Thomas Steinfeld

IKEA. 100 Seiten


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Gemeinsam aber war all diesen Vorhaben, dass das Neue im Menschen dadurch entstehen sollte, dass die Prinzipien der industriellen Produktion auf das Leben übertragen wurden: durch Konzentration auf ein gemeinsames Vorhaben, durch Arbeitsteilung und durch Gleichbehandlung von Mann und Frau. Ingvar Kamprad hielt sein Leben lang an diesen Vorstellungen fest.

      Die Schaffung des neuen Menschen war kein revolutionäres, durch einen einmaligen Umsturz zu verwirklichendes Unternehmen. Nicht das Bewusstsein einer Avantgarde sollte hier die Situation beim Schopfe ergreifen, sollte aufbegehren gegen die Macht und die Lage nach eigenem Willen verändern. Der neue Mensch sollte vielmehr allmählich entstehen, durch eine geplante und kontrollierte Veränderung seiner materiellen Lebensumstände. Ingenieure gingen hier ans Werk, und ihre Arbeit konzentrierte sich bald auf das, was sie in ihrer Funktion am leichtesten in den Griff bekommen konnten – auf die materiellen, statischen Voraussetzungen des Alltags, auf die Ergonomie des täglichen Lebens, auf das Wohnen.

      Natürlich hatte das Wohnen schon vorher die Aufmerksamkeit von Fachleuten für Stilkunde, von Geschmacksrichtern für den Luxus und die Moden sowie von philosophierenden Raumausstattern auf sich gezogen. Solche Bestrebungen aber waren begrenzt auf die kleine Sphäre von Menschen, die ihre Umgebung frei gestalten konnten. Unter gesellschaftlichem Aspekt betrachtet, als Symptom, Anliegen oder gar Plan, wurde das bürgerliche Wohnen erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zum Gegenstand eines letztendlich philosophisch, wenn nicht sogar moralisch operierenden Urteils. Die Wiener Werkstätten, der Werkbund und das Bauhaus sind die ersten Schulen der Architektur und der Inneneinrichtung, in denen der Stil des Wohnens ein Urteil über die Qualität des Lebens erlauben soll.

      Diese auf das Wohnen bezogenen planerischen und ethischen Energien konnten sich überhaupt erst mit der Herausbildung des Funktionalismus, also mit der theoretischen Behandlung des praktischen Lebens nach – zumindest scheinbar – pragmatischen Gesichtspunkten entfalten. Scheinbar – weil all diesen Überlegungen die Vorstellung zugrunde liegt, es ließen sich eindeutige Aussagen machen über diesen oder jenen Aspekt des täglichen Lebens, über das Sitzen und Liegen so gut wie über das Essen und Schlafen. In Wirklichkeit aber sind diese vermeintlichen Eindeutigkeiten bloße Ideale, geschöpft aus dem Gedanken, in einem planerisch organisierten Leben würden sich die tausend und abertausend Verrichtungen des praktischen Lebens auf einige wenige Grundmuster reduzieren lassen – als seien solche Verrichtungen als praktische schon hinreichend definiert, als gäbe es keine anderen Interessen, die sich daran ebenfalls anbinden ließen, ästhetische oder sentimentale zum Beispiel.

      Die Industrialisierung der Schreinerei: Das Volksheim wird eingerichtet

      Ende der zwanziger Jahre war Schweden dabei, sich von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft zu wandeln, vorangetrieben nicht nur von den Kräften des Marktes, sondern auch von einem unerschütterlichen Glauben an die Macht der Technik und der Wissenschaft. Das Privatleben und der Alltag waren davon nicht ausgenommen, im Gegenteil: Das Zuhause sollte das Zentrum dieser Entwicklung bilden, da sich hier nicht nur die Klassenunterschiede durch eine einheitliche und funktionale Ausstattung am einfachsten aufbrechen ließen, sondern auch die Ordnung der Geschlechter und, in gewissem Umfang, sogar der Generationen. Der Funktionalismus, von den schwedischen Zeitgenossen auch »funkis« genannt, sollte es breiten Bevölkerungsschichten über die Umsetzung in Architektur, Bautechnik und Design ermöglichen, ihr eigenes Umfeld neu zu gestalten und darüber zu Produktivitätssteigerungen in Wirtschaft und Gesellschaft beizutragen.

      In Schweden fielen die Ideen des Funktionalismus in Architektur und Einrichtung auf besonders fruchtbaren Boden. Zentral dafür war eine Stockholmer Ausstellung im Jahre 1930 – bald nur noch »Stockholmausstellung« genannt –, die den Funktionalismus in den Mittelpunkt der Gesellschaft rückte und längerfristig eine Neugestaltung des Alltags in Gang setzte. Sie fand zwischen Mai und September 1930 statt und war die erste Schau ihrer Art, die nicht für die Oberschicht, sondern für die breite Masse gedacht war. Die von der Svenska Slöjdförening (etwa: ›Schwedische Vereinigung für Werkkunst‹) ins Leben gerufene Stockholmausstellung setzte ihre Schwerpunkte auf Architektur, Formgebung und Kunsthandwerk. Sie zählte vier Millionen Besucher, viele von ihnen Mehrfachbesucher, sowie rund 25 000 ausländische Gäste. Die Besucherzahlen verweisen auf die enorme Bedeutung des Ereignisses, zählte das Land selbst doch zu dieser Zeit nur rund sechs Millionen Einwohner. Gregor Paulsson, Direktor der Svenska Slöjdförening und Mitinitiator der Ausstellung, formulierte im Hauptkatalog das Ziel der Veranstaltung: Es solle darüber informiert werden, wie Alltagsgegenstände in der modernen Welt gestaltet würden und welchen Anteil die künstlerischen Kräfte daran hätten.

