und Migration angeht, so sind zumindest drei Spezifika hervorzuheben, die den deutsch-französischen Fokus auf fußballspielende Arbeitsmigranten der langen 1960er Jahre im vorliegenden Sammelband als ganz besonderes Desiderat erscheinen lassen. Erstens meint Fußball und Migration in der Zeitgeschichte fast durchgängig Profifußball und Migration. In beiden Ländern – wie auch europäisch dimensioniert73 – geht es um Spitzensport und Spieler- bzw. Trainertransfers über nationale oder kontinentale Grenzen hinweg,74 wobei professionellen Fußballmigranten aus den früheren Kolonialgebieten spezielle Aufmerksamkeit gewidmet wird.75 Der gesamte Bereich des Breitensports und damit das Gros der Eingewanderten, die zu Tausenden freizeitlich Fußball oder andere Sportarten in unterschiedlichsten Konstellationen praktizierten, bleiben in der Regel außen vor.76
Zweitens behandeln die meisten historischen Analysen zu Fußball und Migration andere Phasen als die langen 1960er Jahre und andere Gruppen als die süd- und südosteuropäischen Migranten, die damals in nördlicher gelegenen Regionen Europas die Arbeitsmärkte unterfütterten. Einen offensichtlichen Schwerpunkt der Forschung bildet schon länger die erste Nachweltkriegszeit: nicht zuletzt, um zu verdeutlichen, dass es sich bei fußballerischer Migration weder um ein rezentes Phänomen und einen linearen Prozess handelt, dass die frühen kontinentaleuropäischen Vereine im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts überaus kosmopolitisch angehaucht waren und dass die Nationalisierungstrends vor und nach 1918 fortwährenden Transferpraktiken dem mehr und mehr boomenden Fußballgeschäft keinen Abbruch taten.77 Im deutschen Fall konzentrieren sich die Untersuchungen vor 1945 zudem auf bestimmte Zuwanderer in bestimmten Räumen, allen voran auf die masurenstämmigen Fußballer im Ruhrgebiet und beim FC Schalke 04,78 die vornehmlich in den drei Jahrzehnten nach 1880 aus dem südlichen Ostpreußen ins Revier gekommen waren, um in der florierenden Eisen- und Stahlindustrie sowie im Bergbau zu arbeiten.79 Deren „emotionale Seßhaftwerdung in der neuen Heimat“80 lässt sich freilich kaum allein über die Schalker Erfolge seit Mitte der 1920er Jahre erklären.
Drittens vollzieht sich Sport- und Fußball- wie auch Migrationsgeschichtsschreibung weiterhin primär unter nationalen Auspizien. Zwar sind beachtliche Fortschritte transnational dimensionierter Ansätze offensichtlich, die breite Mehrheit der Studien, die Fußball und Migration zusammendenken, bewegt sich freilich nicht in solchen „Mesoräumen“81. Eher schon thematisiert werden die Verhältnisse in den Aufnahmegesellschaften, die sich angesichts spezifischer Traditionen und Selbstbilder, Rahmungen und Praktiken unterschiedlich ausprägen können und eher in körperlich und sinnlich erfahrbaren „Makro-“ bzw. „Mikroräumen“ alltäglicher Lebenszusammenhänge zu greifen und analysieren sind.82
Kurzum: Trotz des mehr als offensichtlichen Erkenntnispotenzials bilden Abhandlungen über migrantischen Sport und Fußball der langen 1960er Jahre bislang keinen Schwerpunkt der zeithistorischen Forschung, erst recht nicht unter deutsch-französischen oder europäischen Vergleichsgesichtspunkten.83