      Die künstlerischen Kräfte der modernen Welt sollten sich vor allem in den schwedischen Wohnungen entfalten. In Musterhäusern wurden exemplarische Wohnräume für jede Bevölkerungsgruppe vom Single mit geringem Einkommen bis hin zur Familie mit Dienstpersonal vorgeführt. Bei deren Gestaltung spielten, bedingt durch das skandinavische Klima, Licht und Helligkeit eine wesentliche Rolle. Auch Gunnar Myrdal, der führende Ökonom der schwedischen Sozialdemokratie, hob in einem 1932 veröffentlichten Aufsatz die Bedeutung von Architektur und Städteplanung als gesellschaftliches Element hervor. Eine »Sozialisierung des Bodens« sei die Voraussetzung einer vernünftigen Städteplanung, so Myrdal. Jedoch seien die neuen Wohnungen für die »Ärmsten der Stadtbevölkerung« nicht erschwinglich, weshalb die Kosten von anderer Stelle übernommen werden müssten. Wohnraum, so Myrdal weiter, sei eine derart wichtige Voraussetzung für physische und moralische Gesundheit, dass Kompromisse sich hier verböten. Ein guter Wohnort beuge vielen sozialen Missständen vor.

      Während der Weltwirtschaftskrise wählten die Schweden 1932 eine sozialdemokratische Regierung, die wesentliche Konzepte eben dieser Stockholmausstellung in ihr Programm übernahm. Das Regierungsprogramm, das der sozialdemokratische Ministerpräsident Per Albin Hansson unter dem Begriff »folkhem« (»Volksheim«) propagierte, sah neben vielen sozialpolitischen Maßnahmen auch den staatlich subventionierten Bau moderner Wohnungen vor. Sie waren vor allem auf die Bedürfnisse einer wachsenden Mittelschicht zugeschnitten. Die Architekten forderten eine Abkehr von traditionellen Formen und eine Hinwendung zu funktionalen, industriell gefertigten Möbeln. Schließlich wurden sie selbst zu »Schöpfern neuer Möbeltypen«. Herstellung und Formgebung von Möbeln waren bis zu diesem Zeitpunkt Aufgabe des Handwerkers gewesen. Zimmermann und Schreiner hatten Einzelstücke hergestellt, die zwar bestimmten Mustern folgen konnten, sich jedoch stets durch ihre Variation auszeichneten. Mit der Mechanisierung der Möbelherstellung im 20. Jahrhundert übernahm der Architekt das Entwerfen der Möbel, die nun zu Möbeltypen wurden.

      Der Funktionalismus muss als eine gesamteuropäische Bewegung verstanden werden, doch nur in Schweden konnte er sich in vollem Umfang entfalten. Während sich Teile Westeuropas in den dreißiger Jahren radikalisierten, kam in Schweden eine Regierung an die Macht, die der Wissenschaft die gesellschaftsgestaltende Rolle schlechthin zugestand, die zuvor in der Stockholmausstellung propagiert worden war. Architekten wie Sven Markelius, Pädagogen wie Alva Myrdal und Ökonomen wie Gunnar Myrdal strebten nach einer neuen Struktur der Gesellschaft, die von der sozialdemokratischen Regierung in das Programm des »folkhem« übernommen wurde. Zentraler Ort dieser Entwicklung war das Heim, dessen Gestaltung – und auch hier findet sich ein Unterschied zu den europäischen Entwicklungen – ein zentrales Thema der Politik wurde. Bezahlbarer und moderner Wohnraum wurde zwar vom Staat gefördert, doch die Möblierung dieser neuen Wohnungen stellte arme Bewohner vor Probleme. Neue Möbel waren für viele Familien zu teuer, ihr Mobiliar bestand deshalb häufig aus geerbten oder reparierten Möbelstücken. Wer die entsprechenden finanziellen Möglichkeiten hatte, richtete sich mit massiven Möbeln im englischen Stil ein. Für ein Fünftel der schwedischen Bevölkerung schuf die sozialdemokratische Wohnpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg neue Wohnungen, wodurch die Nachfrage nach bezahlbaren Möbeln in den vierziger Jahren stark anstieg.

      In eine solche Welt stieß Ingvar Kamprad mit seinem Unternehmen vor: Er füllte eine Marktlücke, indem er funktionale und zugleich günstige Möbel anbot, die eben diesen Kundenkreis der sich neu Einrichtenden ansprechen sollten. Konsequent setzte er den Fokus auf den wachsenden Mittelstand als Zielgruppe, stimmte das Sortiment auf dessen Bedürfnisse und den von der Volksheim-Bewegung geprägten Geschmack ab und war genau deshalb früh unternehmerisch erfolgreich. Oder, wie es in Schweden heißt: »Per Albin